Jonathan Hirschi hat die diesjährige Schweizer Rallyemeisterschaft dominiert. Der Neuenburger gewann alle vier Läufe, an denen er in dieser Saison teilnahm. Er wies seine Gegner in die Schranken und ist der logische Meister. Aber wenn man mit einem Rallyefahrer über Logik spricht, sieht er einen erst einmal schief an. Als Hirschi mit seiner Co-Pilotin Sarah Lattion am Freitagmorgen die 63. Rallye International du Valais unter die Räder nahm, war die Titelfrage nicht entschieden. Klar war hingegen, dass Jonathan Michellod, der Gesamterste der Rallye-SM, im Ziel noch das Streichresultat der Saison erwartete. Im Unterschied zu Hirschi, für den klar war, dass ihm der Nuller der Rallye Burgund (F) im Sommer, wo er nicht gestartet war, gestrichen werden würde. Aber Hirschi musste liefern, und vor allem im Ziel ankommen. Der kleinste Fehler hätte sich gerächt. Denn da war ja auch noch Mike Coppens, der Walliser bei seiner Heimrallye. Jonathan Hirschi war also auf der einen Seite der Favorit auf den Sieg und auf den Titel, aber der Neuenburger war mit Blick auf die Gesamtwertung vor dem letzten Lauf auch Jäger.
Eine Zehntelsekunde
Von Anfang an gab Hirschi wie gewohnt den Ton an, auch wenn nach vier Wertungsprüfungen Michellod, der seine Gegner auf der Wertungsprüfung Euseigne–Le Tride mit über acht Sekunden distanzierte, die Rallye du Valais mit einer Zehntelsekunde vor Hirschi anführte. Coppens hatte da schon fast 17 Sekunden Rückstand auf die Spitze. Am Nachmittag des Freitags überschlugen sich die Ereignisse: In Montana konnte Michellod einen Dreher und eine Berührung mit einer niedrigen Mauer nicht vermeiden, er verlor 21 Sekunden. Verloren hatte er deswegen aber noch nicht. Denn schon auf der nächsten Wertungsprüfung beging Hirschi beim Anstieg nach Anzère einen Fehler: «Ich habe mich in einer Haarnadelkurve etwas zu weit nach aussen gedreht, dabei verfingen sich zwei Räder im Gras – und ich war blockiert. In Anzère lag ich somit wieder 20 Sekunden zurück.» Er korrigierte seinen Fehler bis zum Freitagabend nach acht von 14 Wertungsprüfungen. Hirschi gewann sechs Wertungsprüfungen und führte 18.4 Sekunden vor Michellod und deren 38 vor Coppens.
Die Entscheidung
Am Samstagmorgen zählte das aber nichts mehr. Die Rallye würde sich erst am zweiten Tag entscheiden, in erster Linie auf der fast 30 Kilometer langen Wertungsprüfung Les Cols. Wenn Michellod und Coppens Druck auf Hirschi ausüben wollten, dann hier. Doch der Neuenburger schlug noch einmal zu und distanzierte Coppens um fast zehn Sekunden und Michellod sogar um über 50 Sekunden. Letzterer war zum Angriff übergegangen, er hatte ja keine andere Wahl und schlug sich zwischenzeitlich mit einer Reifenpanne herum. Die Rallye war entschieden, und auch die Titelfrage.
«Eindeutig gelungen», lautete das Fazit von Jonathan Hirschi. «Die Rallye du Valais ist die schönste Rallye der Schweiz, aber auch die schwierigste, denn es gibt viele Fallen. Es war ein schönes Duell mit Jonathan Michellod. Dieser Titel, das kann ich sagen, hat mir einiges abverlangt!» Hirschi kontrollierte die Rallye – «die Sonderprüfung von Lourtier war besonders kompliziert, aber dort schaffte ich es wirklich» – und gewann schliesslich mit mehr als 50 Sekunden Vorsprung vor Lokalmatador Mike Coppens. Der aus dem Greyerzerland stammende Michaël Burri komplettierte das Podium und verwies Jonathan Michellod auf den undankbaren vierten Rang. Vorwerfen lassen muss sich Michellod aber nichts, er traf auf einen Piloten, der dieses Jahr noch stärker war.
Teure Busse
Mike Coppens büsste hingegegen – mit 1000 Franken. Er hatte den Aufkleber eines offiziellen Sponsors der Veranstaltung auf seinem Auto überklebt. Und weshalb das? Weil es sich um das Unternehmen von Konkurrent Jonathan Hirschi handelte! «Die Entscheidung der Jury», erklärte Lionel Muller, einer der Verantwortlichen der Organisation, freute sich aber mehr über den Erfolg der Rallye: «Ich glaube, wir haben bewiesen, dass wir in erster Linie die Wünsche der Fans erfüllen müssen.» Im Vergleich zu den sehr marketingorientierten Rennen früherer Jahre wurde das Budget der Rallye du Valais fast um die Hälfte gekürzt.
Der nun zweifache Schweizer Rallyemeister Hirschi weiss noch nicht, wie es nächste Saison weitergeht: «Ich bin ein bisschen müde. Vor allem die Spannungen bei der Rallye du Mont-Blanc Anfang September waren sehr belastend. Aber nächstes Jahr werde ich wieder fahren, weil es mir immer noch Spass macht. Aber es ist noch ungewiss, wie ich die Saison plane. Erst gönne ich mir einen Monat Auszeit, dann werde ich über 2024 nachdenken. Ich habe im Laufe des Jahres die Möglichkeit erwähnt, an einigen schönen Rallyes der französischen Meisterschaft teilzunehmen, um Fortschritte zu machen. Sportlich gesehen ist das eine schöne Herausforderung, aber technisch gesehen muss man sicher sein, dass man das richtige Auto und die richtige Struktur findet. Deshalb, wie man so schön sagt: Fortsetzung folgt!»
Er war Doktor Jean-Pierre, er war Mister Balmer
Jean-Pierre Balmer (Bild) ist vergangene Woche 71-jährig gestorben. Er war Doktor Jean-Pierre, er war Mister Balmer. Und er war dreifacher Schweizer Rallyemeister (1980, auf Porsche 911 SC mit Willy Freiburghaus, 1982 auf Opel Ascona 400 mit Fabio Cavalli und 1986 auf Lancia Rally 037 mit Denis Indermühle). Er holte 14 Siege in der Schweizer Meisterschaft und zahlreiche Podestplätze. Kurz, er ist ein ganz Grosser in der Geschichte des Schweizer Rallyesports. Er fuhr zu einer Zeit, die die unter 50-Jährigen kaum kennen. Es war die Zeit von Doktor Jean-Pierre, von Mister Balmer, «eine Art lebendig gehäuteter Mann, der gerne glaubt, dass ihm die ganze Welt böse sei, und der rundherum nur eine Verschwörung von Feinden sieht, die seinen Untergang wollen», wie der unvergessliche Michel Busset nach Balmers drittem nationalen Titel schrieb. Ich weiss ein Lied davon zu singen, denn zu dieser Zeit war ich manchmal auf der Seite seiner Gegner. Jean-Claude Béring, ein anderer grosser Rennfahrer, bat mich damals, ihn zu navigieren. Balmer gegen Béring. Der eine war vom Talent des anderen fasziniert, der andere von der Selbstlosigkeit, die bei seinem Konkurrenten oft zur Besessenheit wurde.
Vor etwas mehr als einem Jahr trafen wir uns auf Einladung von Freddy Oguey in Le Sépey VD. Jean-Pierre Balmer sagte: «Ach, weisst du, ich habe schon lange mit dem Rallyesport abgeschlossen. Ich verfolge die brillante Karriere meines Sohnes, eines Radprofis, ich geniesse das Leben, treibe Sport, ich bin glücklich.» Einige Minuten später fuhr er fort: «Ja, aber beim berühmten Critérium Neuchâtelois hättet ihr nicht gewonnen, wenn ich nicht auf der ersten Wertungsprüfung ein Reifenproblem gehabt hätte.»
Wir wollten uns vor sechs Wochen wiedersehen. Wieder in Le Sépey. Am Vortag erfuhr Jean-Pierre Balmer, dass die Ergebnisse einer ärztlichen Untersuchung nicht gut waren. Am Donnerstag, als die Teilnehmer der Rallye International du Valais ihre letzten Vorbereitungen trafen, starb er. Adieu, Mister Balmer, danke, Doktor Jean-Pierre!