Heute auf der Rennstrecke erprobt, morgen auf der Strasse zu sehen. Dieses Entwicklungs-Credo des Motorsports erfüllen heutzutage nur noch sehr wenige Rennserien. Die Formel E gehört dazu. Mit ihrem neuen Gen-3-Fahrzeug wagt sie sich über die technologischen Grenzen der aktuellen E-Mobilität hinaus. Während der ambitionierte Plan an einigen Stellen aufgeht, zollt die Serie an anderen Ecken ihrem Wagemut Tribut.
Mit ihrem neuen Einheitsfahrzeug der dritten Generation hat sich die Elektrorennserie Formel E, die es seit 2014 gibt und die seit 2020 eine Weltmeisterschaft des Autoweltverbandes FIA ist, für einen neuen konzeptionellen Ansatz entschieden. «Der Hauptfokus liegt darauf, das Fahrzeuggewicht zu senken und die Effizienz noch weiter zu steigern», erklärt Martin Füchtner, technischer Direktor des Formel-E-Teams von Porsche im Gespräch mit der AUTOMOBIL REVUE. «Um die Batterie leichter zu machen, wird grosser Wert auf hohe Rekuperationsgrade gelegt.»
Das neue Konzept konzentriert sich somit stark auf die Energierückgewinnung beim Bremsen. Hier verwirklichte die Formel E eine kuriose Idee: Das neue Gen-3-Auto verzichtet vollständig auf eine konventionelle Bremse im Fahrzeugheck. Sämtliche Verzögerung über die Hinterachse kommt durch den Antriebsstrang zustande, der dabei mit einer Leistung von 350 kW Energie in die Batterie zurückspeist. Ergänzt wird diese sonderbare Heckbremse durch eine konventionelle Bremsanlage an den Vorderrädern. Hier hat die Formel E ausserdem weitere Motoren eingesetzt, die zusätzlich mit 250 kW Energie zurückgewinnen. So kann der Rennwagen mit einer kumulierten Leistung von 600 kW rekuperieren.
«In der Gen-2-Ära konnten 25 Prozent der im Rennen verwendeten Energie während Bremsvorgängen zurückgewonnen werden, beim Gen-3-Auto steigern wir diesen Wert auf mehr als 40 Prozent», schwärmt Füchtner. Während die Formel-E-Batterie der vergangenen vier Jahre noch 52 kWh Energie bereitstellte, müssen es zum Rennstart künftig nur noch 38.5 kWh sein. Dadurch wurde der Akku gut 100 Kilogramm leichter!
Zusammenspiel und Unfälle
Das neue Zusammenspiel zwischen Front- und Heckmotor stellt die Ingenieure in der Formel E vor eine Herkulesaufgabe. «Die Mechanik des Gen-3-Autos ist keine Magie, nicht vergleichbar mit einem Class-1-DTM-Auto. Aber 80 Prozent unseres gesamten Einflusses kommen über die Software», meint Markus Michelberger, Ingenieur beim Formel-E-Rückkehrerteam Abt Sportsline. Die Tuningschmiede aus Kempten (D), ehemals Werkstuner von Audi, tritt ab sofort als Kundenteam des indischen Herstellers Mahindra an. «Beim Verzögern braucht es eine gute Abstimmung der Bremssysteme an beiden Achsen», bestätigt auch Füchtner.
Diese technische Herausforderung sorgte bei diversen Herstellertestfahrten für Frust. Mehrere Teams, darunter Mahindra mit Oliver Rowland (GB) und Jaguar mit Sam Bird (GB), erlebten in den vergangenen Monaten bei Tests zum Teil schwere Unfälle, die glücklicherweise allesamt glimpflich ausgingen. «Viele Teams hatten bei ihren Testfahrten schon Zwischenfälle», bestätigt Markus Michelberger und erklärt eine mögliche Ursache: «Das Auto bremst hauptsächlich mit den Elektromotoren, daher sind die hydraulischen Bremsen vorne relativ klein dimensioniert. Wenn der Heckmotor eine Fehlfunktion beim Beschleunigen hat, haben wir auch keine Bremsfunktion mehr beziehungsweise nur noch die mechanische Bremse.» Um derartige Situationen zu vermeiden, steht jeder Hersteller selbst in der Verantwortung, entsprechende Sicherheitsfunktionen und -mechanismen zu entwickeln.
Auszeit für Schnelllade-Boxenstopps
Probleme gab es bei den Herstellertests in den vergangenen Monaten häufiger. Besonders das wiederaufladbare Energiespeichersystem (Rechargeable Energy Storage System, Ress) der neuen Einheitsbatterie von Williams Advanced Engineering fiel reihenweise aus. Manchmal schon durch alltägliche Erschütterungen im Fahrbetrieb. Nicht nur die Testprogramme der Hersteller wurden dadurch beeinträchtigt, sondern auch der Zeitplan von Akkulieferant Williams. Die geplanten Schnelllade-Boxenstopps werden deshalb nicht sofort eingeführt.
Zwar haben die Briten das Problem mit der Batterie inzwischen in den Griff bekommen, müssen jetzt aber mehr Batterien neu aufbauen als geplant. Dafür benötigt Williams mehr oder minder die gleichen Materialien wie für die leistungsstarken Ladegeräte. «Der Boost-Charger ist quasi eine Kopie der Fahrzeugbatterie. Das heisst, es sind die gleichen Zellen enthalten», erklärt Abt-Ingenieur Markus Michelberger. «Deshalb liegt die Priorität auf den Einsatzbatterien, was für alle ein enges Timing ist. Das ist ein Grund für die Verschiebung.»
Die Schnelllade-Technologie soll demnach erst «bei ausgewählten Rennen» während der Meisterschaft 2023 eingeführt werden, also voraussichtlich in der zweiten Saisonhälfte. Denn an der Technologie an sich liegt es offenbar nicht: «Wir konnten das Schnellladen mehrfach ausprobieren und waren positiv überrascht, wie schnell es gelungen ist, beide Systeme zwischen Batteriehersteller und Porsche-Seite zu synchronisieren und den Ladevorgang zu starten», sagt Füchtner. Der 30-sekündige Einsatz des Boost-Chargers mit 600 kW Ladeleistung habe bei Porsche problemlos funktioniert.
Rätselraten wegen Einheitsreifen
Eine weitere Neuerung, die es für die Formel E zu meistern gilt, ist der neue Einheitsreifen von Hankook. Nach acht Jahren mit Michelin-Gummis erhielten die Südkoreaner den Auftrag, einen möglichst nachhaltigen Allwetterreifen zu entwickeln. Die Formel E verzichtet somit weiterhin auf Slicks und hohe Kurvengeschwindigkeiten und bleibt ihrem Grundsatz der Nachhaltigkeit treu. Zu Jubelsprüngen verleitete der neue Pneu bislang jedoch nicht. Er sei härter und rutsche mehr, erklärten zahlreiche Fahrer in den vergangenen Wochen. «Wir haben ja 100 kW mehr Leistung», gibt auch Michelberger zu bedenken. «Die müssen wir auch auf die Strasse bringen – sowohl beim Beschleunigen als auch beim Bremsen.»
Von einem «guten Rennreifen» ist immer wieder die Rede. Im Qualifying, wo Bestleistung für eine schnelle Runde gefragt ist, könnte er allerdings für Überraschungen sorgen, gerade zu Saisonbeginn. «Im Vergleich zum Michelin ist es schwieriger, den Reifen auf Temperatur zu bringen», erklärt Michelberger. Bis vor Kurzem liess die FIA sogar noch einen alternativen Reifen von Hankook testen, entschied sich letztlich aber doch für die ursprüngliche Mischung.
Aerodynamik bleibt irrelevant
Wie schon in den vergangenen acht Jahren spielt die Aerodynamik des Formel-E-Autos keine grosse Rolle. Nicht nur, weil die Entwicklung von Luftleitblechen viel Geld kostet, sondern auch, weil Abtrieb die Effizienz des Autos beeinträchtigen würde. «Die Fahrzeugform hat eigentlich vor allem Designgründe. Es gibt keine grossen Sprünge, was die Aerodynamik angeht», sagt Michelberger. Die Einstellungsmöglichkeiten hätten sich im Gegenteil sogar noch weiter reduziert. «Wir können die Luftleitbleche an der Front zum Beispiel gar nicht mehr verstellen, das ist alles fix», so der Abt-Ingenieur. Die Grundform des Fahrzeugs und vor allem die Frontpartie durch die Integration des vorderen Antriebsstranges und die freistehenden Räder hätten sich verändert, erklärt Füchtner. Dies verändere die Fahrzeugumströmung, den Luftwiderstand und den Abtrieb. Dennoch erwartet auch Porsche «keine signifikanten Auswirkungen auf das Renngeschehen».
Dafür sollen andere Faktoren sorgen. «Durch das um fast sechs Prozent geringere Gewicht und die um 100 kW gesteigerte Leistung ist das Gen-3-Car agiler. Bei Stadtkursen helfen die kleineren Abmessungen des Autos. Die theoretisch erreichbare Beschleunigung und Maximalgeschwindigkeit steigen signifikant. Die Fahrer müssen lernen, mit dieser höheren Leistung und den komplexeren Systemen umzugehen, da gleichzeitig weniger Fahrerhilfen erlaubt sind. Wir werden also spannendes Racing sehen!», ist Füchtner überzeugt.
Auch wenn in den vergangenen Monaten bei der Entwicklung der Gen-3-Fahrzeuge einiges nicht nach Plan lief und nur wenige Hersteller mit den Einheitsbauteilen der Formel E zufrieden sind, wird beim E-Prix in Mexiko-Stadt am 14. Januar ein Elektrorennwagen am Start stehen, der seinesgleichen sucht. «Das schnellste, leichteste und effizienteste elektrische Rennfahrzeug, das jemals gebaut wurde», wie der Porsche-Technikchef meint. Nur wer viel wagt, kann viel gewinnen. So gesehen hat die Formel E mit ihrem ambitionierten Fahrzeugkonzept vieles richtig gemacht, auch wenn die Schnellladetechnologie erst später zum Einsatz kommen wird. Noch wichtiger war schliesslich, die Grenzen der E-Mobilität zu verschieben.