Alle wissen um den besonderen Moment. Die viertschnellste Zeit und die zwei daraus resultierenden Extrazähler auf der abschliessenden Powerstage, der letzten Wertungsprüfung, bei der es noch Zusatzpunkte zu holen gibt, würden Kalle Rovanperä in Neuseeland reichen, um sich drei WM-Läufe vor Saisonende zum Weltmeister zu machen. Aber das ist nicht der Stil des jungen Finnen. Wenn das Auto perfekt funktioniert und dir die schmierigen Pisten auf der Jack’s Ridge Farm besser liegen als allen anderen, warum dann nicht einfach Spass haben und Vollgas geben? Damit der Gasfuss nicht schmutzig wird, lässt sich Rovanperä vor dem Start huckepack durch den Schlamm zu seinem Werkswagen tragen. 6.8 Kilometer und vier gewaltige Sprünge später feiert er nach nur 49 WM-Läufen, 35 davon in der Topklasse, den sechsten Saisonsieg und damit nur einen Tag nach seinem 22. Geburtstag den WM-Titel. Kalleluja!
Scheinbar Unmögliches wird möglich
Keine Frage, der finale Ritt auf der Rasierklinge, die letzte und entscheidende Wertungsprüfung einer Rallye, ist seine Spezialdisziplin. «Ich versuche, mich bestmöglich vorzubereiten, mich auf das Fahren zu konzentrieren und dann wenig nachzudenken», sagt der Toyota-Pilot und verrät: «Über Kenia könnte ich mich schon noch ärgern. Die letzte Prüfung war so brutal, dass ich nicht ans Limit ging. Ich wollte den Sieg bei diesem Klassiker nicht durch einen Defekt vergeigen.» Ein Blick auf die Statistik unterstreicht seine irre Bilanz. In den elf WM-Läufen bis zum WM-Titel holte er sechs WM-Siege. Zudem gewann er sieben Mal die Powerstage und war dabei, abgesehen von Kenia, nie schlechter als Zweiter. Das allein bescherte Rovanperä 50 WM-Zähler, mehr als M-Sport-Werkspilot Gus Greensmith oder Monte-Carlo-Sieger Sébastien Loeb in der ganzen Saison einfuhren.
Die Konkurrenz staunt. Egal in welchem Land, auf welchem Untergrund und bei welchem Wetter, gegen Kalle Rovanperä scheint kein Kraut gewachsen. Nach dem Schneetreiben in Schweden triumphierte er beim kniffligen Asphaltritt in Kroatien. Was dann folgte, unterstreicht Rovanperäs Ausnahmetalent. Als Tabellenführer musste er beim Schotterklassiker in Portugal als Erster auf die Strecke und so für die Konkurrenz die feine Staubschicht von der Piste kehren – und siegte dennoch! «Eigentlich hätte Kalle hier gar nicht gewinnen dürfen. Aber er macht das scheinbar Unmögliche möglich», zeigt sich Toyota-Teamchef Jari-Matti Latvala von seinem Landsmann begeistert.
Zum Champion geboren
Fahrtalent zu haben, liegt bei den Rovanperäs in der Familie. Kalle war kein halbes Jahr alt, als sein Vater Harri Rovenperä bei der Rallye Schweden siegte. Und noch bevor er in die Schule kam, fummelte er bereits an Motoren herum und brummte mit allem durch die Gegend, dessen Gaspedal und Lenkung er erreichen konnte. Auf Youtube finden sich zahlreiche Videos, die zeigen, wie Kalle im zarten Alter von acht Jahren im altehrwürdigen Toyota Starlet über zugefrorene Seen driftet. Mit zehn versuchte er sich bei einem Sprintrennen erstmals im Wettbewerb. Mit zwölf fuhr er seine erste Rallye. Und mit 15 feiert er in Lettland seinen ersten Rallyetitel, denn auch in seiner rallyeverrückten finnischen Heimat durfte er vor seinem 17. Lebensjahr nicht hinters Steuer. Auf den Verbindungsetappen im öffentlichen Strassenverkehr musste ein Beifahrer hinters Lenkrad. Talent hin oder her, Regeln sind Regeln, Gesetze sind Gesetze.
Noch vor seinem 18. Geburtstag unterschreibt der Youngster seinen ersten Werksvertrag bei Škoda und wird nur eine Saison später, im Jahr 2019, Champion der WRC2 Pro. Der Wechsel zum in seinem Heimatort Jyväskylä ansässigen Toyota-Werksteam war da längst beschlossene Sache. Zu eng ist sein Manager Timo Jouhki, auf dessen Rat schon die Champions Juha Kankkunen, Timo Mäkinen oder auch Kalles Vater Harri Rovanperä und Toyota-Teamchef Latvala hörten, in der finnischen Szene verwurzelt.
Seit zwei Jahren mischt das Naturtalent die Topliga auf. Bevor auch er sich aufgrund der Covid-Pandemie neuen Herausforderungen stellen muss, setzt er ein erstes Ausrufezeichen. Noch nie zuvor war es einem 19-Jährigen gelungen, in der Rallye-WM unter die ersten Drei zu kommen. Mit einer halben Sekunde Rückstand auf den drittplatzierten Sébastien Ogier startete Rovanperä in Schweden in die letzte, 21 Kilometer lange Wertungsprüfung, markierte seine erste WM-Bestzeit und schlug den Titelverteidiger um 3.916 Sekunden. Die Rallyewelt bebte. Für ihn eine gefühlte Ewigkeit später lässt er 15 Monate danach in Estland die Weltelite erstmals hinter sich. Rovenperä ist da 21 Jahre und 290 Tage alt und damit genau 388 Tage jünger als der bisherige Rekordhalter, sein Chef und Freund Latvala. Der Bann bricht endgültig, als er bei der Akropolis-Rallye in Griechenland mit seinem zweiten WM-Sieg nachlegt.
Der Weg zum Titel
Mit Beginn der Hybrid-Ära dreht Rovanperä im nun über 530 PS starken Toyota Yaris Rally 1 noch mehr auf. «Nach den ersten beiden Prüfungen in Monte Carlo, als wir noch hinter einem Zweitligisten auf Gesamtrang zwölf herumturnten, hätte wohl keiner auf uns als Weltmeister gewettet», lacht sein kongenialer Beifahrer Jonne Haltunen. Am Ende werden die beiden beim Saisonstart Vierte und gewinnen die abschliessende Powerstage. Nach dem Sieg in Schweden übernimmt Rovanperä erstmals die WM-Führung – wie nicht anders zu erwarten als jüngster Pilot der WM-Geschichte. Danach bittet er auch in Kroatien, Portugal, Kenia, Estland und Neuseeland zur Sektdusche und lässt sich zum Weltmeister krönen.
«Es liegt ihm im Blut. Kalle lebt dafür, aber auf eine sehr entspannte Art und Weise. Er denkt nicht darüber nach. Er liebt es, Fahrzeuge am Limit zu bewegen, und das macht ihn besonders oder anders als andere Fahrer», sagt Vater Harri und schwört Stein und Bein, dass er ihn nie dazu gedrängt habe. «Im Gegenteil, es kam eher von ihm. Er wusste sehr genau, wann er meinen Input wollte.» So staunte auch Harri Rovenperä, als sein Sohn neben den Rallyes mit Driften startete. Dabei fährt er aber nicht einfach nur quer, er betreibt das Driften professionell mit speziell gebauten Fahrzeugen. «Mittlerweile habe ich mehrere unterschiedliche Driftautos in der Garage», erzählt der Weltmeister stolz. «Neben zwei Trainigsautos besitze ich einen in Japan speziell für mich gefertigten Toyota Supra mit aktueller Karosserie, aber einem alten Dreiliter-Sechszylindermotor mit 920 PS und 1100 Nm», schwärmt der Jungstar. «Leider hatte ich durch den WM-Kalender in dieser Saison wenig Zeit und bin nur zwei Rennen gefahren. Aber ich werde dranbleiben, Driften ist eine ganz andere Disziplin und hilft, das Reaktionsvermögen und das Fahrgefühl zu schulen.»
Eine Klasse für sich
Rovanperäs WM-Ingenieur Taavi Ellermaa kennt die Vorlieben seines Fahrers. «Er braucht diese Abwechslung und kann sich extrem schnell umstellen. Das betrifft die Abstimmung des Autos, aber auch die Fähigkeit, schwierigste Streckenbedingungen zu erkennen und seinen Fahrstil an die Bedingungen anzupassen», sagt er. Der Toyota-Teammanager und ehemalige Weltklasse-Co-Pilot Kaj Lindström sieht das ähnlich. «Müsste ich in einem Wort sagen, was der Unterschied zwischen Kalle und den anderen ist, wäre es Geschwindigkeit. Er ist schnell, in jeder Beziehung, von der Lernkurve und Auffassungsgabe bis hin zu den richtigen Entscheidungen, die er hinter dem Lenkrad trifft. Auch wie er mit Druck umgeht, ist beeindruckend, für sein Alter ist er sehr reif. Natürlich hätte er in diesem Jahr gern die Rallye Finnland gewonnen. Aber er blieb cool, dachte ans Ganze und gab sich mit den Punkten für Platz zwei und den Powerstage-Sieg zufrieden.»
Sébastien Loeb bringt es auf den Punkt. «Er wurde geboren, um ein Champion zu werden», so der Rekordweltmeister und erinnert daran, dass er mit 22 Jahren noch nicht einmal seine erste Rallye gefahren sei. Den ersten seiner neun WM-Titel holte der Franzose mit 30 Jahren und 220 Tagen. Sieben Fahrer waren bei ihrem ersten Titelgewinn jünger. Der bisherige Rekordhalter Colin McRae war 1995 genau 27 Jahre und 109 Tage alt. Geschichte. Rovanperä ist fünf Jahre jünger, als er den Rekord pulverisiert. Man darf gespannt sein, wie lange er die Weltelite im Rallyesport noch aufmischen wird. Im Sommer tobte er im Sportwagen heimlich über die Rennstrecke in Spa-Francorchamps (B). Die Nürburgring-Nordschleife (D) hat er sich auch schon angeschaut. «Natürlich würde ich da gern einmal in einem Rennen antreten. Einen Supra GT4 gibt es ja schon, und wenn ich richtig informiert bin, soll auch ein GT3 kommen. Vielleicht sollte ich nochmals mit Akio Toyoda reden», scherzt Rovanperä im Vorbeigehen und widmet sich darauf wie jeder andere 22-Jährige seinem Smartphone.
Kalle Rovanperä
Geburtstag 1. Oktober 2000
Geburtsort Jyväskylä (Finnland)
Eltern Harri und Tiina Rovanperä
Herkunftsland Finnland
Hobbys Alles, was einen Motor hat.
Rallye-Karriere
- 2011 Erster Rallyesprint
- 2015 Lettischer 2WD-Meister
- 2016 Lettischer Meister (R5)
- 2017 Erster von bisher 50 WM-Starts, erster WRC2-Sieg (Australien)
- 2019 WRC2-Pro-Champion
- 2020 WM-Fünfter, erstes Podium
- 2021 WM-Vierter, zwei Siege
- 2022 Weltmeister, sechs Siege