Das Steuer auf jedem Kurs im Griff

Arndt Ellinghorst,Topanalyst bei Sanford C. Bernstein London, spricht über steigende Aktienkurse, klare Statements und neue Player.

Arndt Ellinghorst (51) ist Managing Director und Senior Vice President beim Research-­Unternehmen Sanford C. Bernstein Limited in London. Als Staranalyst beobachtet er in erster Linie die Automobilbranche. Zuvor war Ellinghorst einige Jahre Global Head of Automotive Research bei der Credit Suisse.

Arndt Ellinghorst ist Senior Vice President beim Research-Unternehmen Sanford C. Bernstein Limited in London und ein Autofan. «Ich liebe die Gegensätze in der Autowelt», sagt er. 2018 startete der Deutsche mit der bekannten Pilotin Claudia Hürtgen in einem Porsche T/R von 1968 in Le Mans. Als Analyst verfolgt Ellinghorst die Vorgänge in der Autoindustrie seit 2000. Er orientiert sich an Kennzahlen wie Kurs-Gewinn-Verhältnissen, Cashflow oder Liquidationswerten. Daraus errechnet er Wahrscheinlichkeiten. Also wenig Zauberei. «70 Prozent meiner Arbeit sind Fleiss, Wissen sammeln, Entwicklungen analysieren. Der Rest ist Intuition», sagt er. Zu den Besten seines Fachs gehört er, weil er wesentlich öfter richtig als falsch liegt.

AUTOMOBIL REVUE: Arndt Ellinghorst, warum sind die Aktien von VW, BMW, Daimler oder Ford in letzter Zeit so markant gestiegen?

Arndt Ellinghorst: Die Aktien der tradtionellen Hersteller sind die mit am niedrigsten bewerteten am Kapitalmarkt überhaupt. Selbst Premiumhersteller sind so bewertet, als ob sie in den nächsten vier bis fünf Jahren Pleite gingen. Das muss man so krass sagen. Die aktuelle Bewertung ergibt überhaupt keinen Sinn, auch jetzt noch nicht überall.

Aufgrund welcher Fundamentaldaten haben die Titel zuletzt denn immerhin korrigiert?

Es gibt eine Erholung der Märkte nach der Pandemie. Zudem steigt die Nachfrage nach individueller Mobilität, und drittens macht die Industrie ­ihre Hausaufgaben. Wenn man das alles zusammenzählt, ist die Relevanz traditioneller Hersteller, vorab was Elektromobilität, Konnektivität oder Digi­tali­sierung angeht, viel höher als der Kapitalmarkt das bisher glauben wollte. Die Investoren beginnen die klassischen Hersteller hinsichtlich Zukunftsträchtigkeit deutlich positiver zu sehen.

Hängt die Rally an der Börse auch damit zusammen, dass die Kundenakzeptanz für Elektro­autos mit Blick auf die Marktzahlen zunimmt?

Absolut. Man sieht, dass vor allem die batterieelektrischen Fahrzeuge von traditionellen Herstellern wie Audi, VW, Hyundai, Mercedes, BMW bei den Kunden sehr gut ankommen und nicht mehr nur Tesla oder Start-ups begeistern. Ein Porsche Taycan, ein Audi E-Tron oder ein Mercedes EQS sind heute coole Produkte.

Gibt es also eine Renaissance der klassischen Marken am Kapitalmarkt? Zuletzt hat Tesla die Konkurenz an der Börse ja förmlich deklassiert.

Wenn die traditionellen Hersteller Stärke und Entschlossenheit im Thema Elektromobilität demonstrieren, wird ihnen Kapital zufliessen. Gerade in Europa ist es extrem schwer, eine neue Marke zu positionieren, weil die traditionellen Hersteller, besonders die Premiummarken, stark verankert sind.

Keine neuen Player à la Tesla in Sicht also?

Wir werden sicher neue Produkte sehen, ich denke da zum Beispiel an Nio oder Lucid. Allerdings werden diese zum Teil eher in den USA oder China unterwegs sein.

Inwiefern drückt der Dieselskandal noch auf die Kapitalisierung der klassischen Hersteller?

Es geht nicht wirklich um den Diesel, sondern darum, welche Technologien aus Sicht des Kapitalmarktes eine Zukunft haben. Hier hat die Dieselkrise, so schmerzhaft sie war, der gesamten Industrie enorm geholfen, mit dem Thema Elektromobilität konstruktiver umzugehen und den Wandel zu beschleunigen. Der Kapitalmarkt glaubt an Elektromobilität, und er glaubt daran, dass der reine Verbrenner keine Zukunft mehr hat.

Insofern ist es nicht schlau, wenn BMW und andere regelmässig betonen, wie sehr man die Verbrennermotoren in Zukunft noch braucht?

Die Aussage stimmt zwar, aber der Kapitalmarkt will das nicht hören. Für die Anleger ist klar: Je weniger Geld ein Unternehmen in eine auslaufende Technologie steckt, desto besser.

Aus all dem, was Sie sagen, geht hervor, dass der Marktwert stark davon abhängt, wie fit sich eine Marke in Sachen Elektromobilität zeigt?

Wenn die Hersteller ihren Aktienkurs positiv beeinflussen wollen, dann sind sie sehr gut damit beraten, möglichst wenig über den Verbrennungsmotor zu sprechen (lacht).

Gibt es weitere Faktoren, die gegenüber früher wichtig geworden sind, um den Aktienkurs positiv zu beeinflussen?

Extrem wichtig ist, dass Hersteller ihre Software- und digitale Kompetenz unter Beweis stellen. Entscheidend für den Produktekauf ist, wie sich Kunden im Fahrzeug vernetzen und wie die Fahrzeuge over the air unterhalten werden können, autonomes Fahren oder Updates von Batterien. Dieser fliessende Übergang vom Smartphone ins Auto muss absolut gewährleistet sein und glaubwürdig rüberkommen. Das Auto wird zum Supercomputer und Daten werden extrem wertvoll. Mit solchen Themen lassen sich Anleger begeistern.

Achtet der Kapitalanleger auch darauf, wer mit wem kooperiert? Die Zeit der Alleingänge eines Herstellers sind ja definitiv vorbei.

Absolut. Wir sehen sehr viele Technologiekooperationen, Hersteller, die sich mit Unternehmen wie Microsoft oder Nvidia zusammentun und gemeinsam an einer Software arbeiten, an künstlicher Intelligenz oder an Machine-Learning. Auch das liefert ein klares Statement hinsichtlich der Zukunftstechnologien, an die der Markt glaubt.

Haben Megaplayer wie VW die Macht, den politischen und wirtschaftlichen Apparat in eine gewünschte Richtung zu bewegen?

Vieles von dem, was in Europa in der Automobilwelt gerade passiert, hat mit VW zu tun: die gewachsene öffentliche Wahrnehmung punkto Klimawandel oder die starke Rolle der Grünen. Da Volkswagen so enorm gross ist, kann es eine Technologie in der Breite etablieren, ja. Mit 670 000 Mitarbeitern ist VW auch führend, wenn es um Gespräche mit der Politik oder Kooperationspartnern etwa bei der Ladeinfrastruktur geht.

Wie wichtig ist die Kapitalisierung respektive der Fakt, dass VW, GM oder Daimler heute ein paar Milliarden mehr wert sind sind als noch vor wenigen Wochen?

Eine vernünftige Kapitalisierung ist zum Beispiel insofern wichtig, als dass Unternehmen nicht zu Übernahmezielen werden oder dass sie sich günstig mit Fremdkapital finanzieren können.

Geben Sie bei Sanford C. Bernstein für Titel der klassischen Hersteller Kaufempfehlungen ab?

Ja, absolut. Ich glaube daran, dass sich die Bewertungen der traditionellen Hersteller, vor allem jene der deutschen Premiummarken, noch signifikant verbessern werden.

Welche Präferenzen haben Sie?

Am positivsten bin ich bei Daimler und BMW. VW ist zuletzt bereits sehr stark gelaufen.

Was spricht denn jetzt gerade mehr für BMW und Daimler als für Volkswagen?

BMW hat es als bisher einziger westlicher Hersteller geschafft, das China-Geschäft voll zu kontrollieren. Ab 2022 wird das über eine Milliarde mehr Cashflow in das Unternehmen spülen. Damit hat BMW bei der Ertragskraft einen enormen Vorteil.  Daimler ist derzeit eine sehr attraktive Equity-Story. Man restrukturiert das Kerngeschäft, spaltet die LKW-Sparte ab und liefert Toprenditen, das ist sehr attraktiv. Beide haben eine klare Strategie. VW muss Verbrenner-, Hybrid- und Elektrofahrzeuge in einer Technologiearchitektur zusammenziehen und hat da noch einiges vor sich.

Anders als VW und Tesla setzen BMW und Daimler nicht auf eine eigene Batteriezellenproduktion.

Das würde auch keinen Sinn machen. VW braucht bis Mitte der 2020er-Jahre etwa 180 Gigawattstunden Batteriekapazität, BMW und Daimler brauchen vielleicht 30. Das heisst, für sie ist es problemlos möglich, den Bedarf an Batterien durch Partnerschaften mit CATL, LG Chem, Samsung, Panasonic oder wem auch immer sicherzustellen.

Und was passiert mit den Tesla-Papieren?

Bei knapp 650 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung wird es irgendwann schwierig. Es war zuletzt sehr viel Hype, viele Retail-Investoren haben investiert, gleichzeitig gerieten Wachstumsaktien allgemein unter Druck.

Tesla hatte zuletzt einen riesigen Wettbewerbsvorteil punkto Software und Elektroantrieb.

Dieser Vorteil ist nach zehn Jahren zusehends obsolet, weil Batterietechnologie allen zugänglich ist und die traditionellen Hersteller auch im Bereich Software und autonomes Fahren massiv aufholen.

Wie sieht es bei andern aus, Toyota zum Beispiel? Die Japaner haben weniger gut performt.

Toyota ist der effizienteste Hersteller der Welt und derjenige, der neue Technologien am besten ausrollen kann. Toyota ist top gemanagt, extrem profitabel, bietet sehr hohe Shareholder-Returns. Darum ist das Unternehmen auch viel höher bewertet als alle anderen. Aber: Toyota hat sich lange gegen die Elektromobilität gestemmt und wollte von der Hybrid- direkt auf die Brennstoffzellentechnologie switchen. Nun scheint sich Wasserstoff eher im LKW-Bereich durchzusetzen.

In diesem Fall hatte diese Strategie suboptimale Auswirkungen auf den Kursverlauf?

Eine Toyota-Aktie ist in dieses Jahr um 6.5 Prozent gestiegen, eine VW-Vorzugsaktie um mehr als 50 Prozent. Über die letzten sechs Monate verzeichnete Toyota ein Plus von 22 Prozent, bei Daimler waren es fast 60 Prozent. Sie sehen: Eine extrem starke Performance gibt es da, wo Unternehmen glaubhaft Elektromobilität darstellen können.

Das ist dann wohl auch der Grund, warum die General-Motors-Papiere zuletzt flogen?

CEO Mary Barra hat das Geschäft von allen strukturell unprofitablen Bereichen getrennt und das Unternehmen voll auf den US-Markt und China fokussiert, insbesondere auf das hochmargige SUV-Geschäft. Zudem hat sie, ähnlich wie VW, ­eine sehr klare und umfangreiche Elektrostrategie vorgestellt. Das überzeugt den Markt.

Was sagen Sie zu neuen Playern wie Nio, einer Marke, die nur E-Mobilität im Portefeuille hat, deren Kurs zuletzt aber eher nach unten ging?

Das Attraktive bei solchen Start-ups ist, dass sie das alte, klassische Geschäft nicht zu restrukturieren brauchen und extrem schnell mit hoch innovativen Produkten auftreten können. Im Fall von Nio ist es so, dass das Unternehmen mit 63 Milliarden Euro schon sehr hoch bewertet ist, so hoch wie BMW. Nio verkauft aber noch fast keine Autos.

Viele neue Marken kommen und gehen …

Ja, es gibt viele Blasen, und nur wenige kommen durch. Was häufig nicht genügend berücksichtigt wird, ist, wie schwierig es ist zu skalieren, also Qualität in der Masse hochzufahren. Hier scheitern viele. Die klassischen Hersteller können das.

Wann kommen Apple und Google mit eigenen Fahrzeugen? Mehrere Hersteller wurden zuletzt ins Spiel gebracht.

Apple, Google und Uber sind tolle Unternehmen. Ich würde ihnen aber davon abraten, Autos zu bauen. Zumindest nicht im Alleingang.

Dann ist es also keine schlechte Idee, Aktien von Premiumherstellern zu kaufen?

Das Thema Mobilität bleibt ein zentrales Kundenbedürfnis. Und wie gesagt, es ist schwierig im Gesamtmarkt Unternehmen zu finden, die so niedrig bewertet sind.

In seiner Jugend restaurierte Arndt Ellinghorst mit seinem Bruder alte Käfer und Karmann Ghia. Nach dem Studium arbeitete er unter anderem bei Audi und VW. 2018 fuhr der Börsenprofi mit einem restaurierten 1968er-Porsche-T/R in Le Mans (F), der dort schon 1969, 1970 und 1971 mitgefahren war. «Autos sind eine riesige Leidenschaft von mir», sagt der studierte Diplomkaufmann.

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