Ein ambitionierter Zwerg

Die Elektromobilität verteilt die Karten auf dem Fahrzeugmarkt neu. Das Familienunternehmen Microlino könnte zum Gewinner werden.

Microlino ist ein Familienunternehmen: Gründer Wim Ouboter mit seiner Frau Janine und den beiden Söhnen Oliver (r.) und Merlin (l.).

Die Schweiz ist ein Land der KMU. Was wir hingegen nicht haben, sind Automobilhersteller. Allerdings könnte sich das mit dem aktuellen Wandel des Marktes und der Verbreitung der Elektromobilität ändern. Da haben plötzliche innovative Start-ups und Kleinfirmen, deren Stärken die Forschung und die Entwicklung neuer Ideen und Produkte ist, die Nase vorn. Insofern haben auch Schweizer Unternehmen gute Karten, um sich im Markt der neuen Mobilität ein Stück vom Kuchen zu sichern. Besonders gute Chancen haben diejenigen Firmen, für die Innovation nicht nur ein Marketingbegriff irgendwo im Leitbild ist, sondern sie auch tatsächlich leben.

Dies erklärt auch, weshalb einige Unternehmen, die man vor ein paar Jahren noch als verrückt bezeichnete, heute sehr gut platziert scheinen. Zahlreiche Unternehmen bauen Schritt für Schritt ihr Nest, ohne aber den Anspruch zu haben, zu ­einem Hauptakteur zu werden. Unter ihnen befinden sich natürlich viele berühmte Namen, aber auch weniger bekannte Unternehmen. Ein Player, der schon länger mit dabei ist, ist Micro Mobility Systems. Auf einen Schlag bekannt wurde das Unternehmen mit dem Micro-Scooter, dem faltbaren Trottinett, mit dem man die städtische Mobilität verändern wollte.

Die Familie Ouboter am Steuer

Wenn Firmengründer Wim Ouboter die Geschichte um die Anfänge von Microlino erzählt, dann tönt das so: Er, Wim, war damals Bankangestellter in Zürich. Und wie jeder echte Zürcher liebt er die berühmten Bratwürste des Sternen-Grills am Bellevue. Der Weg von seinem Büro bis zum Bellevue war zu weit, um ihn zu Fuss zu gehen. Aber auch zu wenig weit, als dass es sich gelohnt hätte, das Velo hervorzuholen. Also kam er auf die Idee, die Lücke zwischen den beiden Fortbewegungsarten zu füllen. Das Resultat ist bekannt: zig Millionen verkaufte Micro-Scooter in 80 Ländern.

Wim Ouboter fehlte es nie an Einfällen, und so kam ihm Mitte der 2010er-Jahre – unterdessen hatten sich seine beiden Söhne Oliver und Merlin zu ihm gesellt – eine neue Idee: Er wollte eine weitere Lücke füllen, nämlich die zwischen den Zweirädern (motorisiert oder nicht) und den Autos. Dazu liess sich das Schweizer Unternehmen von ­einem symbolträchtigen Modell der Automobilgeschichte inspirieren: der Isetta der 1950er-Jahre. Die Isetta, bekannt vor allem durch die Lizenzbauten von BMW, gehörte zusammen mit dem Messerschmitt KR zu den beliebtesten Kleinstwagen der Nachkriegszeit. Mit einem Elektromotor anstelle eines Verbrennungsmotors wurde der Schweizer Kleinwagen als Vierradfahrzeug mit Motor und einem Leergewicht von weniger als 550 Kilogramm in der Kategorie B1 zugelassen.

Industriekrimi

Die Grundlinien des Projekts Microlino waren skizziert, nun galt es, einen Partner zu finden, um das Konzept zu entwickeln. Die Wahl fiel auf die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Dann musste bloss noch ein Unternehmen ausgewählt werden, das die Herstellung übernehmen würde. Dieses wurde im italienischen Unternehmen Tazzari gefunden. Anfangs war die Zusammenarbeit von Erfolg geprägt, und die Familie Ouboter enthüllte 2016 am Genfer Autosalon stolz ihren Microlino.

Doch das Märchen dauerte nicht lange an. Im November 2019 folgte der Paukenschlag: Der deutsche Industrielle Klaus Frers kaufte die italienische Fabrik, in der die Produktion des Microlino hätte aufgenommen werden sollen, und die Familie Ouboter konnte nichts dagegen unternehmen. «Die Produktionsstrasse von Tazzari in Italien und die ersten Exemplare des Microlino wurden allesamt mit LKW von Italien nach Deutschland zu Artega gebracht», erklärt Oliver Ouboter. Der Deutsche erlaubte sich diesen organisierten Diebstahl, da im Vertrag zwischen Tazzari und Microlino keine Klausel zu einem möglichen Verkauf existierte. Die Idee von Klaus Frers war es natürlich, eine eigene Version des Microlino zu vertreiben, nachdem er es eigenen Aussagen zufolge in mehr als 150 Punkten verbessert haben würde. Dazu benannte er das Auto erst in Karolino und später in Karo um.

Ein glückliches Ende

Es folgten Gerichtsverfahren, die für die Familie Ouboter eher positiv ausfielen. «Wir sind mit dem Inhalt der Einigung insgesamt zufrieden, auch wenn sie besagt, dass Artega den Karo weiterhin bauen darf. Wir haben nichts mehr mit ihnen zu tun und sie nichts mehr mit uns. Das ist eine gute Sache», erklärt Oliver Ouboter.

Von den Erfahrungen dieses harten Schlages gestärkt, kehrte Microlino im vergangenen Jahr zurück und enthüllte das Konzept 2.0 (hier zum Beitrag), das von den Entwicklern im Vergleich zum ersten Konzept als qualitativ besser bezeichnet wurde. Heute steht der Prototyp kurz vor der Lancierung eines Serienmodells, wie Merlin Ouboter bestätigt: «Der Produk­tionsstart ist immer noch für 2021 geplant.» Oder anders ausgedrückt: Wenn es keinen erneuten Aufschub gibt (das Fahrzeug war ursprünglich für 2019 geplant), werden die Microlino noch vor Jahresende auf die Schweizer Strasse rollen! Und wie sieht es mit Expansionsplänen aus? «Das Auto zielt in erster Linie auf den Markt in der Schweiz und in Deutschland ab, später möchten wir es aber in ganz Europa verbreiten», geben sich die Ouboter-Brüder optimistisch.

Ein Schweizer mit italienischen Wurzeln

Der Kleinwagen wird in La Loggia (I) bei Turin produziert und in den Räumlichkeiten eines neuen Partners, des italienischen Unternehmens Cecomp, zusammengebaut. Für Oliver Ouboter eine wohlüberlegte Wahl: «Cecomp verfügt über langjährige Erfahrung in der Automobilmontage, zumal sie zum Beispiel die Produktion des Carsharing-Elektroautos Bolloré Bluecar übernommen hat.» Der Preis für den Microlino soll gemäss seinem Bruder Merlin weiterhin bei 13 500 Schweizer Franken liegen, auch wenn das Auto gegenüber der Version von 2016 deutlich weiterentwickelt worden ist: «Der Microlino verfügt über ein paar interessante neue Funktionalitäten. Zum Beispiel wird das LED-Leuchtband vorne und hinten serienmässig angeboten. Und das Armaturenbrett im Cockpit verfügt neu über zwei Bildschirme! Der erste befindet sich hinter dem Lenkrad und zeigt alle relevanten Fahrdaten an. Der zweite Bildschirm ist deutlich kleiner, verfügt aber über eine Touchfunktion und dient unter anderem der Steuerung der Klimaanlage.» Dieser Touchscreen ersetzt die Schalter und anderen Knöpfe, die ursprünglich auf der Mittelkonsole vorgesehen waren. Der Vorteil dieser digitalen Lösung sei es, so Microlino, dass man flexibler sei beim Hinzufügen neuer Funk­tionen. Die Wahl der Gänge (D, N und R) wird über einen Drehknopf auf der linken Seite vorgenommen.

Ein optimiertes Chassis

Aus technischer Sicht hat sich der Zweiplätzer mit Fronttür im Vergleich zum Prototyp von 2016 und damit auch zum Karo von Artega stark verändert. Zum Beispiel wird das Fahrzeug auf einem komplett überarbeiteten Chassis aus Stahlblechkomponenten gebaut. Dank Einzelradaufhängungen an allen vier Rädern konnten die Fahrdynamik und der Komfort verbessert werden. Die hintere Spurweite ist klar breiter geworden als beim Prototyp von 2016, wodurch die Stabilität des Fahrzeugs bei höheren Geschwindigkeiten optimiert wird. Die Maximalgeschwindigkeit des Fahrzeugs liegt gemäss Informationen von Micro bei 89 km/h. Über die Beschleunigungswerte schweigt das Unternehmen noch. Beim Thema Leistung ist Micro hingegen wieder gesprächiger: Die Elektromaschine entwickelt elf kW (15 PS). Das Unternehmen gibt noch keine Informationen heraus über die Kapazität oder die Reichweite der Batterien, die dem Fahrzeug die Energie liefern. «Das Fahrzeug muss noch getestet werden», entschuldigt sich Merlin Ouboter. Der Kleinstwagen profitiert sicherlich von den zahlreichen technischen Verbesserungen.

Drei Fragen zum Microlino

Warum hat der Microlino gute Chancen auf Erfolg?

In einem Land, das versessen auf Swissmade-Produkte ist, hat der Microlino gute Chancen, ein Hit zu werden – erst recht in den Städten, wo sich die Mobilität im Wandel befindet. Diesbezüglich könnten die Kleinstwagen gut abschneiden. Das ist übrigens auch die Meinung von PSA, die kürzlich den kleinen Citroën Ami auf den Markt gebracht hat (hier zum Fahrbericht). Genau wie der Citroën Ami verfügt der Microlino über unumstrittene Vorteile wie zum Beispiel seine Wendigkeit, speziell in engen Parklücken. Der Microlino, der von seinen Entwicklern als Zweitauto gedacht ist, könnte sich tatsächlich als das wichtigste und sympathischste Auto im Haushalt durchsetzen! Darüber ­hinaus scheint der Markterfolg des Kleinstwagen gesichert. «Bis jetzt sind bereits mehr als 17 000 Vorbestellungen eingegangen», erklärt Oliver Ouboter. Dadurch sind mindestens zwei Produktionsjahre gesichert, denn die Brüder  Oliver und Merlin Ouboter hoffen, pro Jahr zwischen 6000 und 10 000 Fahrzeuge herstellen zu können.

Was könnte ihm den Erfolg verwehren?

Die Mentalität der Kunden. Ein kleines und leichtes Auto, das ein beschränktes Platzangebot und wenig Sicherheit bietet, wird es schwer haben bei einer Kundschaft, die immer versessener auf höhere und grössere Fahrzeuge ist. Die Ouboter-Brüder scheinen sich dessen voll bewusst zu sein: «Ich hoffe, dass wir es schaffen, die Haltung der Konsumenten zu verändern. Heute ist einer von drei Neuwagen ein SUV und das mit einem unveränderten Nutzungsprofil von 35 Kilometern pro Tag und mit einer durchschnittlichen Besetzung von 1.2 Personen pro Fahrzeug. Unabhängig davon, ob es sich um ­einen Verbrennungsmotor oder um einen Elektro-SUV handelt, ist es einfach unsinnig, so viel Gewicht zu transportieren.» Potenzielle Kunden könnten auch über die Herkunft des Fahrzeugs schimpfen. Obwohl der Microlino in der Schweiz entwickelt wurde, ist er nicht Swiss Made. Die Produktion in Italien sei aber die einzige Möglichkeit, den Preis unter 14 000 Franken zu halten.

Welche Ideen gibt es über den Microlino hinaus?

Die Ouboter-Brüder Oliver und Merlin sind nicht wirklich gesprächig, was ihre Zukunftsprojekte betrifft. Sie wollen nur so viel verraten: «Wir haben ein paar spannende Ideen in petto, und der Microletta (Bild o., der dreirädrige Elektroscooter, der mit einem PW-Führerschein gefahren werden kann – Red.) ist nur eine davon. Langfristig möchten wir ein Fahrzeughersteller für qualitativ hochwertige Elektromikromobilität sein. Das geht vom Elektrotrottinett über Scooter und Elektrovelos bis hin zum Microlino. Ein E-SUV wird es von uns aber sicher nie geben.»

Schweizer Automobilhersteller: Teil 2
Im Rahmen der Serie über Schweizer Automobilhersteller wird die Automobil Revue als nächstes das Unternehmen Kyburz unter die Lupe nehmen. Das Unternehmen ist bekannt für die Motorisierung der Post-Mitarbeitenden und stellt ausserdem noch weitere Fahrzeuge her wie zum Beispiel den E-Rod. Der kleine Elektrosportwagen hat alles, um das Herz von ganz und gar sportlichen Autofahrern zu gewinnen. Lesen Sie den zweiten Teil unserer Serie über Schweizer Automobilhersteller in der AUTOMOBIL REVUE Ausgabe 7 vom 18. Februar 2021.

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