Sébastien Buemi ist schon rund 24 Stunden vor dem E-Prix sichtlich erschöpft. Die Terminhatz beim heimischen E-Prix ist gewaltig, selbst bei der Gesprächsrunde mit Nissan Schweiz kann der Waadtländer nicht so lange bleiben wie geplant. Dazu kamen in den Ta-gen zuvor dank des Triumphs bei den 24 Stunden von Le Mans (F) noch der Gewinn des Titels des Langstreckenweltmeisters, dann der Wechsel vom Cockpit des Toyota-Prototyps in den Simulator für den E-Prix in Bern und schliesslich in den Formel-E-Renner von Nissan. Verständlich seine Antwort auf die Frage, wo er denn als nächstes, nach Zürich und Bern, ein Formel-E-Rennen fahren würde. «Aigle!», schiesst es aus Buemi raus. Da ist sein Zuhause, «aber Aigle ist zu klein für einen E-Prix», erklärt er mit einem Lächeln. Aber weder Zürich, Bern noch Aigle sind derzeit ein Thema für den E-Prix: Einen Schweizer E-Prix 2020 sucht man bisher vergebens im Kalender der Formel E In Bern interessierte das am vergangenen Wochenende wohl niemanden. Bis zum Rennen am Samstagabend war die Agenda der Formel-E-Fans in Bern proppenvoll. Gemäss dem Veranstalter sollen es rund 130 000 Besucher gewesen sein!
Eine Entdeckungsreise
Die Formel E in Bern, das ist auch eine Entdeckungsreise. Die einen Fans sind erstaunt, dass Felipe Massa, der ehemalige Formel-1-Vizeweltmeister und Pilot des Schweizer Rennstalls Sauber, heute in der Formel E fährt. Andere, vor allem Kinder, wissen seit dem E-Prix von Bern, dass die Schweiz nicht nur Fussball-, Eishockey- oder Schwingstars hat, sondern auch sehr schnelle und erfolgreiche Autorennfahrer. Buben und Mädchen skandieren deshalb während des Rennens wenig überraschend den Namen Buemis. «Und wer ist denn eigentlich der Julius Bär?», will ein Bub von seinem Papa wissen. «Der Julius Bär, mein lieber Junge, der ist nur eine Bank.» – «Aha», antwortet der Bub. Der Stellenwert der Bank ist noch nicht sie hoch wie jener der rennfahrenden Helden.
Die Fans
Über anderthalb Stunden sei sie angestanden, sagt Barbara sichtlich überglücklich. Sie hat gerade als erster Fan die Autogramm-Meile vor dem Kornhauskeller verlassen, die Menschenschlage hinter ihr zieht sich weit bis auf den Korhausplatz hin-aus. Barbara hat sich Autogramme aller Formel-E-Fahrer geholt. «Das war huere geil!», sagt sie, lacht und zeigt stolz die Unterschriften auf Karten und T-Shirt. Aber am meisten freute sie sich über das kurze Treffen mit Sébastien Buemi und Ex-Sauber-Pilot Felipe Massa, gesteht Barbara. Samuel, Sodiumcat, Ameelah und Quasivmo-do ist die Formel E ziemlich egal, aber die Cos-player sind dafür umso mehr für die Menschen-menge in der unteren Berner Alstadt von Inter esse. Die vier kostümierten, jungen Menschen machen im E-Village der Formel E ziemlich eindrücklich ihre Promotionstour für das Hero Fest im Herbst, welches die frühere Berner Spielwarenmesse Suisse Toy ersetzt. Aber irgendwie passen die futuristischen Formel-E-Renner, von manchen auch Bat-mobil genannt, zu den Fantasyfiguren aus Fleisch und Blut. Helene, um die 50, ist riesig interessiert und lässt sich die Formel E in Bern nicht entgehen. Sie sei schon letztes Jahr dabei gewesen, in Zürich. «Aber da wurde die Strecke teilweise frisch asphaltiert, oder es gab einen speziellen Belag», erinnert sie sich und klopft mit ihrem Zeigefinger an die Schläfe. «Gehts noch?! Da war der Aufwand für die Formel E übertrieben. Aber so wie die das in Bern machen, finde ich es toll.» Aber sie sei nicht nur wegen der elektrischen Renner hier, gibt sie zu. «Ich schaue mir auch immer gerne diese Stände der Unternehmen an, spreche mit dem Personal dort und informiere mich. Mich interessiert, wie unsere Zukunft aussehen soll, was da auf einen zu kommt.»
Grosses Interesse
Deshalb hat der Swiss E-Prix neben dem Rennen vor allem eine Mission: Interessierten die Elektro-mobilität näherzubringen. So hat im E-Village auch Hyundai mit seinem Kona einen Stand. «Das Interesse der Menschen ist enorm», sagt der junge Mann, der den Stand zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen betreut. Viele setzen sich hier zum ersten Mal in ein E-Auto, um sich dann sofort zu erkundigen, wie das mit dem Nachtanken sprich Nachladen und der Reichweite sei. Vielen Besucherinnen und Besucher müsse man erst vor Augen führen, wie viele respektive wenige Kilometer sie täglich effektiv unterwegs seien und wie oft sie vor der Situation stünden, eine komplett leere Batterie laden zu müssen. Zumindest im Alltag. Auf längeren Distanzen sieht das anders aus. Abgesehen da-von, dass man den Kona mit 449 Kilometern Reichweite in 19 Stunden an der Haushaltsteckdose laden kann, schiessen Schnellladestationen wie Pilze aus dem Boden. Der Ladevorgang an sich ist kinderleicht: Stecker einstecken. Was noch nicht ganz übersichtlich ist, sind die Zugänge zu den Ladesäulen, die derzeit noch dieses oder jenes App auf dem Smartphone voraussetzen. Das wird aber nur noch einheitlicher und simpler. Das Personal am Hyundai-Kona-Stand haben auf jeden Fall während des Swiss E-Prix in Bern einen strengen Tag. Bernhard Gerster, Professor und Abteilungsleiter Automobiltechnik an der Berner Fachhoch-schule, kann sich über mangelndes Interesse nicht beklagen. Der Stand geniesst Zuspruch, die Menschen trauen sich heran und stellen Fragen. «Die Formel E ist zweifellos eine wunderbare Plattform, damit wir über uns und unsere Arbeit sprechen können», gibt Gerster zu. Für die Berner Fachhochschule sei es zweitrangig, ob die Menschen-massen letztlich auch das Rennen sähen oder eben nur durch die Altstadt flanierten; was aber ein Pluspunkt sei: «Fände das Rennen auf einem Flugplatzgelände statt, hätte die Formel E sicher nicht denselben Effekt und würde wohl kaum so viele Menschen anlocken wie hier in der Stadt.» Die Formel E sei eben letztlich eine Imagekampagne, sagt Gerster – «und das machen die Leute von der Formel E wirklich gut!» Mit der elektrischen Rennerei kann sich der Professor dann aber doch eher weniger anfreunden. Er sei eben auch ein Motorsportfan der alten Generation. «Eine Attack-Zone oder ein Fan-Boost haben mit dem klassischen Rennsport nichts zu tun. Für mich ist das eher Casino», sagt er und lacht.
Über mangelndes Interesse kann sich ein Haus weiter auch das Energieunternehmen EWB nicht beklagen, das sich ein Zelt mit Partnern teilt. Katharina Lehmann, Marketingmanagerin bei Energie Wasser Bern, ist jedenfalls begeistert: «Die Menschen zeigen Interesse, auch wenn wir hier nicht zwingend über alternative Antriebstechniken oder die E-Mobilität informieren. Wir zeigen auf, welche Formen von Energiegewinnung es gibt und welchen Testaufwand wir bei der EWB dafür be-treiben.» Die Formel E als Zugpferd locke das Publikum schon an, sagt Lehmann. «Die Menschen blocken nicht ab, sie suchen das Gespräch, und die-se Art von Kommunikation ist sehr viel besser, als wenn sie nur einseitig ist», wie beispielsweise mit einem Prospekt im heimischen Briefkasten.
Die Formel E ist an diesem Wochenende ein Magnet. Die Velo-Pöbler vom Donnerstag haben hier keinen Platz mehr, denn nicht nur die Gassen der unteren Altstadt sind am Samstag gut besucht von Racing-Fans, Technik-Freaks, aber auch vielen Familien. Rund eine Stunde vor dem Rennen ist die Public-Viewing-Arena unten am Aargauerstalden proppenvoll. Die Chance auf einen bequemen Liegestuhl, die in Reih und Glied aufgestellt sind, ist längst vertan. Entweder liegen die Personen schon entspannt darin und nippen an einem kühlen Getränk – oder aber persönliche Gegenstände wie Jacken machen deutlich: Hier ist reserviert – im Fall! Ganz so wie es die Sonnenanbeter auf Mallorca oder einer anderen Ferieninsel immer schon getan haben. Bei einem derart gefüllten Platz sucht man sein Plätzchen bald vergebens und marschiert des-halb quer hinüber, den Klösterlistutz wieder hin-auf. Aber auch dort drängen sich die Fans. Bald schon so sehr, dass die Organisatoren den Bereich sperren und das auch über die Videowände kundtun. In diesem Fall funktionierte die Kommunikation. Das war aber nicht überall so.
Kommunikation mangelhaft
In Bern hat das Organisationskommitee grundsätzlich einen tollen Job gemacht. Letztlich hat alles prima funktioniert. Schwach hingegen war die Kommunikation seitens der Veranstalter des Swiss E-Prix. Sei es gegenüber den betroffenen Anwohnern, der Öffentlichkeit allgemein, Ladenbesitzern, den Verkehrsbetrieben oder der Stadtregierung. Wenn wir nichts sagen wollen, sagen wir einfach nichts! So lautete offenbar das Kommunikations-Credo des Veranstalters. Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried sagte der Tageszeitung «Der Bund», man sei enttäuscht. Die Auflagen seien vom Organisationskomitee nicht eingehalten worden. Schlechte Kommunikation erzeugt Arroganz, die schlecht einfährt. Selbst wenn man das Ganze aus Sicht der Formel-E-Macher pragmatisch betrachten und sagen kann: Warum informieren und diskutieren? Wenn ihr A gesagt habt, gibt es keine Alternative mehr. Da ist keine Zeit mehr, um zu diskutieren und Zeit zu verlieren. Dann funktioniert es nur noch, wenn man es genau so macht, wie wir das sagen.
Das Rennen
Sébastien Buemi strahlt über das ganze Gesicht: Seine Familie ist dabei, als er hinter Formel-E-Titelverteidiger Jean-Eric Vergne (F) und Mitch Evans (Neuseeland) Dritter wird beim Berner E-Prix. «Hier auf dem Podest stehen zu dürfen, ist unglaublich. Als ich gefahren bin, habe ich die Fans meinen Namen rufen hören. Die Familie ist da, mein Sohn durfte mit mir auf das Podium – das alles werde ich sehr lang in guter Erinnerung be-halten», sagt Buemi. Evans war in Bern der grösste Herausforderer von Vergne, der das Rennen über die ganze Distanz anführte. Einmal wollten einige Piloten offen-sichtlich zu schnell Plätze gutmachen: Nach dem Start kamen Evans und Buemi im Kampf um Platz 2 gerade noch um die erste Schikane herum. Pascal Wehrlein (D) hingegen wurde von einem Konkurrenten in die Streckenbegrenzung geschoben und versperrte dem restlichen Feld den Weg – Rennabbruch! Nach dem Neustart hielten Vergne, Evans und Buemi die ersten drei Plätze, Raum für Überholmanöver boten die Strassen von Bern kaum. Hektisch wurde es auf den Schlussrunden doch noch, wie Vergne zugab: «Der Regenschauer hat mich recht gestresst.» Der Franzose führt die Gesamtwertung der Formel E 2018/19 weiterhin an und hat seinen Vorsprung auf 32 Punkte ausgebaut, weil sein erster Verfolger Lucas di Grassi (Brasilien) nur Neunter wurde. Der Swiss E-Prix war im Hinblick auf das Formel-E-Finale am 13. und 14. Juli in New York vorentscheidend. Gewinnt Vergne in den USA das erste der zwei finalen Rennen, dann ist ihm der zweite Titel nach 2018 nicht mehr zu nehmen.
RESULTATE
Formel-E-Prix von Bern. 11. Lauf (von 13), 31 Runden zu 2.750 km (62 km): 1. Jean-Eric Vergne (F), DS-Techeetah, 1:25:26.873 Stunden. 2. Mitch Evans (NZ), Jaguar, 0.160 Sekunden zurück. 3. Sébastien Buemi (CH), Nissan-Edams, 0.720. 4. Sam Bird (GB), Envision, 2.2996. 5. Maximilian Günther (D), Dragon, 4.625. 6. Daniel Abt (D), Audi-Abt, 6.930. 7. Alex Lynn (GB), Jaguar, 9.972. 8. Felipe Massa (BR), Venturi, 12.310. 9. Lucas di Grassi (BR), Audi-Abt, 13.073. 10. Stoffel Vandoor-ne (B), HWA, 13.386. – Ausgeschieden: U. a. Edoardo Mortara (CH), 5. Runde. (Unfall aufgrund von Bremsproblemen). – Schnellste Runde (+1 Punkt): Antonio Felix da Costa (P), BMW-Andretti, 2.750 km in 1:21.240 Minuten. – Poleposition (+3 Punkte): Vergne in 1:22.013. – 22 Fahrer gestartet, 17 klassiert. – Bemerkung: Rennen nach Massencrash in der ersten Schikane gestoppt und ca. 45. Minuten später neu gestartet. Stände. Fahrer: 1. Verge, 130 Punkte. 2. Di Grassi 98. 3. Evans 87. 4. André Lotterer (D), DS-Techeetah, 86. 5. Da Costa 82. 6. Robin Frijns (NL), Envision, 81. 7. Buemi 76. 8. Abt 75. 9. Bird 69. 10. Jérôme D’Ambrosio (B), Mahindra, 65. Ferner: 12 Mortara 52.
Nächster und letzter Lauf: New York, 13./14. Juli 2019 (2 Rennen).