Der Anfang ist chaotisch. Zwar präsentiert sich die Mehrzweckhalle von Brescia (I) recht aufgeräumt, die Stimmung ist gelassen und die bereits zur technischen Abnahme vorbereiteten Wagen sind atemberaubend, doch der Gang zur Registrierung, zur Kasse – ein wichtiger Teil der Mille Miglia –, zum Automobile Club Brescia und auch zur Polizia Stradale dauern. Es gilt, eine Mitgliedschaft beim Klub zu erlangen, eine temporäre Lizenz zu lösen, die Erklärung zur Einhaltung der Verkehrsvorschriften zu unterzeichnen und zu guter Letzt die Badges, die einem Zutritt zu allen Zonen verschaffen, entgegenzunehmen. Etwa drei Stunden später stehen wir da, der französische Fotograf Jean-Lionel Dias und ich. Eingeladen hat uns einer der Hauptsponsoren, die Uhrenmanufaktur Chopard von Karl-Friedrich Scheufele. Seine Leidenschaft für Automobile brachte den Unternehmer bereits 1988 in Kontakt mit den Veranstaltern der Mille, die Präsenz von Chopard gehört heute mit zu den Traditionen des schönsten Autorennens der Welt. Dass Klasse nicht aus dem Nichts entsteht, sondern gelebt sein muss, sollte uns noch am Abend nach der Registrierung deutlich werden.
Bescheiden, doch beherzt
Unser Wagen ist ein Fiat 1100 TV von 1955, TV steht für Tourismo Veloce. Der Besitzer bringt ihn für uns zur technischen Kontrolle. Der Wagen ist leicht, sehr kompakt, wirkt aber mit 50 PS nicht gerade übermotorisiert. Geschaltet wird er mittels Lenkradschaltung. Sofort fällt mir die ideale Platzierung der Pedale auf, die das Anbremsen und Zurückschalten mit etwas Zwischengas erheblich erleichtern werden. Sportliches Flair aber geht dem Wagen nach dem ersten Eindruck völlig ab. Man wird sehen.
Nach dem Gang durch die verschiedenen administrativen Stationen stehen wir mit einer Tasche, den Papieren und einer Checkliste bewehrt da. Ein Shuttlebus bringt uns zurück ins Hotel am Lago d’Iseo. Ein Dinner ist für den Abend vorgesehen, eine ideale Einstimmung auf die Veranstaltung. Ebenso gilt es, uns mit je einem Exemplar jener Uhrenedition auszurüsten, die Chopard wie jedes Jahr auch für die Mille Miglia 2022 kreiert hat. Für jedes teilnehmende Auto gibt es zudem ein Exemplar einer Sonderedition, die nicht zu kaufen ist – sie sind bereits Sammlerstücke, bevor die Mille Miglia überhaupt gestartet wird.
Mit etwas Gewicht am Handgelenk schreiten wir zum Abend mit Musik, herrlichstem Essen und ersten Gesprächen unter den Teilnehmern des Teams von Chopard, das mit sieben Autos antritt. Die Stimmung ist prächtig, und das Leben in Italien scheint sich mit seiner ganzen Süsse über die folgenden vier Tage zu ergiessen.
Plombiert und geschmiert
Auf der Piazza Vittoria gilt es am Mittwochmorgen, das Auto plombieren zu lassen. Die Punzanatura gehört zum Mille-Ritual und garantiert, dass unterwegs nicht einfach der Wagen ausgetauscht werden kann. Heute ist dies eher historisch von Interesse als sportlich von Nöten. Als die Mille Miglia aber noch als echtes Strassenrennen gefahren wurden, war es durchaus vorstellbar, dass nach der technischen Kontrolle irgendwo unterwegs auf den rund 1600 Kilometern respektive eben diesen 1000 Meilen das ganze Auto ausgetauscht worden wäre. Heute ergibt das Prozedere immerhin einen tollen Auftritt für die Sponsoren. Auch Chopard verwöhnt die Fahrerinnen und Fahrer. Dicht an dicht drängen wir uns mit dem Chopard-Markenbotschafter und Freund der Patrons, der Rennfahrerlegende Jacky Ickx, in der Chopard-Lounge, the place to be, ganz offensichtlich. Das Spektakel auf der Piazza Vittoria bietet allen Schaulustigen erstmals Gelegenheit, die Autos richtig sehen, hören und riechen zu können.
Auch unser Fiat trägt nach einiger Zeit die ersehnte Plombe an der Lenksäule. Danach gilt es, einen Fahrerbadge zu erhalten, uns diesen auszuhändigen, hat man am Vortag schlicht vergessen. Hineingekommen sind wir fast überall aber auch ohne diesen Badge, etwas diskutieren hilft.
Der Fiat springt stets nach wenigen Drehungen des Anlassers an, und für den Fall der Fälle hat er eine elektrische Benzinpumpe gegen Dampfblasen und einen ebenso elektrischen Zusatzventilator gegen Hitzewallungen. Die Hitze macht dem Auto denn auch weniger zu schaffen als der Besatzung. Nach dem Mittagessen erfolgt die Startaufstellung auf der Viale Venezia in Brescia. Der Ort hat Tradition. Rund zwei Stunden bevor wir mit der Startnummer 284 über die Rampe gewinkt werden, ging es für die niedrigen Nummern schon los. Die erste Mille wurde von einem OM 665 Superba gewonnen. Die Officine Mechaniche waren eine Marke aus der Stadt und erlangten in der Schweiz einige Bekanntheit als Partner von Saurer für Leicht-Lastwagen. OM wurden später in Iveco integriert. Aus Respekt für diesen ersten Sieg und aus Lokalpatriotismus führt die Mille Miglia seit der Wiederaufnahme 1977 stets ein Wagen von OM an, gefolgt von einer Phalanx von Alfa Romeo. Überhaupt hat nur zweimal ein nicht-italienisches Auto das historische Rennen gewonnen. 1932 war dies Rudolf Caracciola auf einem Mercedes SSKL, und 1955 bestätigten Stirling Moss und Denis Jenkinson mit dem Mercedes 300 SLR die Ausnahme von der Regel. Unsere Startzeit ist 15.00 Uhr, die erste Etappe führt nach Milano Marittima an der Adriaküste. Die Strecke hat viele flache und gerade Abschnitte. Vor uns liegen Salò, der Parco Sigurtà, die Heimat von Mille-Legende Achille Varzi in Mantua, Ferrara, Comacchio und schliesslich Cervia Milano Marittima. Die Spannung steigt, dann geht es los!
Drehen und schalten
Die ersten schnell gefahrenen Meter deuten es bereits an, das Auto liegt mir. Der Motor ist eine wahre Drehorgel, Gas nimmt er ohne zu zögern an, mit kernigem Raspeln jubelt sich der Elfhunderter erst warm, dann in hohe Drehzahlbereiche. Einen Tourenzähler gibt es nicht, das Gefühl aber sagt mir, dass alles im grünen Bereich liegt. Geradezu grandios ist, wie die Vorderachse des kleinen, kaum 1.5 Meter breiten Wagens jeder Lenkbewegung folgt. Das semitransparente Bakelitlenkrad wirkt derweil kaum sportlich. Die Hinterachse rutscht einfach irgendwie hinterher, sie ist aber erstaunlich gutmütig und nimmt als starrer Prügel an Blattfedern beim Federn über zahllose Schadstellen im Belag kaum Einfluss auf das leichte
Wägelchen. Ebenso beachtlich ist, wie das Auto seine Kraft auf die Strasse bringt, selbst engste Kurven bringen keines der Hinterräder zum Durchdrehen. Leistungsmangel allein kann nicht die Ursache sein.
Was hier etwas hektisch beschrieben scheint, ist auch genau so. Zwar wurden die Mille Miglia 1977 als Gleichmässigkeitsprüfung wiederbelebt, aber selbst die vermeintlich als Kontrollorgane eingesetzten Motorradpolizisten der Polizia Stradale tun alles, um die Pace hochzuhalten. Wir folgen einem blinkenden Töff quer durch die Stadt und sind recht bald im typischen Mille-Miglia-Modus: Gas geben, immer. Wir rasen über Dorfplätze, überholen vor Kreiseln ganze Kolonnen aussen, drängen uns bei der Kreiseleinfahrt wieder hinein und melden unsere Absicht mit kurzen Stössen der Hupe. Oft genug geschieht das im Gefolge eines Motorrads, das uns die Bahn freischaufelt. Was Aussenstehende erstaunt, ist die Tatsache, das darob niemand wütend wird. Im Gegenteil, durch die hitzebedingt stets offenen Fenster hören wir wohl mindestens tausend Mal die begeistert ausgerufene Zahl «Millecento!».
Ja, dieses Auto kennt die Ü-50-Generation in Italien noch bestens, und jeder, der sich daran erinnert, hat wohl irgendjemanden gekannt, der einen Fiat 1100 fuhr. Tatsächlich stand der als klassisches Drei-Kisten-Auto konzipierte Wagen der unteren Mittelklasse in der Bestsellerliste lange sehr weit oben. Wir wissen nun auch wieso, denn der Fiat 1100 ist in der Tat brillant. Wer das Spiel mit Anbremsen, Herunterschalten mit Zwischengas und Heel-and-Toe beherrscht, kann die Drehzahl hochhalten und den Schwung mit durch die Kurve nehmen. Das Auto hält, es hält gar so gut, dass wir am ersten Abend offenbar zum Gesprächsthema werden. Jedenfalls ist der Besitzer des Fiats begeistert davon, dass wir selbst die Mercedes 300 SL hätten in Schach halten können. Nun ja, erstens ist der gute Pietro nicht ganz unbefangen, und zweitens klappt das am besten auf kurvigen Strässchen über die Berge. Auf geraden Strecken hingegen wollten wir unserem Auto, dem treuen, aber recht kurz übersetzten Kämpfer, nicht mehr als 120 km/h zumuten.
Helfer und Sportler
Die Mille Miglia sind ein Gleichmässigkeitswettbewerb. Unsere Resultate in den Sonderprüfungen sind aber nicht sehr berauschend. Am ersten Tag liegt das Team Sigrist/Dias auf Rang 371 von 425 klassierten Fahrzeugen, am zweiten Tag immerhin auf Rang 300. Doch mehr mit Glück als Verstand, bei einigen Sonderprüfungen folgten wir einfach dem vorausfahrenden Team – was offenbar nicht schlecht geklappt hat. Das beste Resultat sind zwei Sekunden unter der Sollzeit. Für Profis ist das eine Ewigkeit, für uns Amateure ohne Tripomaster und mit wenig Ahnung gar nicht einmal so schlecht. Um Mitternacht erreichen wir Rom. In den Bergen war unser Fiat voll in seinem Element. Kaum zu glauben, dass er fast siebzig Jahre alt ist. Dennoch – oder gerade weil wir alles gegeben haben – sind wir nudelfertig und durchgebacken. Darum ziehen wir es schliesslich vor, die einmalige Stadtrunde mit einem Tankstopp in der Nähe des Kolosseums zu beenden und uns Richtung Fiumicino zum Hotel zu verabschieden. Die beiden Schlussetappen werden von zwei anderen Berufskollegen bestritten.
Beeindruckend ist die grosse Zahl der Helferinnen und Helfer. Die Streckenposten, die zum Teil stundenlang irgendwo unter einem Zelt sitzend bei grösster Hitze die Zeitkontrollen durchführen, verdienen grossen Respekt. Das Beste aber an den Mille Miglia ist die Begeisterung der Bevölkerung. Die Mille Miglia sind ein immaterielles Kulturgut. Für die Zuschauer – Männer, Frauen und Kinder, Junge und Alte – sind sie aber so etwas wie der Giro d’Italia für klassische Automobile. Zudem widmen sich die Mille einer Epoche, als sich Italien gross wähnte. Und nach dem Krieg schaute das Land nach vorne. Vor dem Krieg war Alfa Romeo stets ein Sieganwärter. Ferrari dominierte mit nicht weniger als acht Siegen zwischen 1948 und 1957 die Nachkriegszeit. Die Mille Miglia befeuerten den Geist und die Legende der Marke.
Natürlich wurde die Idee, im normalen Verkehr ein Rennen zu fahren, irgendwann irrsinnig. Der Unfall des Spaniers Alfonso de Portago 1957 kurz vor dem Ziel in Brescia mit elf Todesopfern, darunter fünf Kinder sowie Fahrer und Beifahrer, bedeutete denn auch das Ende der alten Mille. Die Veranstaltung heute aber zeugt von der Akzeptanz des Autos als Teil unserer Kultur. Ohne all die Menschen am Strassenrand wäre sie kaum möglich. Und Autos bringen Menschen zusammen, sorgen für positive Emotionen und wecken Begeisterung. Es ist verständlich, dass Karl-Friedrich Scheufele mit Chopard die Nähe dieser Veranstaltung suchte und das schönste Autorennen der Welt seit 1988 als Sponsor tatkräftig unterstützt: «Zeitmessung und Rennen gehören zusammen. Beides, Uhren und klassische Automobile, sind mechanische Objekte, die Emotionen wecken. Sie faszinieren mit ihrer Funktion und erfreuen das Auge mit ihrer Ästhetik. Die Mille Miglia bringen diese einzigartigen Fahrzeuge zu den Menschen, sie nehmen die Distanz und schaffen Nähe. In ihrem Geist, in der Begeisterung, die sie bei allen, die mit ihr zu tun haben, wecken, haben sie sich seit ihren Anfängen vor fast einhundert Jahren in keinem Bisschen geändert. Und wer einmal dabei war, wird es nie mehr vergessen.»