Erster, ohne Hände!

Mercedes-Benz hat als erster Hersteller die Genehmigung zum Einsatz eines Level-3-­Systems für autonomes Fahren erhalten. Ein Fokus auf die Technologie.

Mercedes-Benz hat am 9. Dezember ­eine entscheidende Hürde genommen: Das vom deutschen Autobauer entwickelte Fahrerassistenzsystem nach Level 3 wurde von den zuständigen deutschen Behörden offiziell zugelassen. Im Gegensatz zum Level 2, bei dem der Fahrer das System ständig überwachen muss, um jederzeit unverzüglich die Kontrolle übernehmen zu können, braucht er sich bei Level 3 nicht um das System zu kümmern. Er muss das Lenkrad nicht mehr in den Händen halten, sondern wird zum Mitfahrer im Fahrzeug, das sich um alles Weitere kümmert, sodass er sich mit anderen Dingen beschäftigen darf. Er kann E-Mails oder SMS schreiben, die Zeitung lesen und sogar fernsehen. Allerdings muss er in der Lage sein, die Kontrolle über das Fahrzeug wieder zu übernehmen, wenn das System ihn, mit ausreichender Vorwarnzeit, dazu auffordert. Der sogenannte Drive-Pilot, den Mercedes-­Benz ab dem ersten Halbjahr 2022 als Sonderausstattung in die S-Klasse und den EQS einbaut, kann bei Geschwindigkeiten von bis zu 60 km/h aktiviert werden.

Obwohl die Technologie bislang nur bei Autobahnstaus auf bestimmten Abschnitten in Deutschland eingesetzt werden darf, stellt die Technologie auch diesseits des Rheins ein spannendes Thema dar, zumal sie auch in anderen europäischen Ländern, einschliesslich der Schweiz, zum Einsatz kommen soll.

Optionaler Drive-Pilot

Der Drive-Pilot wird über zwei physische Tasten aktiviert beziehungsweise deaktiviert, die sich links und rechts über den Daumenmulden am Kranz des Multifunktionslenkrads befinden. Er hält das Fahrzeug sicher in der Spur und kontrolliert dabei sowohl die Geschwindigkeit als auch den Abstand zu benachbarten Fahrzeugen. «Das Streckenprofil, Ereignisse auf der Strecke und Verkehrsschilder werden berücksichtigt. Das System reagiert auch auf unerwartete Verkehrssituationen und managt diese selbständig, beispielsweise durch Ausweichmanöver innerhalb der Spur oder Bremsmanöver», erklärt Gregor Kugelmann, Leiter der Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen bei Mercedes-Benz.

Der Drive-Pilot wird dabei von einer ganzen Armada von Sensoren unterstützt, allen voran dem wichtigsten, einem Lidar-Scanner (Light Detection And Ranging). Im Gegensatz zum Radar, bei dem Radiowellen verwendet werden, oder zum Sonar, das akustische Wellen nutzt, basiert die Objekterkennung des Lidar auf Lichtwellen aus dem sichtbaren, infraroten oder ultravioletten Spektrum. Die Entwicklung dieser Technologie wurde ausgelagert und dem französischen Zulieferer Valeo anvertraut. Mit dem im Jahr 2015 vorgestellten System namens Scala kann sich Valeo rühmen, das weltweit erste in Serie produzierte Lidar auf den Markt gebracht zu haben.

Nun stellt der französische Automobilzulieferer das Modell der zweiten Generation vor, das seine Premiere in den beiden Limousinen aus Stuttgart (D) feiert. Das Lidar besitzt eine Erkennungsreichweite von über 200 Metern und ein breites Sichtfeld. Da das System die Umgebung vor dem Fahrzeug 25-mal pro Sekunde abtastet, können die Mercedes-Fahrzeuge unabhängig von den gerade herrschenden Witterungsbedingungen ein dreidimensionales Bild ihrer Umgebung generieren. Die Fähigkeit, das Lidar bei jedem Wetter einzusetzen, verdankt Mercedes-Benz dem Scala-System, das über eine eigene Enteisungs- und Reinigungsvorrichtung verfügt (bei dem die Reinigungsflüssigkeit nicht auf eine bestimmte Stelle, sondern über die ganze Breite in Form eines Flüssigkeitsvorhangs versprüht wird). Das Beste daran ist, dass die Reinigungsvorrichtung von Valeo dank der in den Sensor integrierten Bauweise nicht sichtbar ist und das Aussehen des Fahrzeugs nicht beeinflusst.

Armada von Sensoren

Neben dem Lidar, das im Kühlergrill des Fahrzeugs untergebracht ist, besitzen die Mercedes-­Modelle noch eine Kamera, die in die Heckscheibe integriert ist. Im Radkasten befindet sich ausserdem ein Feuchtigkeitssensor, der die Luftfeuchtigkeit misst. Das ist aber längst noch nicht alles. In der Fahrgastzelle befindet sich ein speziell entwickeltes Mikrofon, das die Sirenen von Rettungsfahrzeugen erkennt. Zu dieser Heerschar von Sensoren kommt dann noch die gängige Ausstattung: eine Kamera mit grosser Reichweite, zwölf Rückfahrsensoren (!) und vier Sensoren für die Einparkhilfe.

Die Fahrzeuge von Mercedes-Benz erfassen Daten nicht nur über Sensoren, sondern greifen auch auf topografische Daten der Strecke und deren Profil zu, erkennen Verkehrszeichen und ungewöhnliche Ereignisse wie beispielsweise Unfälle oder Baustellen. Die auf einer Festplatte im Wagen gespeicherten Daten werden per SIM-Karte und Internetverbindung in Echtzeit aktualisiert, wie Gregor Kugelmann erkärt: «All diese Informationen ergeben ein dreidimensionales Bild der Strassen und der Umgebung. Die Kartendaten werden in einer Cloud gespeichert, die permanent aktualisiert wird. Jedes Fahrzeug speichert diese Karteninformationen ausserdem an Bord, vergleicht sie laufend mit den Daten in der Cloud und aktualisiert sie bei Bedarf. Diese hochpräzise Karte unterscheidet sich von den Karten für Naviga­tionsgeräte unter anderem dadurch, dass sie genauer ist. Die Genauigkeit liegt im Zentimeter- statt im Meterbereich.»


In der S-Klasse und im EQS von Mercedes wird das autonome Fahren der Stufe 3 über zwei Tasten aktiviert, die sich am Lenkradkranz befinden.

Details zum Zulassungsverfahren

All diese beeindruckenden Technologien waren Voraussetzung für die Zulassung durch die deutschen Behörden. Wie das ablief, erzählt uns Dirk Ockel, Leiter der Sicherheitszertifizierung bei Mercedes-Benz: «Obwohl viel Wirbel darum gemacht wird, entsprach die Level-3-Zulassung im Grunde anderen Zulassungsverfahren. Die Zertifizierung der Drive-Pilot-Technologie folgte einem standardisierten Genehmigungsverfahren.» 

Mercedes musste mit den beiden Fahrzeugen die Norm UN-R157 für automatisierte Systeme erfüllen. Diese Norm enthält alle funktionalen Anforderungen, die erfüllt werden müssen, damit ein bedingt automatisiertes System zugelassen werden kann, bei dem der Fahrer nicht mehr ständig die Fahrbahn überwachen muss. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Vorschrift die Interaktion zwischen Fahrer und Fahrzeug regelt, indem sie beispielsweise den Prozess der Fahrübergabe beschreibt. Ausserdem wird detailliert vorgeschrieben, wie sich die Technologie verhalten muss, wenn sie die Kontrolle hat, und wie sie beispielsweise auf unerwartete Ereignisse reagieren soll. «Allerdings trägt die Norm UN-R157 in keiner Weise zur Klärung der weiteren Fragen rund um das bedingt automatisierte Fahren bei. In Deutschland werden diese Fragen unter anderem durch das Strassenverkehrsgesetz und die Strassenverkehrsordnung geregelt. Ob und welche Nebentätigkeiten dem Fahrer rechtlich erlaubt sind, wird also in den jeweiligen nationalen Strassenverkehrsgesetzen geregelt», sagt Ockel.

Um sicherzustellen, dass man den Zulassungsprozess mit Bravour meistern würde, führte der Daimler-Konzern eine Reihe von Tests sowohl auf öffentlichen als auch auf gesperrten Strassenabschnitten durch. In Immendingen (D) leistete sich der Konzern 2018 sogar ein brandneues Testzentrum, das speziell darauf ausgelegt ist, die Weiterentwicklung des autonomen Fahrens voranzutreiben. Mit diesen Tests war es allerdings noch nicht getan. Am Computer stellten die Ingenieure auch Situationen nach, die im wirklichen Leben statistisch gesehen nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit eintreten. Mithilfe eines Simulators führten die Ingenieure virtuelle Testprozedere durch, die auf bestimmten Szenarien basierten.

Massnahmen bei einem Unfall

Bei einer für das neue System maximal zulässigen Geschwindigkeit von 60 km/h ist das Risiko, dass sich in einer mehr oder weniger kontrollierten Umgebung wie auf der Autobahn ein Unfall ereignet, relativ gering. Dennoch ist es vorhanden. Deshalb hat Mercedes-Benz alles getan, um mögliche Personenschäden der Insassen zu minimieren. «Zahlreiche Massnahmen tragen dazu bei, dass bei ­einem Unfall die Folgeschäden reduziert werden und die Rettung der Insassen erleichtert wird. Sobald ein Schutzsystem, beispielsweise ein Gurtstraffer oder ein Airbag, ausgelöst oder ein Fehler festgestellt wird, können bestimmte Massnahmen eingeleitet werden. Je nach Art und Schwere des Unfalls aktivieren die Limousinen zum Beispiel automatisch ihre Notruffunktion. Sie können auch ihr Gefahrenwarnsystem aktivieren, um andere Verkehrsteilnehmer zu warnen», erklärt Gregor Kugelmann.

Natürlich stellt sich bei einem allfälligen Unfall auch die Frage nach der Haftung: «Die Haftung bei einem Unfall wird von Fall zu Fall entschieden. Sie hängt zudem von der Gesetzgebung zur Haftung im jeweiligen Land ab», erklärt Dirk Ockel. Er fährt fort: «Wenn beispielsweise in Deutschland ein Fahrer seine Sorgfaltspflicht verletzt und einen Unfall verursacht, haftet er für die daraus entstehenden Schäden. Darüber hinaus kann der Hersteller für ein fehlerhaftes Produkt haftbar gemacht werden. Dasselbe gilt für den Zulieferer, wenn nachgewiesen wird, dass ein von ihm geliefertes Produkt fehlerhaft war. Diese Haftungsregelung gilt sowohl für automatisierte als auch für konventionelle Fahrzeuge».

Mercedes-Benz hat bei der Entwicklung des Drive-Pilots nichts dem Zufall überlassen. Die Stuttgarter sind sich bewusst, dass dabei viel auf dem Spiel steht, denn bei jedem Fehler, bei jeder Panne und bei jedem Unfall könnte der Drive-Pilot schnell in die Schlagzeilen geraten und den deutschen Automobilkonzern in ein schlechtes Licht rücken. Man kann jedoch davon ausgehen, dass Mercedes-Benz, Erfinder des Automobils schlechthin, ein solcher Fehler wohl kaum unterlaufen wird.

Und in der Schweiz?

In Bezug auf das autonome Fahren kann sich Deutschland einer Vorreiterrolle rühmen. Durch seine Änderung des Strassenverkehrsgesetzes am 30. März 2017 war es das erste Land in Europa, das klar definiert hat, dass Nebentätigkeiten des Fahrers erlaubt sind, wenn das Level-3-System aktiviert ist. Bei Daimler setzt man wohl darauf, dass die deutsche Regelung auf andere Länder ausgeweitet wird. «Es dürfte schwierig sein, den Autofahrern zu erklären, warum es derzeit in jedem Land unterschiedliche Regelungen gibt. Sobald es einen nationalen Rechtsrahmen für das autonome Fahren auch in anderen Märkten gibt, wird die Technologie schrittweise ausgeweitet», sagt Dirk Ockel, Leiter der Sicherheitszertifizierung bei Mercedes-Benz. In der Schweiz ist dies derzeit noch nicht der Fall, wie das Bundesamt für Strassen (Astra) erklärt: «Die Anwesenheit eines Fahrers hinter dem Steuer ist weiterhin vorgeschrieben. Der Fahrer wird nicht von seinen Pflichten und seiner Verantwortung entbunden. Vollautomatisierte Fahrzeuge können daher in der Schweiz erst zugelassen werden, wenn die notwendigen technischen Nachweise und der internationale Rechtsrahmen geschaffen sind. Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass das nationale Recht nicht hinter diesen Entwicklungen zurückbleibt.» Mit anderen Worten: Die Option Drive-Pilot funktioniert in der Schweiz derzeit noch nicht. Dies dürfte sich jedoch bald ändern, da das System von Mercedes–Benz technisch ausgereift zu sein scheint.

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