Es ist noch eine nette Vorstellung. In Paris war 1968 zwar grad die Hölle los, doch in der Küche der Pariser Wohnung von Jean Rédélé sassen einige der besten französischen Ingenieure beisammmen – und diskutierten nicht über Politik, sondern über die Zukunft von Alpine. In den bisherigen Hallen an der Avenue Louis Pasteur hatten sie keinen Platz mehr, die neue Fabrik in Dieppe war noch nicht fertig, aber man darf annehmen, dass Rédélé, sein Chefkonstrukteur Richard Bouleau, Techniker Roger Prieur, Chefmechaniker Bernard Dudot, Aerodynamiker Marcel Hubert sowie die Stylisten Michel Beligond und Yves Legal nicht nur trockenes Baguette zu sich nahmen, während draussen die Studenten tobten. Die Idee des Alpine-Gründers war ganz einfach: Obwohl die A110 seit Beginn der 1960er-Jahre eigentlich nicht mehr weiterentwickelt worden war, wollte er keinen Nachfolger, sondern eine Ergänzung des Modellprogramms nach oben. Dabei hatte Rédélé den Porsche 911 mit seiner 2+2-Konfiguration im Auge, er wollte auch mehr Komfort – und er wollte einen stärkeren Motor (er wusste ja um den Gordini-V8). Fast drei Jahre dauerte der Entwicklungsprozess in der Küche, das Resultat bestand aus einem Vierzylinder mit zwei Mulden als untauglichen Rücksitzen – und der zusätzliche Komfort war auch nur relativ. Der Prototyp wurde im März 1971 auf dem Genfer Salon vorgestellt.
Weitere Entwicklung
Eine komplette Neuentwicklung war die A310 nicht. Als tragendes Element wurde der bekannte Zentralrohrrahmen der A110 übernommen, der Radstand entsprach der 2+2-sitzigen A110 GT4. Weil der PRV-Sechszylinder, eine gemeinsame Entwicklung von Peugeot, Renault und Volvo, noch nicht serienreif war, musste man auf die Maschine aus dem Renault 16 TS zurückgreifen, die Technik für den Heckantrieb entsprach weitgehend jener der Renault 8 und 10. Es gab rundum Einzelradaufhängungen mit Schraubenfedern, Querlenkern (hinten doppelt) und Stabilisatoren, das Reserverad, der Tank und der Wasserkühler wurden für eine bessere Gewichtsverteilung vorne untergebracht. Der Kofferraum ging bei den Planungen in der Küche vergessen, aber man konnte ja die Sitzmulden, auf denen ausser beinamputierten Eichhörnchen niemand sitzen konnte, zur Unterbringung des Gepäcks nutzen. Erfahrene Alpine-Piloten hatten immer einige Handtücher dabei, denn so ganz dicht war das Fahrzeug nie. Vor allem die sechs Frontlampen – eine spezielle Entwicklung von Cibié – unter der Glashaube standen oft im Sumpf.
Ach, das Design. Offiziell wird es dem Engländer Trevor Fiore zugeschrieben, der damals als freier Mitarbeiter der Carrozzeria Fissore wirkte. Es geht das Gerücht um, dass Peter Monteverdi, ein guter Kunde von Fissore, bei einem Besuch in Savigliano die Entwürfe für die A310 sah und seinen Hai 450 (aus dem Gedächtnis?) sehr ähnlich gestaltete. Ob das nun stimmt oder halt doch nicht, eine gewisse Ähnlichkeit ist nicht zu bestreiten. Bloss dass die Alpine es halt in die (erfolgreiche)Serienproduktion schaffte – und sich um den Hai mehr Mythen als Wahrheiten ranken. Die endgültige Form erhielt die A310 allerdings sicher bei Alpine selber, auch wenn man sich ebenfalls Details bei anderen Herstellern abschaute. Etwa die schon erwähnten Lampen hinter der Glasscheibe, die man auch vom Citroën SM kannte. Oder die Heckjalousien, die man ja auch vom Lamborghini Miura kennt. Interessant ist, dass die Kunststoffkarosse von Hand laminiert wurde – und die Türen auch von Hand aus der Karosse gefräst wurden, was zur Folge hatte, dass kaum zwei Türen die gleichen Masse hatten. Was gerade bei der Ersatzteilbeschaffung ziemlich problematisch werden kann. Dafür kann man sich sonst bestens aus den Renault-Regalen bedienen, was den Unterhalt wieder deutlich vergünstigt.
Aller Anfang ist schwer
Nach der Vorstellung des Fahrzeugs im März 1971 in Genf begann schon im Sommer die Produktion. Es wurden im ersten Jahr aber nur gerade 301 Stück hergestellt, 1972 waren es 402, 1973 wurde der Höhepunkt erreicht mit 658 Exemplaren, danach ging es bereits wieder bergab. Bis Ende 1976 entstanden gerade einmal 2340 A310 mit dem Vierzylindermotor.
Doch daran war Alpine auch selber schuld. Denn zu Beginn der 1970er Jahre begann die Rallyekarriere der schon 1962 vorgestellten A110 erst so richtig, Europameister wurde man, Weltmeister wurde man, die Monte gewann man gleich doppelt mit einem Dreifachsieg. Noch bis 1977 wurde die A110 produziert und stand der nicht stärkeren, aber dafür schwereren und auch noch teureren A310 vor der Sonne. Überhaupt, der Preis: 1975 kostete eine A310 (mit offiziell 125 PS) in der Schweiz stolze 37 000 Franken. Die A110S mit 138 PS war dagegen schon für 28 300 Franken zu haben, die Rennversion mit 178 PS für 41 000 Franken. Noch ein paar weitere Fahrzeuge zum Vergleich: Alfa Romeo Montreal 39 500 Franken, BMW 3.0 CS 37 600 Franken, Dino 2400 38 250 Franken, Ford Capri 2600 RS 21 590 Franken, Jaguar XJ6 4.2 34 900 Franken, Porsche 911 T 33 700 Franken. Man kann also durchaus verstehen, dass die Nachfrage nach dem zwar sehr hübschen, aber doch sehr forsch eingepreisten Franzosen relativ gering blieb. Gerade an den Porsche 911, mit dem man sich so gerne gemessen hätte, kam die Alpine A310 beim besten Willen nicht heran – auch bei den Fahrleistungen nicht. Das wusste man in Dieppe zwar auch, doch den Franzosen waren und blieben die Hände gebunden, denn die Entwicklung des ersehnten PRV-Sechszylinders (der eigentlich ein Achtzylinder hätte werden sollen) wurde erst 1975 abgeschlossen. Und es brauchte dann noch ziemlich viele Anpassungen, bis diese leider zu Beginn ihrer langen Karriere (Renault baute den PRV bis 1998) doch eher unrund laufende Maschine in die kleine Alpine passte. So musste unter anderem eine völlig neue Motoraufhängung konstruiert werden.
Die erste Version des A310-Antriebs stammte ursprünglich aus dem Renault 16 TS. Der 1.6-Liter-Vierzylinder wurde aber bei Alpine sanft aufgebohrt (Bohrung 78 statt 77 mm), was einen Hubraum von 1605 Kubikzentimeter ergab (statt 1565 cm3). Damals wurde die Leistung noch in SAE-PS angegeben, die 140 SAE-PS sahen auch deutlich besser aus als die 115 Pferdchen, die es in Wirklichkeit waren. Andererseits lag das Leergewicht bei nur gerade 825 Kilogramm. Und heute wirkt der Wagen mit seiner Aussenlänge von 4.18 Metern, der Breite von 1.64 Metern und der Höhe von 1.15 Metern geradezu zierlich. Dass die AUTOMOBIL REVUE bei der ersten Beschreibung des Fahrzeugs in der Ausgabe 10/1971 von einem Verbrauch von 12 bis 15 Liter/100 km ausging, darf man als etwas gar pessimistisch bezeichen. (Es hiess in jenem ersten Bericht aber auch: «(…) doch frägt man sich, ob dieses Fahrzeug nicht einmal mit einem Sechszylinder von über zwei Litern Hubraum ausgestattet werden könnte.» 1973 lieferte Alpine aber zuerst einmal die A310 SI mit der elektronischen Einspritzanlage aus dem Renault 17 nach, was die Leistung auf (echte) 125 PS brachte. Um dann nach der Ölkrise auch noch eine Schwachstromversion anzubieten, die A310 SX mit nur noch 95 Pferdchen.
«Soignierter Finish»
Gilbert Jenny, der den ersten A310-Text in der AUTOMOBIL REVUE verfasste, setzte obigen und schönen Zwischentitel über die Beschreibung des Innenraums. Und schrieb dann weiter: «Das Luxusinterieur ist in einer besonders gepflegten Art ausgearbeitet, ebenso hat man es mit einer reichen wie rationell disponierten Ausstattung versehen.» Er erwähnt die «anatomisch gut geformten Vordersitze», den knappen Raum hinten und auch nach oben, lobt aber dann die Innenraumgestaltung: «Am Steuer der A310 fühlt man sich in jeder Beziehung wohl, denn die Bedienungshebel liegen immer genau dort, wo man sie wünscht. Die Sicht nach vorne und nach den Seiten ist ausgezeichnet, hingegen muss man sich mit einer limitierten Sicht nach hinten begnügen.» Was definitiv an den Jalousien lag, die in Frankreich sogar verboten und durch eine Glasscheibe ersetzt wurden. Der Schuppengrill war aber bei den Alpine-Händlern weiterhin erhältlich, und nur wenige Exemplare wurden nicht nachträglich wieder mit diesem Stilmittel nachgerüstet. Überhaupt waren die Franzosen kleinlich: Der Prototyp verfügte noch über oberhalb der Stossstange angebrachte Rücklichter. Für die Serie mussten diese nach unten wandern, was das Heck etwas unförmiger erscheinen liess. Der Blick konnte aber auch mit einem anständigen Endrohr etwas ab- und umgelenkt werden, ein Mittel, das auch viele Alpine-Piloten gerne in Anspruch nahmen, zumal der Renault-16-TS-Motor ja auch nicht gerade berühmt war für eine herzerwärmende Geräuschentwicklung.
Die grösste Stärke der kleinen Französin lag aber sicher im Fahrbertrieb. Zwar lagen 60 Prozent des Gewichts auf der Hinterachse, die deshalb auch relativ nervös reagieren konnte. Weil aber nicht wirklich brachiale Kräfte auf sie einwirkten, war die Gefahr, dass das Heck allzu heftig nach vorne drängte, einigermassen kalkulierbar, da waren die 911er zu jener Zeit deutlich giftiger, schwerer beherrschbar Es ist sogar so, dass die Alpine A310 unter Kennern als ausgesprochen gut ausbalanciert gilt, zumindest, wenn das Fahrwerk richtig abgestimmt ist. Eine erfolgreiche sportliche Karriere hatte die A310 trotzdem nicht wirklich, zu sehr und zu lange setzten die Franzosen auf die A110. Und als endlich der Sechszylinder zur Verfügung stand, das Werk ebenfalls umstellte und den im Renntrimm auf etwa 270 PS erstarkten V6 einsetzte, konnte man in den Jahren 1976/77 noch einige schöne Erfolge feiern. Aber 1978 übernahm Renault endgültig das Ruder bei Alpine, der bisherige Président Directeur General Jean Rédélé legt sein Amt nieder, verkaufte auch noch seine letzten Anteile – und die interne Kurzsichtigkeit im Staatskonzern verunmöglichte eine durchaus mögliche, vielleicht auch glorreiche Karriere der Alpine A310.
Der Siegeszug der Sechszylinder
Noch 1975 hatte Alpine mit zwei Prototypen intensiv den Einsatz des Sechszylinders in der A310 getestet. Schon Anfang 1976 kamen dann die ersten Exemplare der A310 V6 auf den Markt, zu erkennen an den nur noch vier Frontscheinwerfern, einem kleinen Spoilerchen hinten und geschlossenen Luftauslässen in den Kotflügeln. Zwar war die Höchstleistung des 2.7-Liter-PRV-V6 mit 150 PS auch nicht wirklich überragend, doch dank des guten Drehmoments war das neue Modell trotz Mehrgewicht flotter zu bewegen. Das wusste das Publikum auch zu goutieren, zwischen 1976 und 1985 wurden doch stolze 9276 Exemplare der A310 V6 verkauft – womit sie sogar die ewige A110 übertreffen konnte. Das war auch deshalb möglich, weil ab Werk teilweise unsägliche Umbauten angeboten wurden, die aber anscheinend den Publikumsgeschmack traffen.
Von der Vierzylinderversion der Alpine A310 haben erstaunlich wenige Fahrzeuge überlebt. Heute sind sie wieder gesucht, doch etwa vier Jahrzehnte lang krähte kein gallischer Hahn mehr nach diesem Modell. Schade eigentlich, denn in ihrer schlanksten, noch schön filigranen Form ist die Französin sicher am hübschesten. Und dass ihr nicht nur blaue Kleider passen, das sieht man beim Betrachten des hier vorgestellten Exemplars ja bestens.