Wenn es einen prestigeträchtigen Hersteller mit bewegter Geschichte gibt, dann ist es Maserati. Trotz zahlreicher Siege auf allen Rennstrecken der Welt wechselte das 1914 gegründete Unternehmen mehrfach den Besitzer. So war es 1968 Citroën, der Maserati übernahm, 1975 De Tomaso, 1989 die Fiat-Gruppe, 1997 Ferrari und 2005 erneut Fiat (heute FCA). Das Problem aber bleibt, dass Ferrari immer das Kronjuwel innerhalb des Fiat-Konzerns war – und Maserati dazu verurteilt ist, im Schatten des berühmten Nachbarn in der Nähe von Modena zu leben. Und sich mit einigen ausgewählten Antrieben begnügen muss, ohne jedoch die neuesten Errungenschaften oder gar spezifische Entwicklungen vorweisen zu können.
Heute verspürt man den Emanzipationsdrang in Modena, am Sitz von Maserati. Als Kehrtwende für die sehr enttäuschenden Ergebnisse der Marke (26 000 verkaufte Einheiten im Jahr 2019) kündigte der Dreizack 2019 Investitionen in Höhe von fünf Milliarden Euro in die Modernisierung der italienischen Werke und die Entwicklung neuer Produkte an. Der erste Spross dieser Renaissance liess nicht lange auf sich warten, er verkörpert die neuen Ambitionen der Marke. Sein Name: MC20. MC20 steht für Maserati Corse 2020 und füllt die seit dem Auslaufen des Bora im Jahr 1978, des ersten und einzigen GT mit Mittelmotor von Maserati, bestehende Lücke; dabei lassen wir den MC12, von dem 2004 lediglich 50 Stück produziert wurden, aussen vor.
Die eigentliche Überraschung des MC20 ist, dass er mit einer Technologie auftrumpft, die selbst die Cousins aus Maranello (noch) nicht bieten. Es beginnt bei einer Aufhängung mit doppelten Dreieckslenkern vorne und hinten und einem Monocoque aus Karbon (von Dallara und TTA Adler), wo Ferrari immer noch der Aluminiumkarosserie treu bleibt. Kohlenstoff bietet heutzutage den besten Kompromiss zwischen Steifigkeit und Masse, sodass Maserati ein Gewicht von 1470 Kilogramm sowie ein Leistungsgewicht von lediglich 2.33 kg/PS angibt. Ein weiterer Grund, der für Karbon spricht, ist laut Maserati dessen Flexibilität für die Konstruktion. «Die Verwendung von Karbon ermöglicht es, zusätzliche Versteifungselemente für einen Spider und ein Elektromodell zu implementieren», erklärt Luigi Sciarretta, der verantwortliche Projektleiter bei Maserati.
Zur Markteinführung wird der Supersportler mit dem Dreizack von einem reinen Verbrenner, einem V6-Biturbo, angetrieben. Es handelt sich um das Nettuno-Aggregat (siehe: hier) mit technischen Neuerungen, die es bei Ferrari noch nicht gibt, wie beispielsweise die Vorkammerzündung, eine Verbrennungstechnologie aus der Formel 1. «Wenn die Verbrennung in der Vorkammer startet, wird das Benzin-Luft-Gemisch besser verwirbelt. Kommt danach die Mischung in der Hauptbrennkammer an, ist die von der zweiten Zündkerze ausgelöste Verbrennung umso effizienter», so Luigi Sciarretta. Der Vorteil dieser Lösung besteht in der Senkung der CO2-Emissionen bei gleichzeitiger Leistungssteigerung: Das Dreiliter-Aggregat leistet 630 PS, was den Literleistungs-Rekord für einen V6 darstellt (210 PS/l). Der Zylinderbankwinkel von 90 Grad ist ebenfalls eine seltene technische Besonderheit. «Dieser Winkel ist die beste Lösung für eine niedrige Bauhöhe des Aggregats und einen tiefen Einbau im Motorraum. Das führt zu einem tiefen Schwerpunkt», erklärt Luigi Sciarretta. «Dadurch erhalten die Designer mehr Freiheit beim Styling des Hecks und der Optimierung der Aerodynamik des Autos.»
Die Designer nahmen diesen zusätzlichen Spielraum natürlich dankend an und entwarfen eine Heckscheibe aus Polykarbonat, deren Lüftungsschlitze eine Anspielung an den Dreizack sind. Selbstverständlich soll der MC20 als echter Maserati alle Blicke auf sich ziehen. Luigi Sciarretta erzählt: «Zu Beginn des Projektes hatten wir uns mit den Abteilungen Motorkonstruktion, Aerodynamik und Design darauf geeinigt, dass das Styling im oberen Bereich des Autos Priorität geniesst. Im unteren Bereich lag der Schwerpunkt auf Technik und Aerodynamik.» Der gesamte Unterboden, von der Spoilerlippe bis zum Diffusor, wurde aerodynamisch ideal verkleidet. Oben am Fahrzeug kommen keine Flügel oder sonstige aerodynamischen Elemente zum Einsatz. «Ein Flügel hätte die Gestalt des MC20 gestört, und aktive aerodynamische Elemente bringen nur zusätzliches Gewicht und Komplexität», so Sciarretta. «Trotzdem erreichen wir hohe Abtriebswerte bei einem gleichzeitig tiefen Luftwiderstandsbeiwert.»
Das Design bietet einige Neuheiten wie die Scheinwerfereinheiten, die anders als bei den bisherigen Modellen nicht mehr waagrecht und flach ausgeführt sind. Das Heck differenziert sich durch waagerechte Rückleuchten, deren Kurven eine Anspielung auf die Bumerangs des 3200 GT sind. Mit Abmessungen von 4.60 × 2.00 × 1.22 Metern (bei 2.70 m Radstand) liegt man in der Klasse des Tipo 61, eines Rennwagens von 1959. Der MC20 attackiert Konkurrenten wie Lamborghini Huracán und McLaren 600LT. Ein Spider ist auch in Vorbereitung, aber besonders gespannt ist man auf die – für 2022 geplante – Elektroversion. Trotz seines Gewichtshandicaps soll sie bessere Fahrleistungen als der Verbrenner bieten: 0 bis 100 km/h in 2.8 Sekunden sowie 0 bis 200 km/h in nur 8.4 Sekunden. Der Elektroantrieb wird auch zum echten Test für die Marke: Maserati wird wissen, ob bei vergleichbaren Modellen die Kunden dem Vollstromer oder dem traditionellen Verbrenner den Vorzug geben. Man sieht, hinter Maseratis Neustart steckt eine langfristige Strategie.