Wir befinden uns in Aubevoye (F), einem friedlichen Örtchen in der Normandie, keine zwei Stunden von Paris entfernt. Am Ende einer Allee, welche einen ausgedehnten Wald mit der Route Nationale verbindet, liegt die Einfahrt zum Centre Technique et d’Essais von Renault. Hier bringt die Rhombus-Marke seit den 80er-Jahren ihre Modelle zur Serienreife, in den vergangenen Jahren auch jene der Allianzpartner und der Partnerfirmen. Das Gelände umfasst nicht weniger als 600 Hektaren, die unter strengster Bewachung stehen, der ehrfurchteinflössenden französischen «Secret Défense». Auf verschiedenen Strecken und Geländen simulieren diverse Tests alle erdenklichen Foltern, denen ein Auto während seines Lebens je ausgesetzt sein könnte. Die Ingenieure von Alpine haben vier Präsentationen für uns vorbereitet, über die wir die Entwicklungsschritte der «Berlinette» nachvollziehen können. Wir werden als Beifahrer mitfahren, aber das Lenkrad auch selbst in die Hand nehmen.
Eine eigene Identität
Man kann getrost die Frage stellen, wie sich Alpine von den direkten Konkurrenten wie Porsche Cayman, Lotus Elise/Exige, Alfa Romeo 4C oder – in geringerem Ausmass – den Zwillingen Toyota GT86/Subaru BRZ abzusetzen gedenkt. Für die Ingenieure war es viel mehr als nur ein Marketing-Argument, den Geist des Original-Alpine wiederzubeleben, oder ihn zumindest einem modernen Wagen einzuhauchen. Das bedeutet, die viel gelobten Eigenschaften wie Handlichkeit, Fahrspass und Komfort des Urahnen beizubehalten, sie aber mit Stabilität, Vielseitigkeit und Bedienungsfreundlichkeit eines modernen Autos auf einen Nenner zu bringen. Das ist natürlich eine mehr als ansehnliche Herausforderung, muss man doch meist Kompromisse beim Fahrspass hinnehmen, will man die Vielseitigkeit betonen, und umgekehrt. Das ist übrigens eines der immer wiederkehrenden Themen unserer Zeitung. Der französische Bolide versteht es denn auch auf seine ganz eigene Art, alle Spitzeneigenschaften seiner Konkurrenten in sich zu vereinen.
Die Lancierung des Alpine A110 ist aber auch für die Produktionsabläufe der Allianz Renault-Nissan bedeutsam. Die fast besessene Ausrichtung auf die Gewichtseinsparung jedes Einzelteils des Wagens, ob für Karosserie, Interieur oder Technik, bringt dem Renault-Konzern neue Kompetenzen, die der gesamten Modellpalette zugute kommen werden. Ein Beispiel betrifft etwa die Bremsen, die in Zusammenarbeit mit Brembo entwickelt wurden; die ECS-Sättel bestehen ganz aus Aluminium und haben auf der Hinterachse erstmals integrierte Parkbremse-Aktuatoren.
Unerreichter Komfort
Das ist zweifellos eines der Geheimnisse des A110. Könnten die hochsportliche Auslegung und die Priorisierung der Fahrleistungen etwa durch die Konstruktion aus Voll-Aluminium, das tiefe Gewicht (fahrbereite 1103 kg für die «Première Edition») und die fast perfekte Gewichtsverteilung (45 % vorne, 55 % hingen) den Verdacht aufkommen lassen, dass man es hier mit einem radikalen Boliden zu tun hat, so überrascht der Alpine durch einen absolut erstaunlichen, ja, fast verblüffenden Fahrkomfort.
Die Techniker wählten Aufhängungen mit doppelten Querlenkern vorn und hinten und setzen rallyeerprobte Stossdämpfer mit hydraulischen Anschlagpuffern ein, die im Clio RS der zweiten Generation debütierten. Diese Entscheide erweisen sich als ausschlaggebend, sind sie doch neben dem Leichtgewicht des Wagens für den Fahrzeugcharakter mitverantwortlich. Das umfasst natürlich den Komfort, aber auch die Masse der Passagierzelle, das Reaktionsvermögen und die Rückmeldung von Aufbaubewegungen über die Lenkung, vor allem bei hohen Geschwindigkeiten. Im Fahrbetrieb bringt die Abstimmung ein souveränes Ausfiltern aller Fahrbahnunebenheiten. Selbst in abgehobenen Tempobereichen wirken sich Spurrillen und Querfugen in keiner Weise auf die satte Strassenlage des Boliden aus; die Räder behalten in jeder Situation sicheren Bodenkontakt. Die Insassen könnten sich auf dem sprichwörtlich fliegenden Teppich wähnen, denn sie erleben nie ein Durchschlagen der Aufhängung auf den Anschlag. Dabei verfügen die Stossdämpfer nicht einmal über eine elektronische Steuerung, die wegen des strengen Gewichtregimes entfiel.
Die unteren Querlenker stützen sich zudem über exzentrische Silentblocks am Rahmen ab, was beim Einfedern hilft. Dadurch ergibt sich jederzeit die optimale Kontaktfläche zwischen Pneus und Fahrbahn, mit bester Haftung und gleichmässiger Laufflächenabnutzung.
Drei Modi, drei Gesichter
Wie heute bei Sportautos üblich, bietet der Alpine A110 drei Fahrmodi, welche die Motor- und Getriebesteuerung, das ESP, die Lenkung und das Klangbild der Auspuffanlage variieren. «Normal» ist vorgewählt und macht den A110 zum sportlichen Musterschüler für den Alltagseinsatz. Die Lenkung gibt sich leichtgängig, die Gänge rutschen sanft ein und die zwar sportlichen, aber durchaus diskreten, Lebensäusserungen aus dem Auspuff sorgen selbst unter Last bei niemandem für Unmut. Das sorgfältig abgestimmte ESP greift unmerklich und beinahe sanft ein. Die «Heinzelmännchen» schneiden den Kraftfluss nie brutal ab, und der Wagen bleibt selbst bei groben Fahrmanövern brav in der Spur.
Im «Sport»-Modus ist die Lenkung steifer, der Auspuff nicht mehr so diskret, und die Leistungsentwicklung beim Herunterschalten erfolgt mit Nachdruck. Das Doppelkupplungsgetriebe legt die Gänge energischer ein und das Gaspedal wirkt progressiver. Die Abstimmung des ESP bleibt hingegen gleich. Das ändert sich im «Track»-Modus, wenn es dem Fahrer mehr Spielraum lässt. Es ist immer noch präsent – obwohl natürlich auch ein völliges Ausschalten möglich ist –, lässt aber für den Fun je nach Tempo auch deutliches Übersteuern zu.
Welchen Modus man auch einstellt, das Fahrwerk zeigt sich immer von seiner besten Seite. Das Einlenken erfolgt spontan und sorgt für eine stabile Linie. Im Kurvenscheitelpunkt folgt der Bug der eingeschlagenen Richtung, wie an der Schnur gezogen. Dank dem Leichtgewicht des A110 und der nicht überbordenden Motorleistung erübrigt sich ein mechanisches Sperrdifferenzial; es wäre ausserdem der Untersteuerneigung förderlich, bevor es die Drehmomentverteilung zwischen den hinteren Rädern regeln könnte. Das Ausbrechen des Hecks erfolgt bei geringster Karosserieneigung sehr progressiv, sodass es vom Fahrer leicht eingefangen werden kann (die Lenkung erfordert nur zwei Umdrehungen von Anschlag zu Anschlag). Dank der vom Rennsport abgeleiteten Aerodynamik (flacher Unterboden und Diffusor mit Leitflügeln) liegt der Alpine bei hohen Tempi wie das sprichwörtliche Brett. Davon konnten wir uns bei ruppigen Spurwechselmanövern bei fast 200 km/h überzeugen: Das Auto folgte den Lenkradbefehlen ohne jede Macken.
Legitime Wiedergeburt?
Als Renault 2012 das Comeback von Alpine ankündigte und dieses 2015 mit dem Concept Car Alpine Célébration bestätigte, war ich höchst skeptisch. Alles schien a priori auf unternehmerisches Kalkül hinzudeuten. Jetzt muss ich aber gestehen, dass es Renault Sport und seinen Technikern gelungen ist, dem Wagen das gewisse Mehr an Leidenschaft und viele Alpine-Gene einzuverleiben, sodass sich die Technik und die Sportlichkeit zu einem ganz eigenen Mix mit viel Charakter vereinen. Diese Aussage nach den ersten Fahreindrücken muss aber natürlich noch bei ausführlichen Probefahrten im Herbst bestätigt werden.