Gute Musik braucht Raum. Wenn man ganz hinten rechts sitzt im Kia EV9, kann man sich gut in einen für eine dritte Reihe sehr bequemen Stuhl einkuscheln – und hat dann reichlich Raum vor sich. «Kind of Blue» von Miles Davis, aufgenommen im Frühling 1959 im CBS 30th Street Studio, einer ehemaligen Kirche, erhält im Koreaner genau den Raum, den dieses Album nun einmal braucht. Kia hat sich die Mühe gemacht, den gewaltigen Innenraum auch entsprechend beschallen zu lassen und im EV9 ein Meridian-Premium-Sound-System installiert. So hört man die wunderbare Räumlichkeit und Klarheit dieses wunderbaren Albums, produziert von Fred Plaut, der für die damalige Zeit einen absoluten Durchbruch in der Aufnahmetechnik schaffte.
Das wahre Raumschiff
Dass man sich nach ganz hinten rechts setzt und in der First Edition des Kia EV9 «Kind of Blue» hört, ist nicht wirklich abwegig. Er steht da als blaue Wand, 5.01 Meter lang, gut zwei Meter breit, doch 1.76 Meter hoch, 3.10 Meter Radstand. Ein wahrlich mächtiges Trumm, man denkt automatisch an einen sehr aussergewöhnlich gestalteten Lieferwagen. Was er irgendwie auch ist, er bietet in optimaler Konfiguration bis zu 2400 Liter Ladevolumen. Oder fünf bis sieben auch grossgewachsenen Erwachsenen Platz. Am feinsten sind selbstverständlich die sechs Einzelsitze.
Es ist buchstäblich grossartig, wie Kia im EV9 die Vorteile der E-GMP-Plattform nutzt, wohl noch nie wurde so konsequent auf ein Raumschiff hingearbeitet. Natürlich ist das auch der schieren Grösse (und Höhe) geschuldet, aber die Platzverhältnisse sind wirklich beeindruckend. Die Fauteuils der zweiten Reihe lassen sich drehen, man kann sich tatsächlich vorstellen, den Kia als Sitzungszimmer zu nutzen. Oder für einen gepflegten Jass-Abend. Für dieses gute Raumgefühl ist wichtig, dass nicht nur die Beine kaum eingeschränkt werden, sondern auch wirklich reichlich Kopffreiheit vorhanden ist.
Gesunder Menschenverstand
In diesem Wohnzimmer wirkt das Armaturenbrett fast schon filigran. Zwar ziehen sich die Displays bis über die Mittelkonsole hinaus, weil sie aber vertikal angelegt sind, dominieren sie das Geschehen nicht. Und es sind sogar noch ein paar physische Schalter und Knöpfe vorhanden, die Bedienung ist ein Kinderspiel. Und genau dieses Simple, Klare bringt den Kia EV9 in Sachen Ergonomie ganz weit nach vorne.
Bei der Materialauswahl im Innenraum will Kia besonders auf Nachhaltigkeit geachtet haben und nutzt unter anderem Kunststoff aus rezyklierten PET-Flaschen. Das fühlt sich alles gut an, hochwertig – ob das in fünf Jahren auch noch so sein wird, das wird sich zeigen.
Nochmals: Das Bediensystem gehört zum Besten, was wir kennen. Klar sind die Feineinstellungen auch tief unten in den einzelnen Menüs versteckt, doch alles, was man wirklich braucht, findet man auf Anhieb. Sicher gibt es (chinesische) Konkurrenten, die verspielter sind (oder heisst das heute zeitgeistiger?), ein Zeekr kann wiehern, und eine Ora Funky Cat verfügt über Massagefunktionen, die man durchaus auch als übergriffig bezeichnen könnte. Das alles braucht der Kia nicht, er folgt dem gesunden Menschenverstand, koppelt das Smartphone in Rekordzeit, verzichtet auf Gimmicks, die man genau einmal lustig findet – und dann nie wieder benutzt.
Die blaue Wand
War der Kia EV6, Car of the Year 2022, noch einigermassen konservativ gestaltet, haben die Koreaner unterdessen das Design für ihre reinen E-Fahrzeuge komplett auf den Kopf gestellt. Der EV9 ist das erste Modell in dieser doch sehr auffälligen Optik, auch der kleinere EV5 wurde in sehr ähnlichem Stil schon vorgestellt. Und genau so wird es weitergehen, EV3 und EV4 wurden soeben erst gezeigt und setzen diese neue, martialische Linie konsequent fort. Damit geht Kia zwar ein gewisses Wagnis ein, doch wenn man die Reaktionen der Fussgänger und der anderen Autofahrer auf den EV9 als Massstab nehmen will, dann dürfte sich das lohnen: Unberührt lässt die blaue Wand kaum jemanden.
Vorerst gibt es den Kia EV9 in zwei Leistungsstufen, als Hecktriebler mit 150 kW (204 PS) und 350 Nm maximalem Drehmoment oder als Allradler mit 283 kW (385 PS) und 700 Nm. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen weitere Varianten dazukommen, man darf auch mit den 430 kW (585 PS) rechnen, die der EV6 schon bietet. Den Strom zieht der auf einer 800-Volt-Achitektur stehende EV9 aus einer Batterie mit 99.8 kWh Kapazität, die mit maximal 240 kW schnellgeladen werden kann. Als Verbrauch nach WLTP geben die Koreaner für den von uns gefahrenen GT-Line 22.8 kWh/100 km an – was wir bei unserer ersten Ausfahrt locker unterboten. Die genannte Reichweite von 505 Kilometern dürfte durchaus machbar sein, auch wenn 2.7 Tonnen Leergewicht zu bewegen sind.
Das mächtige Fahrzeug bewegt sich ganz anständig, zumindest in der stärkeren Variante. Längsdynamisch traut man dem EV9 zu, dass er es in den 5.3 Sekunden von 0 auf 100 km/h schafft, die vom Werk angegeben werden. Ob er wirklich auf 200 km/h Höchstgeschwindigkeit kommt, haben wir nicht ausprobiert. Aber der Stromer geht auf jeden Fall souverän und flott geradeaus. Und das in schon fast beängstigender Ruhe.
Kein Schnäppchen
Auch wenn Kia es so nicht ausdrückt, heisst das Ziel Premium, und diesem Anspruch kommt man mit dem fast lautlosen, rein elektrischen Antrieb einfacher näher. Andererseits kostet der EV9 in der Schweiz ab 75 950 Franken, für den GT-Line sind dann schon 83 950 Franken fällig. Noch nie war ein Kia teurer, nicht einmal der deutlich potentere EV6 GT kostet mehr. Ein Schnäppchen ist der Stromer nicht, doch für viel Geld gibt es auch wirklich viel Auto.
Das sich allerdings auch so fährt, also wie: viel Auto. Der Fahrkomfort ist auf sehr hohem Niveau, der EV9 rollt prächtig und ruhig, ist ausgesprochen bequem. Agil kann er aufgrund seiner Aussenmasse und seines Gewichts gar nicht sein, auch neigt der hohe Aufbau zu nicht sehr erfreulichen Wankbewegungen, wenn man die Kurve etwas sportlicher angeht. Die Lenkung ist wie die Bremse etwas diffus. Schade eigentlich, denn mit dem EV6 GT zeigen die Koreaner ja, dass es auch anders geht. Selbstverständlich will nun niemand das Schlachtross um die Nordschleife prügeln, aber in der Schweiz steht dann und wann eine Passstrasse im Weg, dort wird man sich mit dem EV9 nicht ausgesprochen wohlfühlen. Im Parkhaus übrigens auch nicht, obwohl es allerorten piept und pfeift. Wenigstens sorgt die hohe Sitzposition für eine gute Übersicht.
Sehr ambitioniert
Überhaupt ist dieses Gepiepe ziemlich unerträglich. Dauernd greifen irgendwelche Assistenzsysteme ein, und das ziemlich dominant. Der Spurhalteassistent ist von der üblen Sorte, der Tempomat ausgesprochen defensiv, der Aufmerksamkeitwarner extrem aufmerksam, und leider verlangsamt der Kia auch vor Kurven, wenn er das Gefühl hat, man sei zu flott unterwegs. Das ist vollkommen unnötig, Besserwisser gibt es schon mehr als genug. All das kann man zwar irgendwo im siebten Untermenü auch ausschalten, doch man macht das nach jedem Neustart von Neuem. Was auch nervt, immer wieder. Dieses doch etwas übertriebene Sicherheitsdenken sollten die Koreaner vielleicht noch einmal überdenken, man fühlt sich als EV9-Pilot etwas gar intensiv bevormundet.
Es ist sehr ambitioniert von Kia, mit dem EV9 ein solches Brett in den Konkurrenzkampf zu werfen. Sicher gehört das beengte Mitteleuropa nicht zu den primären Zielen für den Verkauf dieses riesigen Brockens, China und auch die USA stehen wohl stärker im Fokus. Doch die Koreaner haben längst genügend Selbstbewusstsein, um sich auch den deutschen Premiummarken zu stellen, hin und wieder fällt auch der Name Range Rover. Die Stromtechnik von Kia ist auf aktuell höchstem Niveau, in Sachen Bedienerfreundlichkeit müssen sich die Koreaner schon länger nicht mehr verstecken – und jetzt werden sie auch beim Design, sowohl aussen wie auch innen, noch einmal mutiger und geben ein kräftiges Statement ab. Derzeit steht der Kia EV9 noch absolut konkurrenzlos da.