Jemand steht fast immer vor der Tür, sei es nun der Pöstler, die Nachbarin oder Weihnachten. Bei Polestar sind es nach dem 1 und 2 der 3, 4, 5 und der 6. Der 4 ist ein bisschen wie der 2, einfach ohne Heckscheibe, er soll schon nächstes Jahr vor die Türen der Händler fahren. Und auch deshalb verwundert es, dass der 2 nochmals eine komplette Überarbeitung erhielt. Denn «komplett» darf man durchaus wörtlich nehmen: Unter dem Blech ist nichts mehr wie früher, die Chinesen haben ihre SPA-Plattform gedreht. In der Basisversion werden jetzt anstatt der vorderen die hinteren Räder angetrieben.
Deutlich geringerer Verbrauch
Der Unterschied ist frappant. Rupfte der bisherige Fronttriebler schon einigermassen stark an der Lenkung und drehte bei zu flottem Start auch schnell einmal durch, bringt der Hecktriebler seine Kraft nun ohne Lenkeinflüsse gut auf den Boden. Es ist sogar so, dass man sich fast ein bisschen fühlt wie in einem älteren 3er-BMW: Bei etwas übermotiviertem Fahrpedaleinsatz geht der 2er bald einmal quer und macht so richtig Spass. Weil sich der Strom ja wunderbar feinfühlig dosieren lässt, kann man im Polestar problemfrei driften. Wir empfehlen den Versuch zu erstaunlicher Fahrfreude selbstverständlich nur auf abgesperrten Strecken, auch wenn wir uns selber nicht immer daran halten.
Fahrspass ist nun allerdings relativ, ein ganz subjektives Vergnügen – und wohl nur wenige Besitzerinnen werden je das Potenzial der 272, 299, 421 oder 476 PS ausreizen, die je nach Modell des rein elektrisch angetriebenen Fahrzeugs zur Verfügung stehen. Messbar dagegen ist der Verbrauch, und da ist ein Wunder passiert. Gehörten die Polestar bislang nicht gerade zu den Sparfüchsen, auch bei sehr moderatem Umgang mit dem Fahrpedal gingen schnell einmal 25 kWh/100 km von dannen, so ist das nun anders. Der Hersteller nennt je nach Motorisierung einen Verbrauch zwischen 14.8 und 16 kWh/100 km nach WLTP. Wir brachten es bei unserer ausgiebigen Testfahrt mit dem schwächsten Modell (200 kW/272 PS, Heckantrieb) tatsächlich auf 16.5 kWh/100 km, obwohl die Fahrfreude definitiv nicht zu kurz kam. Bewegt man das im chinesischen Luqiao gefertigte Fahrzeug zurückhaltend, scheinen auch 15 kWh/100 km möglich zu sein. Ja, das ist ein guter Wert.
Sinnvolle Reichweite
Auch bei der Ladegeschwindigkeit ist viel passiert beim umgedrehten Polestar. Zwar schafft die schwächste Variante, die auch nur über einen 69-kWh-Akku verfügt, nur 135 kW als Maximum, doch das ist deutlich besser als vorher. Die stärkeren Versionen sind mit einer 82-kWh-Batterie ausgerüstet und ziehen maximal 205 kW am Schnelllader. Damit gehören sie zum vorderen Mittelfeld, in ihrer Preisklasse gar zu den Spitzenreitern. Doch entscheidender ist, dass unser Proband das auch auf hohem Niveau durchziehen konnte. Mehr als einmal lud er in gut 25 Minuten von 10 auf 80 Prozent. Ja, auch das ist ein guter Wert.
Zu den Reichweiten: 655 Kilometer soll der Polestar 2 mit grosser Batterie und Heckantrieb gemäss Werksangaben schaffen. Wie das genau gehen soll, ist für uns unersichtlich. Doch 500 Kilometer sind locker möglich, wenn man mutig ist, 400 Kilometer dann, wenn man innerhalb des sinnvollen Bereichs zwischen 10 und 80 Prozent bleibt. Das können die meisten Benziner auch nicht besser, aber klar, Tanken geht schneller. Doch vielleicht ist diese Viertelstunde Innehalten für das Klima nicht komplett falsch, auch mental.
Das Dilemma
Ansonsten war der Polestar 2 ja schon vor der Drehung ein feiner Wagen, optisch weit vorne (auch wenn das sein Designer heute anders sieht), qualitativ ebenso. Polestar ist wieder abgekommen vom Animal-free-Innenraum, weil die Kundinnen das blöd fanden, es gibt wieder echtes Leder. Fast alles wird wie bei Tesla über das grosse Zentraldisplay bedient. Die Reduktion der Bedienelemente auf das ganz Wesentliche ist natürlich Geschmacksache, funktioniert aber bestens, wenn man bereit ist, sich ein wenig damit auseinanderzusetzen. Das haben Polestar, Geely und Google bestens im Griff. Man kann über den Datenhunger des amerikanischen Kraken sicher geteilter Meinung sein, doch wenn die Bedienerführung aber sowas von viel besser ist als bei manchen deutschen Konkurrenten, dann soll man wirklich nicht jammern.
Die Frage ist ein bisschen, ob das reicht. Polestar war wie Volvo früh mit dabei auf der elektrischen Welle, doch die ersten 2er waren halt nicht ganz so gut, wie sie hätten sein können – oder sein müssen. Der Verbrauch war zu hoch, die Ladegeschwindigkeit zu tief, die Reichweite eher karg. Jetzt ist das alles, wie oben beschrieben, wirklich viel besser – doch das Auto sieht halt noch genau gleich aus wie zu jenen nicht so tollen Zeiten. Die blosse Mitteilung, dass man das Grundkonzept umgedreht habe, wird die Erstkunden ziemlich enttäuschen und allfällige Neukäuferinnen nicht einfach so überzeugen. Wie Polestar (und auch Volvo) aus diesem Dilemma herauskommen wollen, wissen die beiden Geely-Töchter bisher wohl selber noch nicht. Es wird wohl Geduld brauchen, die Produkte müssen jetzt einfach überzeugen, dann wird das vielleicht noch etwas. Aber es ist natürlich schon ein bisschen schwierig, wenn man im zarten Alter von sechs Jahren schon einen Neuanfang beginnen muss.
Faires Angebot
Denn geblieben sind ein nicht sehr sportlich ausgelegtes Fahrwerk, eine doch etwas indifferente Lenkung, die Bremse, mit deren Dosierung man sich zumindest zu Beginn schwertun kann – die üblichen Schwächen etwas in die Jahre gekommener E-Fahrzeuge also. Für seine beachtliche Länge von 4.61 Metern bietet das viertürige Coupé einen etwas mageren Kofferraum mit 407 Litern Fassungsvermögen. Klappt man die Rückbank ab, werden auch nicht wirklich berauschende 1097 Liter daraus. Dafür sitzen auch grossgewachsene Personen hinten erfreulich komfortabel.
Mit einem Basispreis von 48 900 Franken gehört der Polestar 2 unterdessen zu den fairen Angeboten unter den Premium-E-Fahrzeugen, das Topmodell (Long-Range-Dual-Motor mit Performance-Paket) kostet 65 400 Franken, hat wirklich alles drin und feiste 350 kW (476 PS) sowie happige 740 Nm maximales Drehmoment. Dazu Allradantrieb, ist in 4.2 Sekunden von 0 auf 100 km/h und 205 km/h schnell. Mit diesem feinen Preis-Leistungs-Verhältnis gehört er in die Top-E-Liga.
Ich bin immer wieder überrascht, dass Polestar nicht als schwedischer Hersteller gesehen wird. Und übrigens die jüngste Automarke auf dem Markt überhaupt. Sprechen sie etwa von der deutschen Swiss? Oder vom arabischen Premium League Club? Na eben! Der Geely Konzern produziert übrigens auf fast allen Kontinente Autos. Wo produziert eigentlich Apple? Zu 100% in… na eben.