Keine Verbesserung bei Tempo 60

Ein Professor forderte kürzlich Tempo 60 auf den Autobahnen – das sei effizienter. Untersuchungen des Bundesamtes für Strassen ­widersprechen dieser Aussage diametral.

Aktuell gilt in der Westschweiz noch mindestens Tempo 80. Geht es nach Vincent Kaufmann sollen es bald nur noch 60 km/h sein – damit weniger Leute Auto fahren.

Eigentlich war Tempo 60 nur eine Idee, die das Bundesamt für Strassen (Astra) zur Behebung von Kapazitätsengpässen auf der Autobahn prüfen wollte. Für den Westschweizer Soziologen Vincent Kaufmann ist es aber die Zukunft der automobilen Mobilität, wie er kürzlich in einem kurzen Interview im «Blick» darlegen durfte. «Wir haben herausgefunden, dass die maximale Kapazität auf einer Autobahn bei 60 km/h erreicht wird», erklärte der Professor der ETH Lausanne. Das erstaunt, schliesslich wusste selbst das Astra zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, ob Tempo 60 auf der Autobahn einen Vorteil für den Verkehrsfluss bringen würde. Auf Nachfrage der AUTOMOBIL REVUE konnte Vincent Kaufmann denn auch keine Belege für seine Aussage liefern, dass Tempo 60 die Kapazität erhöhe. «Diese Frage ist Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten im Ingenieurwesen, und das Optimum hängt vom jeweiligen Fall ab», lautete seine Antwort.

In der Zwischenzeit hat zumindest das Astra seine eigenen Untersuchungsergebnisse zu diesem Thema vorgestellt. Dafür wurden der nationale und internationale Stand der Wissenschaft und Technik recherchiert, die Daten der Verkehrszähler auf den Nationalstrassen analysiert sowie Verkehrssimulationen und rechtliche Abklärungen durchgeführt. Das Resultat widerspricht den Aussagen des Professors nahezu diametral. «Die Auswertungen von Astra-Zählstellen zeigten, dass die Geschwindigkeit für einen optimalen Verkehrsfluss oberhalb von 60­ km/h liegt. Vor allem auf offenen Streckenabschnitten ausserhalb der Agglomera­tionen und mit grösseren Abständen zwischen den Anschlüssen liegt die Geschwindigkeit für einen optimalen Verkehrsdurchfluss bei etwa 80 bis 90 km/h», hält der Bericht fest. Es sei im Normalbetrieb kein klarer Beitrag für die Verbesserung des Verkehrsflusses feststellbar, und die Wirkung auf die Erholung der Verkehrssituation nach der Staubildung sei begrenzt.

Die Resultate dürften Vincent Kaufmann nur am Rande interessieren, denn eigentlich geht es dem Professor auch gar nicht um einen Effizienzgewinn oder eine Kapazitätsvergrösserung. Das tiefere Tempo soll vor allem die Strasse unattraktiv machen. Die rund 60 Kilometer lange Fahrt zwischen Lausanne und Genf würde künftig nicht mehr 45 Minuten dauern, sondern 70 Minuten, rechnet er im «Blick» vor. Und weil das die Pendler störe, würden sie aufs Auto verzichten. «Eine Senkung der zulässigen Geschwindigkeit auf der Autobahn auf 60 km/h würde dazu führen, dass die Menschen im Alltag weniger fahren würden.»

Das Ziel: Weniger Autos auf der Strasse

Mit weniger fahren ist vor allem gemeint: weniger Auto fahren. Die Verschiebung des sogenannten Modalsplits hin zu mehr Zugfahrten ist ein politisches Ziel, das auch in der Verkehrsstrategie des Bundes verankert ist. Wieso das wünschenswert sei, beantwortete Kaufmann gegenüber der AUTO­MOBIL REVUE mit dem wenig überraschenden Argument, dass das ökologischer sei, weil der CO2-Ausstoss pro Personenkilometer mit der Bahn geringer ausfalle als mit dem Auto. Argumente, nach denen die Autobahn für den Personentransport platzsparender und für die Allgemeinheit kostengünstiger ist als die Bahn, zählen unter dem Gesichtspunkt der Klimarettung nichts mehr.

Inwiefern sich das Argument der Klimaveränderung anwenden lässt auf die Frage der Verkehrsüberlastung, darf man sich auch fragen. Sogar wenn man den Klimaschutz zum Ziel hat, dürfte der Kostenfaktor nicht vernachlässigt werden. Im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung gilt es, den kosteneffizientesten Weg zu wählen – nicht für den Nutzer natürlich, sondern für die Allgemeinheit. Denn je weniger Geld in wenig kosteneffiziente Verkehrsmittel fliesst, umso mehr stünde für wirksame Umweltschutzmassnahmen zur Verfügung. Damit aber die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene funktioniert, sind kostspielige Ausbauten nötig wie der kürzlich von SBB-CEO Vincent Ducrot geforderte Tunnel zwischen Aarau und Zürich. Auch in der Westschweiz gebe es noch grosse Lücken, sagt Kaufmann: «Das Schweizer Schienennetz leidet unter erheblichen Instandhaltungslücken, was vor allem in der Westschweiz zu Angebotskürzungen führt. Dies zeigen der Fahrplanentwurf 2025 der SBB und die darin vorgesehenen Streichungen von Verbindungen.» Je mehr Pendler den teuren öffentlichen Verkehr nutzen, umso mehr bezahlt also die Allgemeinheit.

Stärkung der Autobahn

Der Vorschlag von Tempo 60 auf den Autobahnen ist nicht ganz neu. Bereits im vergangenen Sommer wurden die Pläne des Astra für die Prüfung dynamischer Geschwindigkeitslimiten hinunter bis auf 60 km/h ins Spiel gebracht. Der Bund sieht aber aktuell grösseres Potenzial bei den sogenannten Rampendosieranlagen, die die Verkehrsströme an den Autobahneinfahrten regulieren. Bis zu 100 solcher Anlagen werden geprüft, bereits ab 2024 könnten die ersten davon errichtet werden. Bereits heute existieren solche Lichtsignale, die die Autos nur im Tröpfchensystem auf die Nationalstrassen einfahren lassen an verschiedenen Standorten, beispielsweise in Kirchberg BE oder Spreitenbach AG. Auch für einen Ausbau der Autobahn A1 auf mindestens sechs Spuren hat sich der Bundesrat ausgesprochen und Anfang Mai eine Motion von SVP-Nationalrat Erich Hess zur Annahme empfohlen. Kurz zuvor hatte sich auch Verkehrsminister Albert Rösti für die Autobahn stark gemacht und dem SBB-Chef Ducrot und seiner Forderung nach einem Bahntunnel Aarau–Zürich indirekt ­eine Abfuhr erteilt. Priorität habe der Ausbau der A1, um die Konkurrenzfähigkeit des Autos aufrechtzuerhalten, urteilte Rösti.

Am vergangenen Dienstag stimmte der Nationalrat einem Ausbau des Nationalstrassennetzes bis 2027 zu, der punktuelle Verbesserungen bringen soll. Der Abschnitt Lausanne–Genf ist davon aber noch nicht betroffen, dort wird die Erweiterung auf sechs Spuren frühestens 2030 beginnen. Bis dahin fliesst der Verkehr – oder eben nicht – auf vier Spuren mit einer Pannenstreifenumnutzung zu Spitzenzeiten. Es braucht also weiterhin viel Geduld in der Westschweiz. 

Nationalrat für Autobahn-Ausbau

Es war eine langwierige Debatte am vergangenen Dienstag, als der Nationalrat über den Kredit für den Ausbau und den Unterhalt der Autobahnen diskutierte. Trotz der üblichen Angriffe von linker Seite, die am liebsten jeglichen Ausbau des Strassennetzes verhindern möchte, nahm der Nationalrat aber das Geschäft am Ende an. Konkret geht es um einen Betrag von 8.8 Milliarden Franken, der in den Jahren 2024 bis 2027 in den Unterhalt der bestehenden Nationalstrassen fliessen soll. Zusätzliche 5.3 Milliarden Franken sind für den Ausbau vorgesehen und sollen in sechs Grossprojekte fliessen: den Ausbau der A1 auf acht Spuren zwischen Wankdorf BE und Schönbühl BE, sowie auf sechs Spuren zwischen Schönbühl und Kirchberg BE, die dritte Röhre des Rosenbergtunnels in St. Gallen, den Rheintunnel in Basel und die zweite Röhre des Fäsenstaubtunnels in Schaffhausen. In einem weiteren Schritt, aber bereits budgetiert, soll auch die A1 zwischen Nyon VD und Genf auf sechs Spuren erweitert werden. Wie Bundesrat Albert Rösti vor dem Parlament betonte, gehe es nicht darum, die Verkehrsträger gegeneinander auszuspielen – für die Bahn gebe man ebenso Geld aus: «Für den Unterhalt der Bahn  von 2021 bis 2024 wurden 14.4 Milliarden Franken ausgegeben.» Das sei vergleichbar mit den Ausgaben für den Strassenunterhalt. Und auch in den Ausbau des Schienennetzes fliesse ein beträchtlicher Betrag: «Wir haben im letzten Ausbauprogramm 6.4 Milliarden Franken in die Schiene investiert.» Es brauche beide Verkehrsträger, betonte Rösti.

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