Der Gran Turismo ist so etwas wie das Herzstück von Maserati. Seit mehr als 75 Jahren verlassen luxuriöse Coupés unter diesem Namen die Fabriken und tragen damit erheblich zum Umsatz der Marke mit dem Dreizack bei. Seitdem hat die Firma fast nie aufgehört, sie zu produzieren, zuletzt den Gran Turismo von 2007, der 2019 eingestellt wurde. Maserati, das inzwischen zum Stellantis-Konzern gehört, gibt weiterhin Gas. Nach den Modelleinführungen des MC20 im Jahr 2020 und des Grecale im letzten Jahr folgt nun der Nachfolger für den Klassiker Gran Turismo.
Der 2023er-Gran-Turismo wurde im Stellantis- Designstudio Turin von Pininfarina entworfen und orientiert sich streng an der Ästhetik seines Vorgängers. Stilistische Kontinuität ist das eine, die technische Revolution im Antriebsstrang das andere. Denn neben den Varianten mit Verbrennungsmotor wird es auch einen völlig neuen elektrischen Gran Turismo geben. Da beide Antriebsvarianten auf der gleichen Plattform basieren, mussten die Entwickler tief in die Trickkiste greifen. Die Plattform mit mehreren Antrieben wurde «auf einem weissen Blatt Papier» geschaffen, erinnert sich Davide Danesin, der Chefingenieur des Maserati Gran Turismo. Dieses Chassis, das intern als Giorgio Sport bezeichnet wird – nicht zu verwechseln mit der Standard-Giorgio-Plattform, auf der der Grecale und die Alfa Romeo Giulia und Stelvio zusammengebaut werden –, besteht zum grössten Teil aus Aluminium, wodurch das Gewicht der Verbrennerversionen mit Namen Modena und Trofeo unter 1800 Kilogramm gehalten werden konnte. Das sind 100 Kilogramm weniger als beim Modell der älteren Generation.
Die Version mit Verbrennungsmotor ersetzt den göttlichen 4.7-Liter-V8-Saugmotor von Ferrari aus dem Vorgängermodell durch den Dreiliter-V6-Biturbo Nettuno, der auch im MC20 zum Einsatz kommt. Während er im MC20 mit Trockensumpfschmierung arbeitet, ist es im Gran Turismo eine Nasssumpfschmierung. Der V6 ist in Längsrichtung positioniert, aber so nah an der Spritzwand, dass Davide Danesin nicht zögert, von einem Front-Mittelmotor zu sprechen, da der Schwerpunkt des Motors zwischen den beiden Achsen liegt. Der Sechszylindermotor kann bei wenig Last eine Zylinderbank deaktivieren, um den Verbrauch zu senken. Er ist in zwei Leistungsstufen erhältlich: mit 361 kW (490 PS) für den Modena und 404 kW (550 PS) für den Trofeo. Die Kraft wird über ein Achtgang-Automatikgetriebe mit Drehmomentwandler von ZF auf alle vier Räder übertragen. «Der Allradantrieb wird elektronisch gesteuert. Im Normalfall erfolgt die Kraftverteilung zwischen Hinter- und Vorderachse im Verhältnis 70 zu 30», sagt Danesin. Mit zunehmender Leistung verändert sich das Antriebsmoment Richtung Hinterachse bis zum Verhältnis von 90 zu 10. Wird der Untergrund jedoch rutschig, zum Beispiel auf Schnee, gehen bis zu 50 Prozent der Antriebskraft an die Vorderachse.
Folgore – schnell wie der Blitz
Die elektrische Version hört auf den schönen Namen Folgore – der Blitz. Die Batterie hat 92.5 kWh Kapazität, von denen 83 kWh nutzbar sind. Die Reichweite liegt laut Hersteller bei rund 450 Kilometern. Fürs Reisetempo gut ist die 800-Volt-Architektur, die sehr gute Ladeleistungen garantieren soll. Die Akkus sind nicht wie bei den meisten Elektrofahrzeugen in einer Skateboard-Konfiguration flach angeordnet, sondern als T-Bone vor der Spritzwand, im Mitteltunnel und unter den Rücksitzen. Diese Anordnung hat einige Probleme bereitet, wie Danesin gesteht: «Diese Form ist viel komplexer als eine flache Batterie und vor allem viel teurer.» Das Kühlsystem sei kompliziert zu entwickeln gewesen, so der Ingenieur. Einer der Vorteile dieser Anordnung: Die Batterie ist nicht unter den Vordersitzen angeordnet. Das verschafft dem Fahrer eine hervorragende Sitzposition und dem Auto eine geringe Höhe von nur 1353 Millimetern. Auch bei der Fahrdynamik sammelt das Batterielayout Pluspunkte, wie sich zeigen wird.
Beeindruckende Elektrik
Die Batterie liefert ihren Strom an nicht weniger als drei Elektromaschinen, zwei hinten und eine vorne. Diese Motoren wurden von Magneti Marelli entwickelt, dem italienischen Erstausrüster mit grosser Erfahrung in der Formel E. Jede der Einheiten hat eine Leistung von bis zu 300 kW, was eine theoretische Gesamtleistung von 900 kW ergibt. Allerdings kann die Batterie im Boost-Modus nur 610 kW liefern. Beim Durchlaufen der ZF-Leistungselektronik wird die Leistung standardmässig auf 560 kW reduziert. Das ist zwar deutlich weniger als 900 kW, aber immer noch enorm viel und gibt viel Spielraum beim Verteilen des Drehmoments auf die Räder. Bleibt die Frage, wie das auf der Strasse funktioniert.
Bevor wir diese Frage beantworten, setzen wir uns ans Steuer des Autos. Die Sitzposition ist gut. Da es keine Akkus unter den Sitzen gibt, können auch grosse Menschen problemlos Platz nehmen. Das Armaturenbrett vor dem Fahrer ist mit einem schönen Lederbezug versehen und trägt einen Doppelbildschirm, der vom Grecale übernommen wurde. Die beiden Monitore – 12.3 Zoll oben für das Infotainment und 8.3 Zoll für die Klimaanlage – sind angenehm und intuitiv zu bedienen. Das digitale Kombiinstrument wurde gut durchdacht, da es sich an die Lenksäule anpasst und diese auf beiden Seiten umschliesst. Die Rücksitze sind auch bei längeren Fahrten gut nutzbar, was bei 2+2-Sitzer-Coupés selten genug ist, um hervorgehoben zu werden. Der Kofferraum bietet ein halbwegs reisetaugliches Volumen. Die Version mit Verbrennungsmotor fasst 330 Liter Gepäck, die elektrische Version 270 Liter.
Insgesamt ist der Innenraum gut durchdacht. Unglücklich sind einige Detaillösungen wie das Verbindungsteil zwischen Mitteltunnel und Armaturenbrett. Es ist aus Kunststoff und bewegt sich zu stark. Die Hochtöner von Sonus Faber, die über der Tür angebracht sind, versprühen den Charme von Plastik. Das ist zwar nur ein Detail, aber der Fahrer hat es ständig vor der Nase. Die Schaltknöpfe sind zwischen den beiden Bildschirmen versteckt. Ein weiterer störender Punkt ist die Digitaluhr, die über dem Armaturenbrett thront: Ein echtes Zifferblatt mit Zeigern hätte dem Ganzen noch mehr Glanz verliehen.
Erste Station bei den Testfahrten: die Verbrennerversion des Gran Turismo. Beim V6 Nettuno hört man vor allem das Pfeifen der Turbos und das Wastegate, obwohl es einen aktiven Auspuff und ein Akustiksystem gibt, das das Audiosystem des Innenraums nutzt. Kurz gesagt, der Sound hat nichts mit der Partitur zu tun, die der alte V8-Saugmotor spielte. Der Schub des Sechszylinders ist dennoch beeindruckend (0–100 km/h in 3.5 s), und das Automatikgetriebe schaltet mit beeindruckender Geschwindigkeit. Im Komfort- Modus ist es sanfter als das Doppelkupplungsgetriebe des MC20, und im Sport- oder Corsa-Modus ruckelt es nicht so stark. Ansonsten ist die Traktion ausgezeichnet, die Lenkung präzise und das Fahrwerk gut gefedert.
Mit dem Folgore auf die Rennstrecke
Während die Testfahrt mit dem Verbrennermodell auf der Strasse stattfand, liess Maserati seinen Elektrowagen auf der Rennstrecke testen. Kurz gesagt: Der Folgore überzeugt dabei durch seine Fahrleistungen (0–100 km/h in 2.7 s). Aber nicht nur bei der Beschleunigung besticht der Maserati, seine drei Motoren ermöglichen ihm auch ein wohldosiertes Torque-Vectoring. «Wir können sehr genau entscheiden, wohin wir die 560 kW Leistung schicken», sagt Danesin. Wenn der Bordcomputer erkennt, dass das rechte Hinterrad Probleme hat, kann er daher in Millisekunden entscheiden, 300 kW Leistung an der Vorderachse und 300 kW am Motor hinten links anzulegen. Ausserdem werden durch die zentrale Position der Batterie die Wankbewegungen enorm eingeschränkt. Zwar macht sich das Gewicht in Kurven und beim Bremsen bemerkbar, aber das Auto ist immer noch sehr angenehm zu fahren, vor allem, wenn man es nicht zu hart und abrupt bewegt, was gut zum GT-Temperament des Fahrzeugs passt.
Ob mit Elektro- oder Verbrennungsmotor – beide Varianten des Maserati lohnen sich. Der Gran Turismo hat keine wirklichen Schwächen, ausser vielleicht der verbesserungswürdigen Verarbeitung des Innenraums. Dies gilt es anzumerken angesichts der Preisregionen, in denen sich der Maserati Gran Turismo bewegt.