Der Höhenflug von Alpine geht weiter: 3546 Fahrzeuge verliessen 2022 die Hallen, ein Zuwachs von über einem Drittel gegenüber den 2659 Stück im Jahr zuvor. So beschloss man, die Karriere der A110 noch bis 2026 zu verlängern – zwei Jahre länger als geplant – und ihm mit der A110 R auch noch eine zusätzliche Variante zu spendieren.
Die Pressemitteilung zur A110 R, die mit Begriffen wie «extrem» und «radikal» gespickt ist, wird durch das Datenblatt zum Teil widerlegt: Bloss 34 Kilogramm hat die A110 R im Vergleich zur Basisversion abgespeckt, und die Leistung des 1.8-Liter-Turbomotors beträgt 221 kW (300 PS) – gleich viel wie in der A110 S. Philippe Mérimée, Leiter für Chassisentwicklung, verteidigt die Stagnation der Leistungswerte: «Mehr Leistung konnten wir nicht machen, weil das auch wieder höhere CO2-Emissionen bedeutet hätte.» In Frankreich leben Sportwagen seit Neustem unter einem ökologischen Damoklesschwert der CO2-Busse, die bis zu 50 000 Euro (!) betragen kann. Bei der Alpine A110 R mit ihren 156 g CO2/km beträgt die Busse aktuell immer noch 2370 Euro.
Der Fiskus ist aber nur die halbe Erklärung. «Wenn wir die Leistung erhöht hätten, hätten wir auch das Getriebe und die Bremsen verstärken müssen, was unter dem Strich 60 Kilogramm mehr Gewicht bedeutet hätte», führt Philippe Mérimée aus. Und sowieso: Wenn die Basis bereits so leicht ist wie die A110 S mit ihren 1110 Kilogramm, bedeutet die Beseitigung jedes Gramms Schweiss für die Ingenieure. Zum Beispiel für Fahrwerksingenieurin Maud Bouvet, die spezielle Karbonfelgen für das Coupé entwickelte, mit denen 12.5 Kilogramm eingespart werden konnten. Zähneknirschend musste sie bei den Querstabilisatoren wieder 1.2 Kilogramm an Masse hinzufügen, da diese für die A110 R einen grösseren Durchmesser benötigten, um die Steifigkeit vorne um zehn und hinten um 25 Prozent zu erhöhen.
Fest gefesselt
Auch im Innenraum wurde nach Kilogrammen gejagt, wobei die Karbonschalensitze eine der offensichtlichsten Massnahmen waren: Fünf Kilogramm konnten hier eingespart werden. Auffällig ist auch das Fehlen eines Innenspiegels – da die Heckscheibe durch eine Karbonabdeckung ersetzt wurde, was weitere vier Kilogramm einbrachte, hätte es aber ohnehin nicht viel zu sehen gegeben. Das Anschnallen dauert länger als üblich, da die A110 R serienmässig Hosenträgergurte anstelle des traditionellen Dreipunktgurts bietet. Es ist besser, den Sitz vorher gut einzustellen, denn einmal festgezurrt, bewegt man sich nicht mehr so schnell. Das ist auch gut so, denn um das ganze Potenzial des Fahrzeugs zu testen, drehen wir einige Runden auf der Rennstrecke von Jarama in der Nähe von Madrid. Die Strecke ist der ideale Spielplatz, um die Agilität des Coupés und sein ebenfalls geschärftes Fahrwerk auf die Probe zu stellen. Die A110 R liegt standardmässig bereits zehn Millimeter näher am Asphalt als die S und kann auf der Rennstrecke noch einmal zehn Millimeter näher zum Boden gebracht werden. Zug- und Druckstufe der Dämpfer lassen sich für jedes Rad einzeln in 20 Stufen einstellen, allerdings muss dazu das Auto etwas angehoben werden.
Das Rezept funktioniert: Die A110 R jagt mit noch mehr Präzision über den kurvenreichen Kurs von Jarama, die Karosseriebewegungen sind noch kleiner geworden. Die kleine Französin behält ihren Alpine-Charakter, also die katzenhafte Geschmeidigkeit, bei jeglichen Lastwechseln. Erstaunlicherweise ist die A110 R auf langen, schnellen Kurven sogar stabiler, bleibt in engen Schikanen aber dank der präzisen Lenkung genauso agil, wie sie es immer war. Alle Bewegungen des Sportwagens sind absehbar, nie überrascht er, sodass sich auch jeder Möchtegern-Rennfahrer sofort mit ihm verbunden und vertraut fühlt. Und selbst wenn man es einmal übertreibt, was unweigerlich passieren wird, lässt er sich mit einem entspannten Gegenlenken wieder einfangen. Auch hier bleibt die A110 R eine rücksichtsvolle Spielgefährtin und geriert sich nicht als Diva, die dem Fahrer bei der kleinsten Verfehlung den Kopf abreisst. Die serienmässigen Michelin-Pilot-Sport-Cup-2-Reifen und die Fahrwerkseinstellungen sorgen dafür, dass sie förmlich auf dem Asphalt klebt.
Die 340 Nm, die bereits bei 2400 U/min zur Verfügung stehen, ziehen das Coupé kräftig aus den Kurven heraus. Der Durchzug lässt erst bei Geschwindigkeiten ab 200 km/h langsam nach. Und auch beim Bremsen gibt die A110 R sich und dem Fahrer keine Blösse: Das Bremspedal hat einen angenehm festen Gegendruck, und die Verzögerung lässt sich perfekt dosieren. Die Stahlbremsen lassen sich auch von der Dauerbelastung auf der Rennstrecke nicht aus der Ruhe bringen. Der Wagen bleibt beim Bremsen tadellos in der Spur, ohne Anzeichen von Nervosität erkennen zu lassen. Die Lenkung hat zwar nicht ganz den Biss eines Porsche Cayman GT4 RS, aber hier verfolgt Alpine auch eine etwas andere Philosophie. So soll selbst die extreme R-Version alltagstauglich bleiben – sofern man bei diesem Auto überhaupt von Alltagstauglichkeit sprechen kann.
Nicht so radikal
Eine Ausfahrt auf den Strassen rund um die Rennstrecke zeigt, wie diese Alltagstauglichkeit aussieht. Ausser der nicht vorhandenen Sicht nach hinten gibt es nichts auszusetzen. Die Federung bietet einen gewissen Komfort, und die Sitze – dünne Schaumstoffblöcke auf einer Karbonplatte – sind selbst bei längeren Fahrten viel bequemer als erwartet. Ja, die A110 R ist tatsächlich ein erstaunlich vielseitiges Fahrzeug, was gleichzeitig ihre grösste Stärke und grösste Schwäche ist. Ein Auto, das ein R im Namen trägt und von seinem Hersteller als extrem und radikal angepriesen wird, dürfte tatsächlich noch kompromissloser sein. Allein schon, um den grossen Preisunterschied zur A110 S zu rechtfertigen: Die A110 R kostet mit 109 000 Franken ganze 30 000 Franken mehr, obwohl es keinen wirklich grossen Unterschied zwischen den beiden Versionen gibt.
Die A110 S bietet in diesem Sinne das beste Preis-Leistungs-Verhältnis. Die A110 R hingegen wird vor allem diejenigen ansprechen, die einfach nur das Beste wollen. Oder aber diejenigen, die auf der Suche nach seltenen und exklusiven Automobilen sind.