Das verbotene Wort an diesem Donnerstag, 8. September, in Maranello (I) war SUV. Die Männer von Ferrari vermeiden es um jeden Preis, den Ausdruck zu benutzen, und wenn er doch ausgesprochen wird, dann nur, um zu betonen, dass der eben präsentierte Purosangue eben kein SUV sei. Und man hat auch die passende Erklärung dafür parat: «SUV sind Fahrzeuge, die unter Wankbewegungen leiden, sie sind keine Sportwagen. Aus diesem Grund hat Sergio Marchionne klar gesagt, er wolle kein SUV, als er das Projekt 2017 ins Leben rief», erinnert sich Enrico Galliera, Marketingdirektor bei Ferrari. «Deshalb sind wir sehr darauf bedacht, dass der Purosangue nicht so genannt wird. Der Purosangue ist ein grösserer Sportwagen. Er eröffnet ein neues Segment.» Enrico Galliera räumt jedoch ein, dass der Hengst in den Gefilden von Lamborghini Urus, Porsche Cayenne und Aston Martin DBX jagen werde … SUV also. Wer versteht, der versteht.
Unausweichlich
Dass Ferrari eines Tages mit einem solchen Fahrzeug habe kommen müssen, sei unvermeidbar gewesen, fährt Galliera fort. Allerdings habe man damit so lange gewartet, bis man ein Fahrzeug gehabt habe, das des Namens Ferrari auch würdig sei. Dieses Lastenheft, das scheinbar Unvereinbares unter einen Hut zu bringen versuchte, landete auf dem Schreibtisch von Michael Leiters, dem damaligen technischen Direktor von Ferrari. Heute ist es Gianmaria Fulgenzi, der die Verantwortung über die Entwicklung innehat und die Endphase begleitete: «Es war eine monumentale Herausforderung, den Purosangue zu einem echten Ferrari zu machen», gibt der Italiener zu. Unter anderem wurde ein neues, aktives Fahrwerk entwickelt, das mit Hilfe von Elektromotoren die Wankbewegungen des Aufbaus ausgleicht.
In diesem Sinne hat Ferrari ihm auch seinen symbolträchtigsten Motor, den V12, gegeben. Dieses mechanische Monument leistet im Purosangue 533 kW (725 PS), eine gewaltige Leistung, die das Auto in drei Sekunden von 0 auf 100 km/h und bis 310 km/h Spitze beschleunigt. Die Ferrari-Ingenieure haben sich mehr auf das Drehmoment konzentriert als auf die reine Leistung: 80 Prozent der maximal 740 Nm werden bereits bei 2100 U/min bereitgestellt. Diese enorme Kraft wird wohl auch benötigt, schliesslich muss sie eine Masse von gegen 2.2 Tonnen bewegen – Ferrari gibt wie üblich nur das Trockengewicht an, das bei 2033 Kilogramm liegt. Damit erlangt der Purosangue den wenig ruhmreichen Titel des schwersten Ferrari, der je gebaut wurde.
So sind vielleicht der Verzicht auf aktive aerodynamische Elemente oder die Beschränkung des Allradantriebs auf die ersten vier Gänge auch ein Kompromiss, um etwas Gewicht einzusparen. Wie beim Ferrari FF von 2011 wird der Antrieb der Vorderräder über eine Art Halbgetriebe gelöst, die sogenannte Power Take-off Unit (PTU). Diese ist vor dem Motor angebracht und über eine Haldex-Kupplung und ein Differenzial mit den Vorderrädern verbunden. Das Hauptgetriebe mit acht Gängen wird nach dem Transaxle-Prinzip für eine optimale Gewichtsverteilung auf die Hinterachse geschoben. Die Jagd auf die Pfunde war es auch, die die Ingenieure in Maranello dazu veranlasste, ein komplett neues Spaceframe-Chassis zu entwickeln.
Vier Türen, vier Plätze
Apropos Karosserie: Der Purosangue ist mit einer Länge von 4.97 Metern und einer Breite von 2.03 Metern deutlich grösser als die meisten seiner Konkurrenten. Aber er ist bloss 1.59 Meter hoch, während der Lamborghini Urus, der Aston Martin DBX und der Porsche Cayenne fünf bis zehn Zentimeter höher sind. Die Bodenfreiheit (185 mm) und die Luft in den Radläufen sind für ein SUV eher gering. Auch hier betont Ferrari: «Man kann die Sportlichkeit des Purosangue auf verschiedenen Strassen erfahren, aber er ist kein Geländewagen!» Eine weitere Überraschung sind die Türen: Es gibt vier davon – ein Novum in der Geschichte von Ferrari –, und sie öffnen sich gegenläufig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Purosangue ohne B-Säule auskommt. Warum dann der Aufwand? Weil konventionelle Türen mehr Platz benötigt hätten, was eine Verlängerung des mit 3.02 Metern sowieso schon langen Radstands bedeutet hätte und für die Agilität nachteilig gewesen wäre.
Der Zugang zu den beiden hinteren Plätzen ist trotz B-Säule problemlos möglich. Die abfallende Dachlinie beeinträchtigt die Kopffreiheit nur geringfügig, sodass auch grosse Passagiere bis 1.90 Meter keinen Grund für Platzangst haben. Die Beinfreiheit ist ausreichend, mehr aber auch nicht. Die Rücksitze sind den vorderen Sitzen nachempfunden, tief positioniert und in der Neigung und in Längsrichtung verstellbar. Die Rückenlehnen können komplett umgeklappt werden, falls die 473 Liter Kofferraumvolumen nicht ausreichen sollten. Für Ferrari ist das ein Rekordwert, im Konkurrenzvergleich aber ist es nichts, ein Porsche Cayenne beispielsweise bietet 770 Liter. Ausserdem ist beim Purosangue die Ladekante so hoch, dass sich Ein- und Ausladen mühsam gestalten. Der Purosangue ist jedoch nicht als Nutzfahrzeug gedacht, sondern soll vor allem auf der Strasse seinem Namen gerecht werden. Dazu ist der Fahrersitz auch tief im Auto positioniert, was in diesem Segment auch nicht selbstverständlich ist. Der Fahrer wird von dem sorgfältig gestalteten Armaturenbrett und der sorgfältigen Verarbeitung begeistert sein. Leider beharrt Ferrari auf den vielen Touchknöpfen am Lenkrad und am Armaturenbrett, was der Ergonomie nicht gerade dienlich ist. Auch die Temperaturregelung der Klimaanlage mit dem versenkbaren Drehsteller ist nicht ideal gelöst. So sieht alles auf den ersten Blick sehr kompliziert und sehr verwirrend aus.
Unabhängig davon, ob der Purosangue in der Tradition des Cavallino rampante steht oder nicht, ist er für Ferrari bereits jetzt ein Glücksfall. Die Marke meldet Vorbestellungen in einer Höhe, die «noch nie zuvor bei einem anderen Strassenmodell zu verzeichnen waren», und die Produktion ist für die nächsten Jahre bereits zugeteilt. Die ersten Auslieferungen der vorbestellten Fahrzeuge sind für das zweite Quartal 2023 geplant. In diesem Zusammenhang betont Ferrari erneut, dass der Purosangue nicht einfach eine Kopie des Porsche Cayenne und im Gegensatz zum diesem auch kein Volumenfahrzeug sei.
Während Porsche jährlich 80 000 Einheiten des Cayenne absetzt, plant Ferrari geschätzt nicht mehr als 2500 Purosangue pro Jahr zu produzieren. Wenn man bedenkt, dass der Grundpreis in Italien bei 390 000 Euro liegt, hat Ferrari sicherlich auf das richtige Pferd gesetzt, zumindest aus wirtschaftlicher Sicht.
Fahrwerksregelung in Echtzeit
Nicht nur als Modell ist der Purosangue komplett neu für Ferrari, auch technisch wartet er mit einigen, wenn auch subtilen Revolutionen auf. Eine davon: das Fahrwerk. Es ist das erste Mal, dass sich die Entwickler mit einem Fahrzeug beschäftigen mussten, dessen Schwerpunkt nicht automatisch knapp über dem Asphalt liegt. Und weil man in Modena offensichtlich hoch liegende Schwerpunkte nicht mag, hat man sich daran gemacht, diesen herunterzubringen. Ganz so einfach sei das nicht gewesen, meint Performance-Engineer Stefano Varisco. Aber man hat eine Lösung gefunden, damit es wenigstens in den Kurven klappt, den Angriffspunkt der Kräfte virtuell näher an die Strasse zu bringen. Das ist am Ende das einzige was zählt, denn solange keine Beschleunigungen auf das Fahrzeug wirken, ist die Höhe des Schwerpunktes wenig störend. Die Lösung, die das Team ertüftelt hat: ein aktives Fahrwerk. Dieses könne, so erklärt Stefano Varisco, nicht einfach nur die Härte der Dämpfer verstellen, sondern aktiv Kraft ins System einspeisen. Und das sei doch etwas ziemlich Einzigartiges.
Die technische Umsetzung ist schon beinahe banal und kommt mit möglichst wenigen zusätzlichen Komponenten aus – vom 48-Volt-Bordnetz, das Ferrari eigens für das aktive Fahrwerk im Purosangue verbaut, einmal abgesehen. An jedem Dämpfer sitzt ein Elektromotor, der eine Kraft direkt auf die Dämpferstange ausübt. Es sei nicht ganz einfach gewesen, die ideale Lösung zu finden, um die Rotationsbewegung des Elektromotors in eine lineare Kraft umzuwandeln, erklärt Stefano Varisco. Am Ende hat man sich für eine Kugelumlaufspindel entschieden, die wenig Reibverluste und ein schnelles Ansprechen ermöglicht. Dies ist der grosse Unterschied zur Luftfederung oder zu einem gewöhnlichen adaptiven Fahrwerk, das abhängig vom Fahrmodus härter oder weicher wird. Das System von Ferrari arbeitet in Echtzeit und ergänzt damit herkömmliche Stahl-Schraubenfedern und die hydraulischen Dämpfer um einige wichtige Funktionen.
Kein Kurvenstabilisator nötig
Damit der Versuch, das Gewicht von über 2.2 Tonnen des Purosangue zu kaschieren, halbwegs gelingen kann, muss Ferrari so viele Karosseriebewegungen wie möglich ausgleichen. Wie Stefano Varisco erklärt, sei es mit den aktiven Dämpfern möglich, sowohl die tiefen Frequenzen des Aufbaus (1–3 Hz) als auch die höherfrequentigen Bewegungen (15–20 Hz) der ungefederten Massen im Fahrwerk auszugleichen. Diverse Sensoren evaluieren alle paar Millisekunden die vertikale Beschleunigung von Aufbau und Rad sowie die relative Bewegung zwischen Rad und Karosserie. Die Aktoren in den Dämpfern können individuell bis zu 20-mal pro Sekunde angesteuert werden, sodass jedes Rad stets optimalen Kontakt mit dem Asphalt hat.
Ein weiterer Vorteil der aktiven Dämpfer: Sie ersetzen den Querstabilisator. Dieser transferiert üblicherweise – etwas banal ausgedrückt – Radaufstandskraft vom kurvenäusseren auf das kurveninnere Rad. Denn je gleichmässiger die Kräfte auf die vier Räder verteilt sind, umso besser haften die Reifen auf der Strasse. Je höher aber der Schwerpunkt des Autos, umso grösser ist das Ungleichgewicht zwischen den Rädern und umso wichtiger die Funktion des Kurvenstabilisators. Da die Lösung von Ferrari eine Kraft ausüben kann, kann die Karosserieneigung in Kurven kontrolliert und der laterale Krafttransfer zum kurvenäusseren Rad minimiert werden. «Wir haben das aktive Fahrwerk, Vierradantrieb und Vierradlenkung. Wir können jede Ecke des Autos individuell regeln», erklärt Varisco. Das hat den weiteren Vorteil, dass der Kraftausgleich auch zwischen Vorder- und Hinterachse erfolgen kann, beispielsweise beim Anbremsen in einer Kurve. Durch den Krafttransfer auf die Hinterräder kann eine Kraftüberlastung auf der Vorderachse und damit ein Untersteuern des Fahrzeugs verhindert werden.
Mit dem Allradantrieb und der Allradlenkung kann jedes Rad bereits in zwei Dimensionen kontrolliert werden. Mit den aktiven Dämpfern kommt jetzt noch die dritte Dimension hinzu. Und das alles nur, damit aus einem SUV ein Sportwagen werden kann.