Tempo 30 auf dem Vormarsch

Der Bundesrat hat ­beschlossen, dass Tempo-30-Zonen auf nicht ­verkehrsorientierten Strassen neu auch ohne ­Gutachten ein­gerichtet werden können. Die ­Städte haben nur darauf gewartet.

Mit dem neusten Entscheid des Bundesrates ist die Einrichtung von Tempo-30-Zonen deutlich einfacher geworden: Auf nicht verkehrsorientierten Strassen braucht es kein Gutachten mehr, das den Nutzen der tieferen Tempolimite nachweist. Somit ist anzunehmen, dass die Zahl der Tempo-30-Zonen ansteigt. Eine Umfrage zeigt, dass die Städte bei der Umsetzung auf ihre eigene Weise vorgehen.

Zürich: Flächendeckend Tempo 30

So ist man in der Stadt Zürich laut Angaben des Tiefbauamts daran, fast flächendeckend Tempo 30 auf allen Strassen, also auch auf den verkehrsorientierten Strassen, die man in der Stadt Zürich als Hauptstrassen bezeichnet, bis etwa 2030 zu realisieren. Dass ein verkehrstechnisches Gutachten auf den nicht verkehrsorientierten Strassen nun nicht mehr erforderlich sei, erleichtere die Einführung von Tempo 30.

In Basel existieren heute bereits um die 80 Tempo-30-Zonen auf nicht verkehrsorientierten Strassen. Auf den verkehrsorientierten Strassen dagegen gelte weitgehend Tempo 50, lässt sich auf Anfrage bei der Abteilung Verkehrstechnik des Amts für Mobilität des Kantons Basel-Stadt vernehmen. Auf etwa 100 verkehrsorientierten Strassenteilstücken werde nun überprüft, ob das heutige Tempo 50 auf Tempo 30 herabgestuft werden könnte. Dazu bedürfe es für jedes Teilstück eines Gutachtens. Auf weiteren zehn nicht verkehrsorientierten Strassenabschnitten plane man die Einführung von Tempo 30, wozu es nun keines Gutachtens mehr bedürfe. Trotzdem müsse ein Schriftstück vorliegen. Denn wenn die Behörden Tempo 30 verfügen, könne dagegen Beschwerde erhoben werden. Zur Beurteilung der an­geordneten Massnahme müsse die nächsthöhere Instanz deshalb nachvollziehen können, welche Überlegungen sich die Vorinstanz gemacht habe. Insofern könne also Tempo 30 nicht ganz ohne etwas Schriftliches eingeführt werden.

Bei der Verkehrsplanung der Stadt Bern heisst es derweil, dass bereits heute auf nicht verkehrsorientierten Strassen praktisch überall Tempo 30 oder sogar Tempo 20 gelte und deshalb keine grossen Änderungen absehbar seien. In Planung sei aber die Einführung von Tempo 30 auch auf verkehrsorientierten Strassen, wofür es weiterhin ein verkehrstechnisches Gutachten braucht.

Am Beispiel der Stadt Lausanne zeigt sich der Tempo-30-Terror, der auch anderen Städten bald drohen könnte: Grün gefärbt sind jene verkehrsorientierten Strassen, auf denen in der Nacht zwischen 22 und 6 Uhr Tempo 30 gilt. Die roten Punkte markieren Geschwindigkeitsmesser.

Lausanne prescht vor

Vorreiter für Tempo-30-Zonen ist aber Lausanne. In dieser Stadt gilt seit Mitte September 2021 von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens generell Tempo 30 und zwar auf allen Hauptverkehrsstrassen mit Ausnahme der Hauptzufahrtsstrassen von den Autobahnausfahrten ins Stadtzentrum. Auf Anfrage teilt die Abteilung für Mobilität und Entwicklung des öffentlichen Raums der Stadt Lausanne mit, dass sich rund 85 Prozent der Automobilisten im Grossen und Ganzen an die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 30 km/h hielten und nur 0.6 Prozent schneller als 50 km/h unterwegs seien (einschliesslich der Blaulichtorganisationen). Die bisherigen Reak­tionen aus der Bevölkerung seien überwiegend positiv, erklären die Behörden von Lausanne.

Seit Dezember gibt es in der Stadt Lausanne 151 Tempo-30-Zonen, das sind 62 Prozent ausserhalb der Hauptverkehrsachsen. Und die Stadtbehörden sind bestrebt, die 30er-­Zonen weiter auszubauen. Sie seien sich aber bewusst, dass auf verkehrsorientierten Strassen grundsätzlich Tempo 50 gelte und die heutigen Voraussetzungen für Geschwindigkeitsreduktionen zu beachten seien. Wenn aber eine im Sinne der Umweltschutzgesetzgebung übermässige Umweltbelastung (Lärm, Schadstoffe) vermindert werden könne, sei eine Reduktion des Tempos durchaus möglich. Viele Stimmen aus der Bevölkerung zeigten, dass der Strassenlärm eine Belastung für die Gesundheit darstelle. Deshalb seien die Behörden der Stadt Lausanne bemüht, Tempo 30 nicht nur nachts, sondern auch tagsüber in allen Quartieren einzu-
führen.

Litra ist skeptisch

Auch die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) ist der Auffassung, dass Tempo 30 sozusagen das Modell der Zukunft ist, und liegt damit auf der Linie der vorerwähnten Städte. Das grosse Rettungspotenzial ist laut BFU noch nicht ausgeschöpft. Um dies zu ändern, müssten die rechtlichen Hürden für eine Einführung von Tempo 30 reduziert werden. Zudem sei ein Paradigmenwechsel in der Verkehrsplanung notwendig. Der Fokus dürfe nicht ausschliesslich auf nicht verkehrsorientierten Strassen liegen, vielmehr müssten – wo die Verkehrssicherheit es erfordere – auch Hauptverkehrsachsen einbezogen werden, die aber vortrittsberechtigt blieben.

Anders sieht man es beim Informationsdienst für den öffentlichen Verkehr (Litra). Für deren Präsident und Nationalrat Martin Candinas (Mitte/GR) wird eine allgemeine Einführung von Tempo 30 auf den Hauptachsen der Städte und Agglomerationen einen negativen Effekt auf die Nutzung des öffentlichen Verkehrs haben. Trams und Busse verlören ihre Attraktivität für die Nutzer, und dies werde eine Verlagerung auf andere Verkehrsmittel zur Folge haben, sofern keine Bevorzugungsmassnahmen (Bevorzugung an Ampeln, eigenes Trassee, Aufhebung des Rechtsvortritts) für die Transporteure des öffentlichen Verkehrs ergriffen würden.

Eindeutig sind auch die Resultate einer vom TCS in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage von Dezember 2021. Danach lehnen 68 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer eine generelle Einführung von Tempo 30 innerorts ab.

Vermutlich hilft aber alles nichts. Die normative Kraft des Faktischen zeigt nun einmal Richtung Tempo 30 innerorts. Diesen Trend aufzuhalten oder sogar umzukehren, erscheint in der heutigen, grün gefärbten Zeit äusserst schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Ob damit gleichzeitig eine Abwanderung des Gewerbes aus der Stadt einhergeht und die Städte insgesamt zusehends an Attraktivität verlieren, bleibt allerdings die grosse Frage.

Grundsätzlich Tempo 50, aber …

Fazit: Obwohl der Bundesrat in seiner jüngsten Erklärung bekräftigt, dass auf verkehrsorientierten Strassen innerorts auch künftig grundsätzlich Tempo 50 gilt und die heutigen Voraussetzungen für Geschwindigkeitsreduktionen weiterhin beachtet werden müssen (Art. 108 Abs. 2 der Signalisationsverordnung SSV), befindet sich Tempo 30 in Schweizer Städten auf dem Vormarsch, wie die Umfrage zeigt. Und zwar auch auf verkehrsorientierten Strassen. 

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