Was geht da gerade ab bei Kia? Noch keine zehn Jahre ist es her, dass die koreanische Marke in etwa so aufregend auftrat wie ein lauwarmes Stück Tofu. Daran konnte auch die Handvoll verkaufter Stinger nichts ändern. Und während Hyundai in der Mittelklasse mit den N-Modellen richtig auf Sport machen durfte, musste Kia im Konzern immer etwas der Biedermann bleiben. Aber elektrisch geht es nun doch: Der EV6 GT ist mit 430 kW (585 PS) der stärkste je gebaute Kia. «Die Idee für den GT hatten wir eigentlich schon sehr früh in der Entwicklung des EV6», sagt Produktmanager Gregor Krumböck. «Er ist für uns die Neuinterpretation des Gran Turismo.» Obwohl ein SUV, vereine er viel Platz und einen hohen Langstreckenkomfort mit sportlichen Fahrleistungen. Das seien genau die Werte, die einen klassischen Gran Turismo definierten.
Die Zahlen sprechen für sich: Allradantrieb, 740 Nm, 3.5 Sekunden von 0 auf 100 km/h, 260 km/h Spitze. Damit bewegt sich der EV6 GT auf dem Niveau der deutschen Superstromer Audi RS E-Tron GT, Porsche Taycan Turbo und AMG EQE 53. Um solche Werte zu erreichen, hat Kia die Antriebskomponenten grundlegend verbessert – aber nicht mehr als nötig, wie David Labrosse, Leiter Produktplanung bei Kia und Hyundai Europa, betont. «Aus Kostengründen wollten wir die Anzahl Gleichteile zum normalen EV6 so hoch wie möglich halten.» Das hat sich ausbezahlt: Mit einem Basispreis von 80 900 Franken kostet der EV6 GT bloss halb so viel wie die deutschen Sportstromer. Um die höhere Endgeschwindigkeit zu erreichen, ohne Eingriffe am Untersetzungsverhältnis vornehmen zu müssen, wurde die Maximaldrehzahl der Elektromotoren von 16 000 auf 21 000 erhöht. Herzstück der Leistungssteigerung ist der Inverter, der den Gleichstrom der Batterie in Rotationsstrom für die Motoren transformiert. Die Halbleiterbauteile darin müssen mit Leistungsspitzen und hohen Strömen umgehen können. Was genau die Eigenheit der Transistoren, die Kia von Zulieferer Infineon bezieht, ist, will man nicht verraten. Die Technologie sei aber so gut wie einzigartig in der Branche, erklärt Labrosse. Am Ende sei der Inverter das kritische Bauteil beim Bau von Elektroautos, ist Labrosse überzeugt. Wer mehr Leistung will, muss in Zukunft neben der Software vor allem die Leistungselektronik beherrschen. Vier verschiedene Fahrmodi hat Kia in den EV6 GT gepackt, jeweils mit unterschiedlichen Charakteristika wie der maximal verfügbaren Leistung, der Gaspedalkennlinie oder dem Eingreifen des ESP. Aktiviert werden die normalen Modi über den Drive-Mode-Selector am Lenkrad, für den GT-Modus gibt es den neongrünen GT-Knopf am Lenkrad. Auch damit wird der EV6 GT nicht zum Krawallbruder: Die Kraftentfaltung ist linear, dass das Auto in 3.5 Sekunden auf Tempo 100 ist – man würde es kaum merken, wüsste man es nicht, so zivilisiert schiebt er an.
Geheimer Drift-Modus
Er kann aber durchaus auch anders. An der Hinterachse kommt das elektronisch geregelte Sperrdifferenzial aus dem Stinger zum Einsatz, und das erlaubt so einiges. Und zwar so viel, dass Kia absurderweise empfiehlt, den GT-Modus auf öffentlichen Strassen nicht zu aktivieren. Wer das Pedal am Kurvenausgang mutig durchdrückt, zwingt die Hinterachse locker zum Ausbrechen, einem Mustang Mach-E GT gar nicht unähnlich. Und wer wirklich weiss, was er tut, kann auch den Drift-Modus aktivieren, mit dem Hinterreifen in Rauch aufgehen können. Sofern er denn herausfindet wie. Kia verrät nämlich nur, dass es den Modus gibt, nicht aber, wie man ihn aktiviert.
Ist er also einer für die Rennstrecke, der EV6 GT? Nein, ist er nicht. Kia hat zwar das Auto um fünf Millimeter tiefergelegt, das Fahrwerk überarbeitet, die Dämpfer härter gemacht, die Bremsen grösser, die Lenkung direkter. Aber ein Auto für die Rennstrecke wird der EV6 dadurch auch nicht. Die 2.2 Tonnen Leergewicht schieben unerbittlich, der Schwerpunkt ist hoch und das nicht-adaptive Fahrwerk doch etwas zu weich abgestimmt. Auf der Strasse aber, da fühlen sich Auto und Fahrer wohl, egal ob auf der kurvigen Landstrasse, wo das SUV mit einer enormen Kraft aus jeder Kurve schiesst, oder auf der Autobahn, wo das Fahrverhalten ruhig und komfortabel ist. Ja, als echter Gran Turismo müsste der Kia EV6 GT Reise und Rennstrecke noch besser unter einen Hut bringen. Aber, Hand hoch, wer tatsächlich mit so einem Auto auf die Rennstrecke will. Dafür macht er den Reiseteil umso sportlicher.
Das einzige Problem: Wer das Auto jetzt kaufen möchte, schaut in die Röhre. Die Wartezeit beträgt nämlich über zwölf Monate.