«Gerechtigkeit bedeutet stets eine Güterabwägung»

Der Astra-­Chef nimmt Stellung zu der vom Bundesrat ­geplanten Kilometer­abgabe für Elektroautos und dazu, wie sich diese von Roadpricing unterscheiden soll.

Die Herausforderungen im Strassenverkehr sind zahlreich: Die Ungleichbehandlung von Elektroautos und Verbrennern bei der Strassenfinanzierung, die Einführung von Roadpricing und die drohenden Energieengpässe sind nur einige davon. Zudem steht das Auto unter politischem Dauerbeschuss. Jürg Röthlisberger, Chef des Bundesamts für Strassen (Astra), erklärt, wie die Probleme bewältigt werden sollen.

AUTOMOBIL REVUE: Drei Viertel der jährlichen Verkehrsleistung entfallen auf den privaten motorisierten Strassenverkehr. Trotzdem steht das Auto seit Langem unter politischem Dauerbeschuss. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären?

Jürg Röthlisberger: Vermutlich vor allem mit den Umweltaspekten, die im Wandel begriffen sind. Bisher wurden Autos vor allem etwa mit Lärm, CO2-Emissionen und Feinstaub in Verbindung gebracht. Aber die Automobilhersteller bemühen sich ja sehr, diese negativen Begleiterscheinungen zu eliminieren und in eine neue Dimension zu gelangen, und dann dürften die Vorwürfe wegfallen.

Das würde bedeuten, dass dieser Druck mit der genannten Entwicklung wegfällt?

Ich bin kein Prophet, aber die Argumente gegen den Individualverkehr gehen klar zurück. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass man bei der Mobilität nicht dogmatisch denkt, sondern sachlich-nüchtern. Und wenn man so denkt, ist man auch offen für Argumente. Man setzt die verschiedenen Verkehrsträger ein nach ihren Stärken und nicht nach Konzepten oder politischen Vorstellungen. Auch die Digitalisierung respektive Automatisierung wird ein grosser Gamechanger sein.

Kürzlich hat die Vernehmlassung für Beiträge an den Agglomerationsverkehr begonnen. Dabei soll auch der Langsamverkehr massiv unterstützt werden. Ist die Vorstellung abwegig, dass auch Velofahrer für die Benutzung der Infrastruktur aufkommen müssen?

Das ist eine hochpolitische Frage. Es ist jedenfalls denkbar, doch letztlich muss das eidgenössische Parlament darüber entscheiden.

Kommen wir zu den neusten Plänen des Bundesrats. Er will die Abgabe für Autos mit Verbrennungsmotoren wie bisher weiterführen und für E-Autos eine neue Ersatzabgabe erheben. Diese soll sich aus einem festen Betrag pro gefahrenen Kilometer und der Fahrzeugkategorie zusammensetzen. Was heisst das konkret?

Zwei Eigenschaften sind wichtig: Ersatz und fix. Heute bezahlen die Autos mit alternativem Antrieb keine Infrastrukturabgabe. Das ist die Frage zwischen Förderung und Gerechtigkeit. Diese Frage stellt sich immer, wenn man in eine gewisse Richtung gehen möchte, und das wollen wir. Die Ziele sind klar: Ausstieg aus den fossilen Energieträgern bis 2050. Wir haben die Aufgabe bekommen, die Strasseninfrastruktur zu erhalten und zu verbessern, und das muss finanziert werden. Wir leben heute primär von den Treibstoffzöllen. Diese werden mit der Zeit gegen null gehen. Und fix heisst, es ist ein Ersatz für etwas, das die Automobilisten heute bezahlen. Es ist aber kein Roadpricing, sondern eine Finanzierung. Darauf legen wir Wert.

Wird es Unterschiede geben zwischen kleinen und grossen Autos oder zwischen sparsamen und weniger sparsamen Autos?

Ja. Lassen Sie mich etwas ausholen. Wir haben versucht, in dieser Vorlage die heutige Philosophie und das heutige Gerechtigkeitsempfinden mitzunehmen. Das betrifft die Finanzarchitektur: Vor nicht allzu langer Zeit hat die Schweizer Stimmbevölkerung dem Bahninfrastrukturfond BIF, dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds NAF und der Spezialfinanzierung Strassenverkehr zugestimmt. An dieser Finanzarchitektur wollen wir nichts ändern, das heisst die Reservoirs bleiben dieselben, und auch wer wie viel bekommt, also Bundeskasse, Kantone, Gemeinden und NAF, bleibt wie bisher. Die Zuflüsse zu diesem Reservoir aus der Verbrennerwelt bleiben völlig unverändert, aber dieser Strom versiegt. Deshalb brauchen wir neue Quellen, die den Ersatz der bisherigen Quellen darstellen. Das ist eigentlich neu.

Das beantwortet noch nicht die Frage nach den Unterschieden zwischen grossen und kleinen Autos.

Heute bezahlt ein kleines Auto wie der Renault Clio weniger Treibstoffzoll als ein grosses Auto, weil das Gewicht, der Luftwiderstand und meist auch die Motorleistung geringer sind. Das hat sich bewährt und entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden. Deshalb wird man etwa für einen Renault Zoe weniger Ersatzabgabe bezahlen als für einen Tesla. Innerhalb der Fahrzeugkategorie geht es dann noch um zwei Kriterien: das Fahrzeuggewicht und die Motorleistung.

Hätte es noch andere Varianten gegeben?

Ja, wir haben unter anderem auch eine fixe Kilometerabgabe für alle Autos geprüft. Jetzt haben wir eine fixe Abgabe nur für Fahrzeuge mit alternativen Antrieben vorgeschlagen. Eine fixe Abgabe für alle Autos hätte zur Folge gehabt, dass die Treibstoffzölle weggefallen wären. Das hätte dazu geführt, dass ein Liter Treibstoff massiv billiger gewesen wäre als im angrenzenden Ausland.

Warum ist eine Besteuerung von Strom wie die Besteuerung von Treibstoff keine Möglichkeit?

Weil man Treibstoffe nur an Tankstellen tanken kann, insofern ist das einfach. Beim E-Auto dagegen lade ich einmal zu Hause, dann im Büro oder an einer Schnellladestation unterwegs. So müsste man an jeder Steckdose einen Zähler montieren, oder man müsste die Fahrzeuge mit Stromzählern ausrüsten und dann abrechnen. Das erachten wir nicht als sinnvoll. Im Weiteren wird es neben den elektrischen Fahrzeugen auch synthetische Treibstoffe geben oder Fahrzeuge mit Brennstoffzellen. Dort wird es kompliziert. Man kann nicht für die verschiedenen Antriebsformen einen eigenen Zoll berechnen, sie fallen deshalb alle unter die Kategorie E-Autos. Kurz gesagt: Die Kilometerabgabe ist die einfachste und transparenteste Lösung.

Wie werden Plug-in-Hybride besteuert? Für den Verbrennungsmotor wie bisher und für den Elektromotor als kilometerabhängige Abgabe?

Das ist bei der jetzt gewählten Variante eine Herausforderung. Allerdings haben wir heute bereits relativ gute Zahlen. Wir wissen, wie viel ein Plug-in-Hybrid im Durchschnitt elektrisch fährt und wie viel mit Verbrennermotor. Zudem geht es ja noch rund acht Jahre bis zur Einführung der Kilometerabgabe, und bis dann haben wir noch besseres Zahlenmaterial. Zum anderen betrachten wir die Hybridtechnologie im Bereich der Personenwagen eher als eine Übergangstechnologie.

Der Plug-in wird also zwei Abgaben entrichten?

Ja. Der Plug-in-Hybrid wird seine Treibstoffzölle bezahlen, er wird dann noch einen verminderten Wert gegenüber dem batterieelektrischen Fahrzeug pro gefahrenen Kilometer entrichten, sodass er im Durchschnitt etwa auf den gerechten Wert kommt.

Die Ersatzabgabe für E-Autos soll erst 2030 in Kraft treten. Bedeutet das, dass bis dahin E-Autos ausser der Autobahnvignette und der Automobilsteuer keine Abgaben entrichten müssen?

Kurze Antwort: Ja.

Ist das nicht eine Ungleichbehandlung?

Ja, das ist es immer. Förderung und Gerechtigkeit bedeuten immer eine Güterabwägung. Das Jahr 2030 hat der Bundesrat übrigens nicht einfach so gewählt. Dafür gibt es zwei Gründe: Es geht nicht schneller in der direkten Demokratie. Und wir kommen dann in Liquiditätsschwierigkeiten im NAF und vorher nicht. Natürlich kommt jetzt der Einwand, der vermögende Tesla-Fahrer komme bis dahin glimpflich davon. Aber das ist nicht die grosse Menge. Die meisten E-Fahrer werden kleine Fahrzeuge benützen, und der Occasionshandel im E-Bereich steckt noch am Anfang. Zudem ist zu berücksichtigen, dass auch eine einfache Abgabe auf E-Autos, etwa eine Pauschale, zuerst eine Verfassungsabstimmung überstehen müsste. Bis das eingeführt wäre, dauert das entsprechend lang. Zur Beruhigung der Kundschaft: Wir sind bis zum genannten Zeitpunkt liquid und können bis dann den Unterhalt und den Ausbau und die Erweiterung der Strassen wo nötig sicherstellen. Und das ist im Interesse der Automobilisten.

Wie wird die Abgabeerhebung erfasst, und wie erfolgt die Bezahlung?

Im Detail ist das noch offen. Für die Erfassung der Daten gibt es mehrere Varianten, die wir vorschlagen. Eigentlich müssen wir nur wissen, wie viele Kilometer unsere Kundschaft in einem bestimmten Zeitraum im Perimeter Schweiz gefahren ist, aber wir müssen nicht wissen, wo in der Schweiz jemand unterwegs ist. Das wäre der Unterschied zum Pricing, bei dem man wissen muss, wo jemand das Fahrzeug benutzt. Die Variante muss einfach datenschutzkonform sein. Vermutlich wird es darauf hinauslaufen, dass im Fahrzeug ein kleines Datenerfassungsgerät installiert wird, das manipulationssicher ist. Was die Bezahlung angeht, wird man gewisse Optionen anbieten. Entweder bekommt man eine monatliche Rechnung, oder man kann sich die Daten an einem bestimmten Ort, etwa beim TCS oder beim Strassenverkehrsamt, absaugen lassen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir jetzt etwas regeln und regulieren müssen, das in etwa acht Jahren in Kraft tritt. Und in der Zwischenzeit schreitet die technologische Entwicklung rasant voran. Wir müssen deshalb eine möglichst einfache und effiziente Lösung finden.

Und Ausländer, die in die Schweiz kommen?

Ausländer, welche in der Schweiz Ferien verbringen, werden auch ein Erfassungsgerät mitführen, während für Ausländer, welche die Schweiz transitieren, eine globale Abgabe fällig wird.

Besteht nicht die Gefahr, dass die Mobilität über den Preis gesteuert wird?

Das ist genau nicht das Ziel. Es ist kein Pricing. Mobility-Pricing möchte in das Fahrverhalten eingreifen. Deshalb würde es zeit- oder wochentagsabhängige Preise geben. Die vorgesehene Ersatzabgabe ist hingegen nur eine Finanzierung und sieht deshalb fixe Tarife vor.

Der Staat setzt bei den Fahrzeugen auf Elektromobilität und will ebenso weg von Kernenergie und fossilen Energieträgern. Gleichzeitig drohen eine Strommangellage und sogar Stromausfälle. Wie kann dieser Spagat gelingen?

Wenn wir die Ziele der Energiestrategie 2050 erreichen wollen, ist das in der Tat eine riesige Herausforderung. Wir sollten vor allem handeln und einander weniger kritisieren. Wenn wir jetzt handeln, können wir den Strom organisieren. Dazu ein Beispiel: Heute verkaufen wir sechs Millionen Tonnen Treibstoff, das sind rund 60 Terawattstunden Energie. Elektromobilität ist mindestens dreimal effizienter. Man muss also nicht mehr 60, sondern nur 20 Terawattstunden organisieren. Hier liegt der Vorteil der Elektromobilität. Wenn wir den Energiewandel wollen, müssen wir sicherstellen, dass wir möglichst effizient verbrauchen – das bietet die Elektromobilität. Wir haben die gleiche Mobilität wie heute mit nur einem Drittel des Energieaufwandes. Deshalb mein Aufruf: Handeln wir jetzt!

Auch das Szenario einer Kontingentierung des Stroms steht im Raum. Was würde das für E-Autos bedeuten?

Wir sind daran durchzurechnen, was das heissen könnte. Denkbar wäre, dass es dann zu einer zeitlichen Einschränkung kommt und zwar dahingehend, dass das Laden in bestimmten Quartieren zwischen 14 und 16 Uhr etwa nicht möglich wäre – wenn überhaupt. Der Bundesrat unternimmt aber alles, dass es nicht so weit kommt.

Zur Person

Jürg Röthlisberger ist seit Anfang 2015 Direktor des Bundesamts für Strassen (Astra). Der Bauingenieur ist bereits seit Ende 1997 fürs Astra tätig, zunächst als Gebietsverantwortlicher Ostschweiz, dann als Vizedirektor für die Abteilung Strasseninfrastruktur. 2012 wurde er stellvertretender Direktor des Astra. Er ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder.

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