Die gesamte Autoindustrie befindet sich tief in der Krise. Rekordgewinne wie beispielsweise von Audi geben ein falsches Bild ab, eine Kombination aus Sparmassnahmen und einem Preisanstieg der Neuwagen führte zu diesem Ergebnis. «Ich traue mir keine Prognose zu», sagt denn auch Audi-Finanzvorstand Jürgen Rittersberger. Unter der Oberfläche brodelt es, die Chipkrise und Rohstoffpreise bringen vor allem kleine Zulieferer in Existenznot.
Nun folgt der Krieg in einem Land, das rund sieben Prozent der weltweit verbauten Kabelstänge herstellt (AR 10/2022). Hauptabnehmer ist Deutschland, in den vergangenen Jahren wurde beinahe die gesamte Produktion von Kabelbäumen in die Ukraine verlegt. Die Löhne dort sind tief, das Ausbildungsniveau vergleichsweise hoch, zudem ist man nah an den osteuropäischen Fabriken der Hersteller. Schätzungen zufolge bezieht die deutsche Autoindustrie 80 Prozent ihrer Kabelbäume aus der Ukraine, mancherorts sind es 100 Prozent. Aktuell stehen die allermeisten Fabriken still, Leoni, der wichtigste deutsche Lieferant, hat unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands seine beiden ukrainischen Werke geschlossen. Anderen Bordnetzherstellern geht es gleich. Laut der ukrainischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft Ukraineinvest sind im Land 22 ausländische Automobilzulieferer ansässig, die mit über 60 000 Angestellten in 38 Fabriken Teile produzieren.
Die allermeisten beschäftigen sich mit der Bordelektronik. Das Rückgrat eines jeden Fahrzeugs wird früh in der Produktion verlegt, eine Nachrüstung ist nicht möglich. Daher wird ohne Kabelbaum kein Auto gebaut, die gesamte Wertschöpfungskette steht still, was wiederum auch Unternehmen betrifft, die keine direkten Geschäfte mit der Ukraine oder Russland machen. Das dicht gewebte Netz der Abhängigkeiten, die Globalisierung, wird ein weiteres Mal zum Stolperstein.
Chronische Unterversorgung
«Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges hat sich die bereits angespannte Lage noch einmal drastisch verschärft», sagt Auto-Schweiz-Mediensprecher Christoph Wolnik. Lange Wartezeiten sind die Folge, immer mehr Hersteller verhängen einen Bestellstopp für bestimmte Fahrzeuge, vorderhand betrifft dies Elektromodelle. Und: Die chronische Unterversorgung nehme weiter zu, die Verschiebung einer so komplexen Produktion wie die der Kabelbäume sei aufwändig und koste Zeit, erklärt Wolnik weiter. Bestrebungen, den Super-GAU irgendwie abzuwenden, liefen zwar auf Hochtouren, eine kurzfristige Umstrukturierung der Produktion sei aber schwierig. Neben Osteuropa stellen Nordafrika, Mexiko und China mögliche Alternativen dar. Die Probleme aber sind auch dort mehrschichtig. Die Schifffahrt ist durch Corona nach wie vor stark angeschlagen. Wenn Spezialmaschinen für neue Werke nötig sind, sind monatelange Wartefristen vorprogrammiert. Weil Schätzungen zufolge normalerweise rund 100 000 ukrainische LKW-Fahrer im EU-Warenverkehr unterwegs sind, kommt es auch hier zu einem riesigen Engpass. Bleibt zuletzt die Frage, wer für die Kosten der allenfalls neuen Produktionsstandorte aufkommt, die Hersteller oder die Zulieferer.
Zunehmende Umverteilung
All diese Probleme zeigen sich zunehmend in der Immatrikulationsstatistik. VW liegt an der Spitze, auch weil BMW und Mercedes auf den Plätzen zwei und drei abfallen. Von hinten drücken Škoda und Audi, während Seat weiter herumdümpelt. Eine genaue Analyse allerdings ist schwierig, da Schweizer Kunden derzeit mehr oder weniger das kaufen, was gerade erhältlich ist. «Wir sind seit zwei Jahren im Ausnahmezustand. Rund 10 000 Kunden warten aktuell auf ein Fahrzeug», sagt beispielsweise Christian Frey, PR-Manager Volkswagen bei Amag. Damit ist zu erklären, weshalb in den ersten drei Monaten des Jahres vorderhand asiatische Marken auf dem Vormarsch sind. Auch sie werden vom Halbleitermangel, der nach wie vor komplizierten Liefersituation und den aktuellen Ereignissen eingebremst, allerdings in kleinerem Umfang. Tendenziell werden dieser Umstand und die Verschiebung der Verkaufszahlen in den kommenden Monaten weiter zunehmen. Denn: «Der Krieg in der Ukraine sorgt für eine völlige Umverteilung der Karten», sagt Christoph Wolnik.