Transaxiales Getriebe, vorne Doppelquerlenker mit Drehstabfedern, hinten eine De-Dion-Achse geführt von einem Watt-Gestänge, Scheibenbremsen rundherum, zwei Doppelvergaser, ein grosser Kofferraum und moderne, saubere Linien: Die Alfetta war 1972 bei ihrer Vorstellung, also vor 50 Jahren, definitiv auf der Höhe ihrer Zeit. Der technische Aufwand war einzigartig, die Form ein kompletter Bruch mit dem, was man sich von Alfa Romeo sonst gewohnt war, abgesehen vielleicht vom eher kontrovers aufgenommenen, schon 1969 vorgestellten Junior Zagato von Ercole Spada. Bei der Alfetta, benannt nach den ersten Formel-1 Siegerwagen der Geschichte, dem Alfa Romeo 159 Alfetta, stammte das Design aus der Feder von Giuseppe Scarnati aus dem eigenen Centro Stile. Die Alfetta wurde im Werk Arese bei Mailand gebaut, bis zu ihrem Produktionsende 1984 liefen 478 812 Exemplare vom Band. Eines davon, unser Exemplar in Giallo Piper im Originalzustand, fand zunächst nach Süditalien, wo es nach seiner ersten Karriere als sportlicher Familienwagen für 28 Jahre garagiert wurde. Heute steht das Auto in der kleinen Collezione Centosedici des Berners Oliver Buzzi und ist wieder fahrbereit und eingelöst.
70s und Italianità
Die Frage, welche Epoche der Geschichte von Alfa Romeo ihn am meisten fasziniere, beantwortet der Berner Sammler ohne Worte. Mit Schlaghosen, Manchesterveston und einer typischen Pilzkopffrisur passt der Besitzer der Alfetta perfekt zu seinem Auto. Für manche sind die 70er-Jahre die grosse Zeit Italiens mit Filmen von Adriano Celentano oder Terence Hill und Bud Spencer im Kino, mit Ferien an der Adria und mit dieser coolen Lässigkeit des Südens, die sich ganz langsam auch nördlich der Alpen bemerkbar zu machen begann. Warum hat Oliver Buzzi sich genau diese Alfetta gekauft? «Der im Januar 1975 vorgestellte abgespeckte 1.6 ist sehr selten, originale Exemplare sind selbst in Italien kaum zu finden. Der vereinfachte Kühlergrill mit einfachen statt Doppelscheinwerfern ist in seiner nüchternen Sachlichkeit reizvoll. Viele wurden auf den Doppelscheinwerfergrill des 1.8 hochgerüstet, so auch dieses Exemplar. Als erstes habe ich das Auto wieder zurückgebaut», erklärt der Alfista.
Das Auto befindet sich nun wieder weitgehend im Originalzustand, die Spuren des Umbaus sind aber noch sichtbar. So hatte der 1800er weiter um das Fahrzeugheck reichende Stossstangen, die Löcher zu ihrer Befestigung in den Wagenflanken sind noch vorhanden, auf der Beifahrerseite hat man sich zugunsten einer Teillackierung gar die Demontage erspart – «das wären nur vier Schrauben und eine Menge Abdeckarbeit weniger gewesen», so der Besitzer. Dort wo die längere Stossstange sie verdeckt hat, ist der etwas andere Farbton der älteren Lackschicht noch zu sehen. Im Grossen und Ganzen aber ist dieses Auto eine Zeitkapsel. Im Innenraum zieren passende Überzüge die originalen Sitzpolster, das braune Pepita-Muster könnte zeitgenössischer kaum sein. Dieser Wagen hat mit seinem Giallo Piper aussen und den Brauntönen innen eine nüchterne Coolness, die den meisten deutschen Zeitgenossen komplett abgeht.
Dabei spart sich die Alfetta die bei ihren Nachfolgern Alfa 90 oder Alfa Romeo 75 zu findenden Extravaganzen wie die Bügelhandbremse oder den herausnehmbaren Aktenkoffer. Die weit voneinander abgesetzt im Brett sitzenden Armaturen erinnern entfernt an einen Lamborghini, die Sicht darauf ist gut. Nur die im Lenkrad eingelassenen Huptasten poppen gelegentlich aus ihren Haltern. Plastik aus den 1970er-Jahren ist ein Thema für sich, gewisse Reproduktionen stehen dem Original mit ihrer Unzulänglichkeit kaum nach. Aber das liegt wie so manches wohl hauptsächlich an der Zeit, ganz gewiss nicht an Alfa Romeo selber.
Technik total
Keine 1100 Kilogramm ist die Alfetta schwer, selbst mit dem kleineren 1.6-Liter-Motor sorgte dies für ein im Konkurrenzvergleich grossartiges Leitungsgewicht. Der mit zwei Dellorto-Doppelvergasern ausgerüstete Motor leistet gemäss Werksangabe 108 PS. Damit war die kleinere Alfetta kaum langsamer als ihre grössere Schwester mit dem 1800er – 175 km/h gegenüber 180 km/h. Und sie tönt ohnehin wie ein Alfa Romeo, das kernige Raspeln aus dem keck in der Mitte schräg unter dem Wagenheck herausragenden Auspuff kannte früher jeder geneigte Autofan, in Italien konnte es vermutlich jedes Kind dem Auto mit dem Scudetto, dem Schild am Kühler, zuordnen.
Als Mittelklassewagen verfügte die Alfetta – laut AUTOMOBIL REVUE Katalog 1976 stand sie hierzulande mit 17 450 Franken in der Preisliste – über eine reichhaltige Ausstattung, besonders die Instrumentierung liess kaum Wünsche offen. Einzig die Statikgurte waren wohl bereits 1976 nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit, gut möglich, dass ein Auto mit Schweizer Spezifikationen über Rollgurte verfügt hätte. Bei der aktiven Sicherheit aber gehört die Alfetta mit ihrem aufwändigen Fahrwerk und den hervorragenden Bremsen wohl zum Besten, was sich aus jener Zeit finden lässt. Oliver Buzzi liess aufgrund der langen Standzeit des Wagens sämtliche Hardware der Bremsen, also Beläge, Schläuche, Hauptbremszylinder, Scheiben und auch Bremszangen, auswechseln, ebenso alle Büchsen der Aufhängung und die Stossdämpfer. Der Wagen fährt sich heute wie neu, und an seinem Fahrverhalten gibt es nichts zu tadeln. Man sieht sich einmal mehr bestätigt, dass früher manches eben doch besser war oder zumindest nicht schlechter. Ganz gewiss aber anders und lustvoller.
Die ewige Frage
Hat er Rost? Diese Frage muss man sich als Alfa-Romeo-Besitzer wohl oder übel gefallen lassen. Tatsächlich waren es nach einer ersten, grossen Begeisterungswelle mechanische Probleme – die notorisch unpräzise Schaltführung – und der Rost, welche der ungehinderten Verbreitung der Alfetta im Weg standen. Fairerweise muss man aber sagen, dass die braune Pest in den 1970er-Jahren selbst in den besten Häusern weit verbreitet war. Der in Norditalien gebauten Alfetta haben vermutlich die frappanten Rostmängel mitgespielt, die gemeinhin mit dem in Pomigliano d’Arco bei Neapel produzierten Alfasud assoziiert werden: Etwas zu Unrecht wurde alles, was von Alfa Romeo kam, an den Pranger gestellt. Fakt ist, dass diese Alfetta bis dato unrestauriert ist. Die Karosseriestruktur ist ungeschweisst, besonders die neuralgischen Stellen wie um die eingeklebten Scheiben oder die Verstärkungen der vorderen Radhäuser für die Stossdämpferaufnahme, wo das Blech gleich dreifach übereinander liegt, sind intakt.
Einige Arbeiten wird der Besitzer aber demnächst in Angriff nehmen. Die Türkästen wurden schon einmal repariert, nun zeigt sich jedoch wieder Handlungsbedarf. Denn, ja, es gibt sie, die Rostblasen. Aber es sind ehrliche Rostblasen, und ihre Zahl ist überschaubar. Oliver Buzzi wird seine Alfetta diesen Sommer zerlegen und gründlich überholen. Damit wird einem Alfa Romeo eine Kur zuteil, welcher sich in der Begehrlichkeitsskala unverdient viel zu weit hinten einreihen muss. Ein Schicksal, das die Alfetta mit anderen Berlines mit dem Biscione im Kühlerlogo zu teilen hat, besonders wenn man sie mit den überproportional teureren Coupés GT und GTV vergleicht.
Dabei ist die Welt grausam ungerecht. Denn in einem echten Sportwagen lässt sich der in der Alfetta getätigte technische Aufwand ja durchaus noch rechtfertigen. Dieser Alfa Romeo bot sinnigerweise nicht nur die besseren Fahrleistungen als ein vergleichbarer Ford Taunus mit Zweilitermotor, sondern stammte punkto Fahrwerk aus einer anderen Galaxie. Sein Niveau ist schlicht eine mittlere Sensation, Kritiker hätten es auch Wahnsinn nennen können. So oder so ist die Alfetta aussergewöhnlich. Und natürlich gibt es sie heute noch, die Familienautos mit Sportwagencharakter. Aber es sind keine Alltagswagen, die sich in nonchalanter Art am Besten orientieren, was technisch möglich ist, sondern es sind explizite Performancemodelle von ansonsten eher konventionellen Baureihen. Bei der Alfetta war jedes Modell ein Sportmodell – ausser vielleicht die ausserhalb Italiens kaum bekannten Dieselversionen.
Wieso?
Bleibt die Frage, warum ausgerechnet gegen das Ende der Existenz dieses Autos und nicht zu vergessen der Coupévariante GTV die Mailänder Marke dermassen in Schwierigkeiten geriet. So sehr, dass sie zuletzt Zuflucht beim ewigen Kontrahenten aus Turin, bei Fiat, suchen musste. Ein Grund mag die Angst von Alfa Romeo vor dem eigenen Mut gewesen sein. Als man das Progetto 116, die Entwicklung der künftigen Mittelklasse von Alfa Romeo, der Alfetta und später der neuen Giulietta, in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre startete, spaltete der technische Aufwand der neuen Baureihe die Meinungen innerhalb der Geschäftsführung des Mailänder Traditionsunternehmens, das seit 1933 ein Staatsbetrieb war. Die Traditionalisten mochten sich nicht von der genialen, aber langsam in die Jahre gekommenen Giulia trennen und konnten sich durchsetzen. Bei Alfa Romeo wurde deshalb die grössere Schwester der Giulia, die Berlina 1750, im Jahre 1971 noch kurz vor der Lancierung der revolutionären Alfetta zur Berlina 2000 aufgewertet, und auch die Giulia blieb im Programm und mutierte 1974 sogar noch zur Nuova Giulia mit Plastikgrill und gestreckter Heckkante. Sie wurde erst 1978 aus dem Modellprogramm gestrichen.
Den Namen Alfetta für das neue Fahrzeug aber wählte man, um an die Motorsporttradition und überhaupt die Tradition der Marke zu erinnern. Doch damit standen Mitte der 1970er-Jahre gleich drei Baureihen mit ähnlichen Spezifikationen im Modellportfolio, was zur gegenseitigen Kannibalisierung führte. Als die Alfetta ab 1978 endlich alleine zu bestehen hatte, war das Auto, ob modern oder nicht, bereits sechs Jahre alt. Der 1979 vorgestellte Alfa 6, als Limousine ein Misserfolg, brachte zumindest dem Coupé GTV den heute gemeinhin als Busso-Motor bezeichneten V6 und einen zweiten Frühling bis zu seiner Einstellung 1986. Die Alfetta Limousine wich 1984 dem Alfa Romeo 90, der technisch das Konzept übernahm, aber trotz eines Designs von Marcello Gandini (zeichnete auch Lamborghini Miura und Countach) recht farblos wirkte und darum bereits 1987 vom 164 abgelöst wurde.
Heute aber ist die Alfetta in ihrer Schlichtheit, mit ihrer Kompromisslosigkeit zugunsten technisch feiner Lösungen statt produktionsoptimierten Einheitsbreis in ihrer Ernsthaftigkeit als sportlich zu fahrender, vollwertiger Familienwagen eine Perle. Und gerade in ihrer ursprünglichen, als 1.6 sogar abgespeckten Version zeigen sich ihre
Qualitäten. Vielleicht sollten sich die neuen Herren über Alfa Romeo einfach eine frühe Alfetta besorgen, damit ein paar Runden drehen, sich in einem Strassencafé davor setzen und etwas in sich gehen.