Die Italiener haben das Sprichwort: «Chi va piano, va sano e va lontano.» Die Weisheit lobt die ruhige und tugendhafte Lebensweise und könnte auch als Mantra der E-Mobilität dienen, bei welcher die Reichweite eine zentrale Rolle spielt. Polestar scheint das begriffen zu haben. Die chinesisch-schwedische Marke offeriert eine Variante des Polestar 2 mit weniger PS, dafür aber mit einer grösseren Reichweite. Die Ausführung Single Motor muss mit etwas mehr als der Hälfte der Kräfte der Version Dual Motor auskommen (170 kW / 231 PS statt 300 kW / 408 PS). Die doppelte Reichweite sucht man natürlich vergebens. Die Nobelmarke der Geely-Gruppe verspricht 540 Kilometer, bis die 78-kWh-Batterie leer ist. Der Bruder mit zwei E-Maschinen soll 482 Kilometer weit kommen.
Ob mit einem oder zwei Motoren, die Aufmachung des Wagens bleibt gleich. Die Verantwortlichen wollten der schwächeren Version die Scham des erkennbar ärmeren Bruders ersparen. Schliesslich reiht sich die Marke Polestar im chinesischen Konzern nicht hinter Volvo ein, sondern stellt ganz im Gegenteil die Spitze dar.
Die Familienzugehörigkeit mit der schwedischen Marke ist nicht zuletzt an der Lichtsignatur der serienmässigen LED-Scheinwerfer in Form von Thors Hammer ersichtlich. Die Parallelen sind so ausgeprägt, dass man unweigerlich nach dem Volvo-Logo am Kühlergrill Ausschau hält. Wir haben aber keinen Zweifel daran, dass das Label Polestar im Lauf seiner Karriere eine eigene Identität etablieren wird. Ein guter Anfang ist mit bestimmten Details wie dem durchgehenden LED-Rückleuchtenband am Heck bereits gemacht. Augenfällig sind auch die rahmenlosen Seitenspiegel. Es braucht aber etwas länger, die perfekte Sitzposition zu finden, die Stellung der Pedale und der Sitz ist nicht ideal. Ansonsten ist der Innenraum allen Volvo-Fahrern bestens vertraut. Das Lenkrad und die Ablagefläche vor dem Beifahrer stammen aus dem schwedischen Konzernregal.
Eine Prise Google
Die Bildschirmpräsentation ihrerseits kennen alle, die schon einmal mit Google hantiert haben. Tatsächlich steckt hinter dem Interface des Polestar die allgegenwärtige kalifornische Suchmaschine. Alle Funktionen wie Radio, Telefon und Ähnliches werden in Form von Apps angezeigt. Die Präsentation lässt sich über Downloads von Google Play ausbauen. Logischerweise übernimmt Google Maps die Navigation. Der Vorteil dabei ist, dass das Produkt aus Mountain View Staus und Strassenbedingungen mitberücksichtigt und die Fahrtdauer in Echtzeit berechnet. Google Maps überwacht auch den Batterieladezustand am Zielort und empfiehlt dem Fahrer, wann ein Ladestopp vorzusehen ist. Der Testwagen hatte leider oft Mühe, die Satellitenverbindung herzustellen, was gelegentlich bis zu 20 Minuten lang dauern konnte. Das kann zu ungemein viel Stress führen, wenn man nicht weiss, wo man ist.
Wenn wir schon bei der Kritik am Tablet sind: Schade, dass das System keine Abkürzungstasten vorsieht. Man ist gezwungen, immer über das Basismenü zu gehen, selbst wenn man nur das Radio oder das Navi neu einstellen will. Zum Glück reagiert der Bildschirm im Querformat rasch und zuverlässig. Seine Integration in das betont horizontal ausgelegte Armaturenbrett ist Geschmackssache, doch die dreidimensionale Präsentation gefällt gut. Die Einlagen mit Textilien sorgen für eine bestimmte Originalität. Die Berührungsprobe einiger weniger gut sichtbarer Oberflächen bringt auch billigere Plastikteile zum Vorschein, aber Polestar bietet doch angenehmere Materialien als Tesla. Auch sonst gibt sich der Polestar 2 – bei dem der Fahrer eine echte Instrumentenanzeige im Blickfeld hat – zwar modern, aber konventioneller als der Model 3. Das ist eigentlich nur logisch, denn die Entwickler bedienten sich des Unterbaus des Volvo XC40. Das hat aber auch seine Schattenseiten: Während Tesla die Batterien unter dem Fahrzeugboden unterbringen konnte, mussten die Polestar-Techniker die Akkus dort verstauen, wo es gerade Platz hatte. Für den mittleren Rücksitzpassagier wirkt sich das in einem sehr störenden Mitteltunnel zwischen den Füssen aus. Der Polestar 2 kann beim Platzangebot zwar nicht mit dem Tesla Model 3 mithalten, aber eng wird es auch hier nie. Sein Gepäckraumvolumen erreicht mit 405 Litern deren 20 weniger als beim Tesla, bietet aber eine motorisierte Heckklappe. Gut finden wir auch das geräumige Fach unter dem Kofferraumboden, in dem die Ladekabel untergebracht werden können.
Kinderkrankheiten
Das Mitführen des Kabels erwies sich für die AUTOMOBIL REVUE übrigens als Rettung. Wir mussten uns gelegentlich mit Ladestationen vom Typ 2 zufriedengeben, weil sich der Testwagen mehrmals weigerte, den Saft aus potenten Schnellladesäulen zu beziehen. Dieses unberechenbare Fehlverhalten hatten wir bereits anlässlich des Tests der Version Dual Motor beanstandet.
Zum Glück muss man die Ladestationen nicht allzu häufig aufsuchen. Gemäss dem Verbrauch auf der AR-Normrunde von 21.3 kWh/100 km ergibt sich eine Reichweite von 360 Kilometern. Das ist ein respektables Ergebnis, das aber gegenüber der Werksangabe von 540 Kilometer weit abfällt. Kommt hinzu, dass sie auch kaum besser ist als beim Dual Motor, wo wir eine Reichweite von 330 Kilometern ermittelt haben. Dieser Vergleich hinkt allerdings etwas, denn der Dual Motor durchlief den Test bei deutlich vorteilhafterem Wetter im Frühling. Dennoch ist festzuhalten, dass schon die Basisversion des Tesla Model 3 die gleiche Reichweite bietet wie der Polestar Long Range, der der Marathonspezialist des Sortiments sein soll.
Der US-Amerikaner doppelt zudem mit einem deutlich lebendigeren Temperament nach, auch wenn der Polestar 2 – trotz nur eines Motors – kein lahmer Gaul ist. Im Test verstrichen von 0 bis 100 km/h nur 7.4 Sekunden, was für den täglichen Gebrauch ausreicht. Beim Fahrverhalten schenken sich Model 3 und Polestar 2 nichts. Beide sind komfortabel, fahrsicher und … nicht gerade sportlich. Bei Tesla monierten wir den Mangel an Kommunikation der Lenkung, bei Polestar agiert diese unpräzise und wenig progressiv. Eine Spitzenleistung erbringt der Testkandidat mit seiner ausgezeichneten Lärmisolierung.
Unser Testwagen war mit fast 57 000 Franken angeschrieben, was bei gleicher Ausstattung einen Nachlass von rund 10 000 Fanken gegenüber dem Dual-Motor-Zwilling ausmacht. Mit ihren befriedigenden Fahrleistungen und der grossen Batterie hat die Single-Motor-Version gute Argumente, als ausgewogenste im Portfolio hervorgehoben zu werden. Den Tesla schlägt der Prüfling in Sachen Alltagsnutzen, hinkt aber in Sachen Fahrleistung, Platzangebot, Reichweite und Preis hinterher. Das chinesisch-schwedische Produkt zielt auf den Premiummarkt, dafür verlangt er aber zu viele Eingeständnisse bei der Effizienz und leidet zudem unter einigen Kinderkrankheiten.
Testergebnis
Gesamtnote 73.5/100
Antrieb
Die Leistung ist zwar geringer, reicht aber für alle Strassenverhältnisse aus. Die Leistung jedoch ist weniger brillant als die eines Model 3. Dasselbe gilt für die Effizienz.
Fahrwerk
Das Fahrwerk ist komfortorientiert und passt gut zur Typologie des Autos. Die sehr unpräzise Lenkung wird Ihre sportlichen Impulse zügeln.
Innenraum
Wenn man von einigen unglücklichen Kunststoffen absieht, glänzt der Polestar 2 im Innenraum. Die Geräuschdämmung ist erstklassig. Der Kofferraum ist ordentlich, allerdings auch nicht mehr.
Sicherheit
Moderne Fahrhilfen sind vorhanden, doch der Spurhalteassistent agiert nervös, was manche dazu verleiten dürfte, ihn auszuschalten.
Budget
Der Polestar 2 Long Range Single Motor ist ein guter Kompromiss in der Modellpalette. Er ist jedoch teurer als sein direkter Konkurrent aus den USA.
Fazit
Der Polestar 2 Long Range Single Motor ist nicht nur eine gute Alternative für diejenigen, die Elon Musk nicht mögen. Er präsentiert sich als ein komfortablerer Vorschlag mit einem gepflegteren Innenraum und einer konventionelleren Ergonomie. Allerdings kämpft der chinesisch-schwedische Wagen mit einigen Kinderkrankheiten und einem Elektroantrieb, der weniger leistungsfähig und effizient ist als derjenige seines Rivalen.
Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.