Autor: Reiner Kuhn
Von 1. bis 14. Januar 2022 tobt die Rallye Dakar zum dritten Mal in ihrer Geschichte durch Saudi-Arabien. 1065 Teilnehmer aus 63 Nationen auf 578 Fahrzeugen in fünf Kategorien von Motorrädern bis zu Trucks sind für die 14-tägige Marathonrallye gemeldet. Darunter sind Werksteams von KTM über Toyota bis zum russischen LKW-Spezialisten Kamaz und erstmals: Audi. Von wegen Surfers’ Paradise – die Wüste ist für die Ingolstädter Werkssportler echtes Neuland. Mehr noch als durch feinen Sand, hohe Dünen oder grobe Schotterpisten sind die Audi-Ingenieure aber durch die Komplexität ihres Einsatzgerätes gefordert.
Denn getreu dem Firmenmotto «Vorsprung durch Technik» will Audi einmal mehr eine neue Ära einläuten. Nach dem Einstieg mit dem Quattro in die Rallye-WM (1981) sowie den ersten Le-Mans-Siegen mit einem Selbstzünder (2006) oder elektrifiziertem Antrieb (2012) schickt Audi nun einen innovativen Geländerenner in die Wüste. Das mittelfristige Ziel: der Gesamtsieg bei der Königin aller Marathonfahrten. «Unser RS Q E-Tron ist in Rekordzeit auf einem weissen Blatt Papier entstanden», sagt Julius Seelbach, Geschäftsführer von Audi Sport.
Bloss nicht die Konkurrenz verprellen
Vom grünen Licht über die Konzeption, Entwicklung und Testphase bis zum ersten Dakar-Auftritt in wenigen Tagen werden nur 15 Monate vergangen sein. Reichlich wenig, gerade für so ein komplexes Fahrzeug. Die beiden Achsen unter dem Karbonkleid des futuristischen und rund zwei Tonnen schweren Allradboliden werden jeweils von einer eigenen Elektroantriebseinheit, im Fachjargon Motor-Generator-Unit (MGU), angetrieben. Die maximale Systemleistung des E-Antriebs liegt zwar bei 500 kW, bei der Rallye Dakar dürfen die Audianer laut Reglement aber nur maximal 288 kW abrufen, um in der neugeschaffenen Topklasse T1+ auch weiterhin Chancengleichheit mit der von V6-Turbo- oder V8-Saugmotoren angetriebenen Konkurrenz zu gewähren und diese nicht zu verprellen.
Auch deshalb gilt das Hauptaugenmerk der Ingenieure dem Zusammenspiel mit dem ebenfalls an Bord befindlichen Range-Extender (Reichweiten-Verlängerer). Dem in der Audi- Marketingsprache nun Energiewandler genannten, knapp 100 Kilogramm schweren Zweiliter-Vierzylinder-TFSI-Motor aus der DTM stehen maximal 300 Liter Sprit zur Verfügung, um über eine baugleiche, dritte aus dem Formel- E-Monoposto übernommene MGU die 375 Kilogramm schwere Hochvoltbatterie mit einer Kapazität von 52 Kilowattstunden während der Fahrt aufzuladen. Da der Verbrennungsmotor dabei im effizienten Drehzahlbereich zwischen 4500 und 6000 U/min betrieben wird, liegt der spezifische Verbrauch unter 200 Gramm pro Kilowattstunde.
Dieser Technikmix ist für die Konstrukteure eine riesige Herausforderung, wie sich beim exklusiven Besuch bei Audi Motorsport in Neuburg (D) zeigte. Schnell wird klar: Im Motorsport geht es um das Management von Temperaturen, egal ob bei den Reifen, der Kraftübertragung oder den Antriebsquellen. So sind nicht nur im vorderen Delta des Gitterrohrrahmens, sondern auch im Fahrzeugheck mehr oder weniger raumgreifende Kühler platziert. Sechs verschiedene Kühlkreisläufe sind es insgesamt, vom Hochtemperatur-System für den DTM-Motor über getrennte Niedertemperatur-Kreisläufe für Ladeluftkühler, Getriebe, Lenkung sowie die drei Elektromotoren (alle mit Wasser), das mit Novec-Kühlflüssigkeit arbeitende Niedertemperatur-Kühlsystem für die Hochvoltbatterie bis zur Klimaanlage, die ebenfalls mit einer speziellen Flüssigkeit betrieben wird. «Ich glaube, das ist eines der komplexesten Autos, das ich je gesehen habe», sagt Sven Quandt, als Teamchef von Q-Motorsport für den Einsatz verantwortlich.
Die Dakar-Konkurrenten von Audi
Mit seinem Experimentalfahrzeug tritt Audi in der neu geschaffenen Topklasse T1+ an und trifft dort auf drei Mitbewerber. Die britische Edelschmiede Prodrive stellte schon im Sommer die Weiterentwicklung seines Hunter genannten Allradboliden für die BRX-Teamkollegen Sébastien Loeb, Nani Roma und Orlando Terranova vor. Der von einem rund 390 PS starken 3.5-Liter-V6-Biturbo angetriebene Wüstenrenner kommt nun mit grösseren Rädern (37-Zoll-Reifen auf 17 Zoll-Felgen statt 32-Zoll-Reifen auf 16-Zoll-Felgen), grösseren Federwegen (350 statt 280 mm) und einer breiteren Spur unter dem nun um 30 Zentimeter auf 2.30 Meter Breite angewachsenen Karosseriekleid daher. Darüber hinaus haben die Briten die Antriebswellen, Kardanwelle und Differenziale modifiziert und die Windschutzscheibe vergrössert.
Ebenfalls zum engeren Favoritenkreis um den Gesamtsieg zählt das offizielle Toyota-Gazoo-Team aus Südafrika. Das von Glyn Hall geleitete Einsatzteam bringt drei nochmals optimierte Toyota Hilux für die Dakar-Experten Nasser Al-Attiyah, Giniel De Villiers und Henk Lategan an den Start.
Der ehemalige Junioren-Rallye-Weltmeister Martin Prokop aus Tschechien wechselt mit einem in Eigenregie aufgebauten und 370 PS starken Ford F150 (Fünfliter-V8–Sauger) ebenfalls in die Klasse T1+, während die zuletzt siegreichen Mini, egal ob Allrad- oder Buggyversionen, des X-Raid-Teams sowie die ehemaligen Werks-Peugeot, die nun in Privatteams starten, weiter nach dem bisherigen T1-Reglement antreten.
Die besondere Herausforderung
«Wir wussten von Anfang an um unseren ambitionierten Zeitplan», erklärt Benedikt Brunninger, bei Audi Motorsport für das Dakar-Projektmanagement verantwortlich, und sieht das reibungslose Zusammenspiel aller Systeme als besondere Herausforderung. «Natürlich hätten wir vor dem Dakar-Debüt gerne einen Testlauf unter Wettbewerbsbedingungen bestritten, aber am Ende war es wichtiger, alle Energie in die Entwicklung und optimale Vorbereitung der drei RS Q E-Tron zu stecken. So haben sich beim Testen noch einige grössere und kleinere Änderungen ergeben. Das reichte von einer anderen Lösung bei der Getriebeölkühlung bis zu einer Unregelmässigkeit am Inverter, die wir bis zum Rallyestart bei allen Bauteilen beheben werden», verrät Brunninger.
Mindestens ebenso wichtig: «Bei den Tests haben unsere Spezialisten vor Ort alle gesammelten Informationen und Daten analysiert und von Tag zu Tag neue Software-Updates aufgespielt.» Das gilt nicht nur für die Antriebseinheit, das Brems-Rekuperationssystem oder das virtuelle Mitteldifferenzial. «Selbst der Scheibenwischermotor hat eine eigenen Software», weiss der leitende Ingenieur Arnau Niubo Bosch, der bei den Tests in Spanien und Marokko Hand in Hand mit den in einem eigenen Zelt agierenden Software-Experten arbeitete.
Ein kurzer Shakedown muss reichen
Über 8000 Testkilometer an knapp 30 Testtagen haben die drei Audi-Werksfahrer Stéphane Peterhansel (F), Carlos Sainz sen. (E) – beide schon mehrmalige Dakar-Sieger – und Mattias Ekström (Schweden) abgespult. Bei der zweiten Testsession Anfang November in Marokko wurden letzte Schwachstellen ausgemacht und die finalen Spezifikationen aller Teile für die drei Einsatzwagen, aber auch für den unabdingbaren Ersatzteilbestand für die zweiwöchige Wüstentour festgelegt. Nach einem Rollout in Neuburg Anfang Dezember und einem kurzen Test in Südeuropa reisten die drei RS Q E-Tron per Luftfracht nach Saudi-Arabien. Für einen echten Proberitt unter Wettbewerbsbedingungen bleibt auch dort keine Zeit. Ein kurzer Shakedown am 28. und 29. Dezember muss reichen, bevor es zur technischen Abnahme geht und am Neujahrstag die Rallye Dakar beginnt.
Die Route der Rallye Dakar
Nach 29 Wüstentouren durch Afrika und elf Gastspielen in Südamerika führt die 44. Ausgabe der Rallye Dakar nunmehr zum dritten Mal in Folge durch Saudi-Arabien. Auf dem Programm stehen von 1. bis 14. Januar 8375 Gesamtkilometer mit zwölf Tagesetappen über insgesamt 4258 Wertungskilometer. Zwar ist die Hafenstadt Dschidda erneut Start- und Zielort, 70 Prozent der Strecke sind jedoch neu. Nach der ersten Rallye-woche folgt zur Halbzeit ein Ruhetag in der Hauptstadt Riad.