Bundesrats-Booster für Tempo 30

Die Landesregierung will die Regeln für die Einführung von Tempo-30-Zonen ändern. Die Vorlage aus dem Hause Sommaruga beinhaltet zwei unterschiedliche Botschaften.

Autor: Daniel Riesen

Der Bundesrat hat letzte Woche entschieden, wie es mit Tempo-30-Zonen in der Schweiz weitergehen soll. Da die Nachricht aus mehreren Teilen besteht, kann man die beliebte Frage stellen: Was möchten Sie zuerst hören, die gute oder die schlechte Nachricht? Beginnen wir mit dem aus Sicht vieler Automobilisten schlechten Element des Entscheids: Die Landesregierung steht hinter der Absicht von Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga (SP), die Umsetzung neuer Tempo-­30-­Zonen zu vereinfachen. Im Entwurf zur Signalisationsverordnung (SSV) wird zu diesem Zweck eine Hürde abgebaut, nämlich die Vorgabe, dass für jede neue 30er-Zone ein Gutachten erstellt werden muss.

Im Verordnungsentwurf der Verkehrsministerin ist noch eine zweite schlechte Nachricht versteckt, aber kommen wir, um die Übersicht zu behalten, zuerst zum positiven Teil. Im Verordnungs-Originaltext heisst das so: «Die Signale ‹Tempo-30-Zone›, ‹Begegnungszone› und ‹Fussgängerzone› sind nur auf nicht-verkehrsorientierten Nebenstrassen zulässig.» Das heisst, es wird erstens nun auch im Strassenverkehrsrecht klar unterschieden zwischen verkehrsorientierten Strassen (Durchgangsstrassen) und siedlungsorientierten Strassen und zweitens der Grundsatz postuliert, dass auf Durchgangsstrassen weiterhin Tempo 50 die Norm bleiben soll.

Bis hierher und nicht weiter

Dies steht im Gegensatz zu Wünschen des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) und der sozialdemokratischen Nationalrätin Gabriela Suter, die in ihrer (im Rat noch nicht behandelten) parlamentarischen Initiative Tempo 30 als das neue Normal fordert (hier zum Bericht). Insofern kann das Wort aus dem Bundesrat auch als «bis hierher und nicht weiter» interpretiert werden. 

Das in diesem Geschäft federführende Bundesamt für Strassen (Astra) begründet das Festhalten an Tempo 50 auf verkehrsorientierten Strassen folgendermassen: «Damit wird sichergestellt, dass die Funktionen des übergeordneten Verkehrsnetzes nicht gefährdet werden und der Verkehr auf diesem übergeordneten Netz bleibt.» Verkehrsverbände wie der TCS tendieren schon länger in diese Richtung: pragmatisches Akzeptieren der politischen Verhältnisse in den meist rot-grün regierten Städten, aber Warnung vor Abkürzungen durch die Quartiere, wenn auch auf den Hauptstrassen Tempo Schleichverkehr verordnet wird.

Es geht immer noch langsamer

Die Gefahr, dass Automobilisten wie Wasser den geringsten Widerstand wählen und bei Tempo 30 auf Hauptachsen einfach wieder die Abkürzung durchs Quartier wählen, sehen die Tempo-30-Befürworter natürlich auch. Doch haben sie dafür längst einen weiteren Pfeil im Köcher, die Stadt Winterthur ZH hat dies so schon eingeplant: Kommt Tempo 30 auf den verkehrsorientierten Strassen, werden die 30er-Zonen einfach zu Begegnungszonen mit Beschränkung auf Tempo 20 und Fussgängervortritt umgebaut.

Aus all diesen Gründen kann die SVP mit dem Vorschlag dennoch wenig anfangen. Man habe es mit dem «bekannten überheblichen Gehabe» aus dem Departement Sommaruga zu tun, das seine ideologische Agenda fortsetze, schrieb die Partei in einer Mitteilung. Tempo 30 verursache mehr Stau, mehr Umweltbelastung und behindere den öffentlichen Verkehr.

Bremse für den ÖV

Der Punkt mit dem ÖV ist den links-grünen Mehrheiten in den Städten in der Tat eher unangenehm. Während dort die Fahrzeitverluste für den Individualverkehr mit Sekunden beziffert und kleingeredet respektive hinter der Kulisse wohlwollend einkalkuliert werden, redet man beim ÖV lieber nicht darüber. Besonders nicht über die Zusatzkosten für Busse, Trams und Personal aufgrund aus dem Takt fallender Fahrpläne. Längere Fahrzeiten und höhere Kosten, das ist wahrlich kein ÖV-Förderprogramm. Deshalb äussern der Verband öffentlicher Verkehr wie auch Litra, der Infodienst der ÖV-Betriebe, deutliche Kritik. Jedenfalls am flächendeckenden Tempo 30. Wie der Bundesrat möchten auch die ÖV-Vertreter zumindest die verkehrsorientierten Strassen bei Tempo 50 belassen.

Die Unterscheidung in siedlungs- und verkehrsorientierte Strassen hat Mauro Tuena, Präsident der Stadtzürcher SVP und Nationalrat, sehr wohl zur Kenntnis genommen. Er traut dem Braten aber nicht: «Das gibt Probleme mit der Abgrenzung, das ist viel zu schwammig formuliert», sagte er in einer Diskussionssendung von Tele Züri. Seine Prognose lautet deshalb: «Tritt die Verordnung so in Kraft, werden die Städte locker und fast flächendeckend 30er-Zonen einführen.»

Tuenas Einschätzung scheint plausibel. Zumindest dürfte das Wegfallen der Gutachtenpflicht die Verfahren zu Tempo 30 beschleunigen, «Bürokratieabbau» nennt dies die Grünen-Nationalrätin Marionna Schlatter. Weiteren Schub dürfte diese im grünen Lager erhoffte Beschleunigung der Langsamkeit im Strassenverkehr durch einen Passus im Verordnungsentwurf erhalten, der in den (wenigen) Medienberichten zum Thema kaum auftauchte: Erleichtert wird nämlich auch die Begründung der Tempobeschränkungen.

Neuer Grund für Tempo 30

Bislang sind es drei Aspekte, die eine 30er-Abweichung von der 50er-Norm erlauben: Verkehrssicherheit, Umweltbelastung (früher Abgase, heute meist Lärm) und Verbesserung des Verkehrsflusses. Neu hinzu kommen «weitere in den örtlichen Verhältnissen liegende Gründe, wie etwa die Verbesserung der Lebensqualität», wie es im Erläuternden Bericht zum Vernehmlassungsverfahren heisst. Die Umfrage bei Parteien, Verbänden und Behörden dauert bis 25. Februar 2022. Eine Steigerung der Lebensqualität anzuführen, wird den rot-grünen Planungsämtern der Städte leicht fallen, das ist keine gewagte Prognose.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge dürften diverse Planungsbüros – in Städten werden sie teils auch von der Verwaltung erstellt – auf die Verordnungsänderung blicken. Jene, die bislang die fraglichen Gutachten verfassten. Weinend, weil damit Aufträge wegfallen, lachend, weil diese Verkehrsplaner Tempo 30 grossmehrheitlich positiv gegenüberstehen.

Die Tempo-30-Gutachten hätten mittlerweile einen gewissen Routinecharakter gewonnen, weiss auch Marco Kindler von C+S Ingenieure aus dem Kanton Bern. Ein solches Gutachten sei nicht unbedingt eine Riesenarbeit. Darin gehe es einerseits um die Begründung, andererseits um die Umsetzbarkeit inklusive Vorschläge bezüglich sinnvoller Möblierung des Abschnitts oder der Zone. In der Erfolgskontrolle wird darauf geachtet, dass 85 Prozent der Autos und Töffs nicht schneller als 35 km/h fahren. Homogene und niedrige Geschwindigkeit verbesserten unstrittig die Sicherheit, ist Marco Kindler überzeugt. In welchem Mass das geschehe, sei indes unterschiedlich. «Viele der Quartier- und Nebenstrassen weisen schon bei erlaubten 50 km/h in der Realität ein deutlich tieferes Geschwindigkeitsniveau auf.»

Insgesamt schätzen Fachleute die Tragweite des Verzichts auf die Gutachten als nicht allzu gross ein. Zumal die Anordnung einer Tempo-30-Zone von den Behörden nach wie vor verfügt und veröffentlicht werden muss und Betroffene weiterhin Einsprache erheben können. Allerdings wird der Kreis der Einspracheberechtigten meist eng gezogen – Pendler, die durch eine Abfolge von 30er-Abschnitten längere Arbeitswege in Kauf nehmen müssen, gehören in der Regel nicht dazu.

Übrigens ist in der Signalisationsverordung ausdrücklich auch vorgesehen, dass die Innerorts-Regelgeschwindigkeit auch heraufgesetzt werden kann (Art. 108, Abs. 3). Dieser Passus sei hier abgedruckt, damit sich die Verkehrsplaner auch daran wieder erinnern – die Hoffnung stribt ja zuletzt: «Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit kann auf gut ausgebauten Strassen mit Vortrittsrecht innerorts hinaufgesetzt werden, wenn dadurch der Verkehrsablauf ohne Nachteile für Sicherheit und Umwelt verbessert werden kann.»

Förderung von Carpooling

Mit der Änderung der Signalisationsverordnung will der Bund ein neues Symbol einführen und damit die Bildung von Fahrgemeinschaften (Carpooling) fördern. Eingesetzt werden könnte das Symbol «Mitfahrgemeinschaften» einerseits auf Fahrspuren, andererseits auf Parkplätzen. Auf Letzteren dürften nur noch Autos abgestellt werden, die sowohl bei der Zu- wie auch bei der Wegfahrt minimal mit der auf dem Symbol markierten Anzahl Passagiere besetzt sind.

Vorteile beim Vorankommen bietet das Carpooling versuchsweise bereits im Umfeld der Grenzzoll-Anlagen in Genf und im Tessin, die Grenzgänger freuen sich über plötzlich wieder freie Fahrt. Potenzial sieht Astra-Direktor Jürg Röthlisberger auch auf Busspuren. Heute dürfen diese oft ganztags von Velos und Taxis mitbenutzt werden. Künftig wäre etwa denkbar, diese ausserhalb der Stosszeiten freizugeben. «In grossen Städten wie Zürich stehen die Autos auch dann noch im Stau, wenn der ÖV auf Nachtbetrieb geschaltet hat», so Röthlisberger.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.