Es klingt wie eine Saga aus längst versunkenen Tagen, wie ein Abstimmungsergebnis aus dem Wunschprogramm hartgesottener Autofans: Vier von fünf Stimmenden lehnten Tempo 30 ab. Hochkant wie selten eine Initiative wurde der Vorstoss «Strassen für alle» vom Stimmvolk versenkt. Nicht in den goldenen Zeiten des Automobils in den 1950er- oder 1960er-Jahren. Sondern im März 2001, also vor gerade einmal 20 Jahren. Selbst in den Städten fanden sich noch keine Mehrheiten (Zürich 35 % Ja-Stimmen, Bern 40 %). In vielen ländlichen Gemeinden lag die Zustimmungsquote dagegen im einstelligen Bereich. In Brione TI im Verzascatal, waren es zwei Stimmende oder 3.2 Prozent.
Punktuell 30 – so schnell läuft ein gut trainierter 400-Meter-Läufer – sei ja gut und recht, so damals der Tenor, so viel ist uns die Sicherheit von Schülern oder Altersheimbewohnern wert. Gut 79 Prozent der Stimmenden waren aber auch der Auffassung, dass die flächendeckende Einführung von Tempo 30 übers Ziel hinausschiessen würde.
Trotz Abstimmung: «Tempo 30 die Norm»
Inzwischen aber sind wir, zumindest gefühlt, dem Ziel der hochkant versenkten Initiative doch schon recht nahe gekommen. Tempo 30 in städtischen Quartieren ist längst die Norm. Jenseits von Stadt und Agglo sieht die Welt noch etwas anders aus, doch so tief wie einst ist der Stadt-Land-Graben bei Tempo 30 auch nicht mehr. Wer einen Blick auf die Verteilung im Kanton Zürich (map.zh.ch) wirft, erblickt auch rund um die Städte zahlreiche orange Zonen, die eben für Tempo 30 stehen. Grund genug für die «Neue Zürcher Zeitung» schon vor drei Jahren zu folgern: «Tempo 30 wird zur Norm.»
Auch im Kanton Bern ist die Entwicklung rasant: 1994, fünf Jahre nachdem der Bund Tempo-30-Zonen gesetzlich ermöglicht hatte, bestanden rund hundert Tempo-30-Strassen und -Zonen. 2010 bestanden gemäss Zahlen der Bau- und Verkehrsdirektion rund 300 solcher Zonen auf Gemeinde- und sieben auf Kantonsstrassen. Letztes Jahr nun: rund 550 auf Gemeindestrassen, deren 27 auf Kantonsstrassen.
Nah am Status flächendeckend ist schon bald auch die Stadt Freiburg: Laut dem Willen der Stadtregierung wird auf 75 Prozent der Strassen das Limit bald nur noch 30 km/h betragen. Gegen dieses forsche Vorgehen allerdings regt sich auch Widerstand (s. Box). Vereinfacht könnte man sagen: Bei Anwohnern ist Tempo 30 in der Regel beliebt, bei allen anderen, sei es beim Pendler oder beim Busfahrer, eher weniger. Es gilt gewissermassen das umgekehrte Sankt-Florians-Prinzip.
Der neue Hebel: Lärmschutz
Die Befürworter von Tempo 30 führen massgeblich drei Argumente ins Feld: Verkehrssicherheit, Verkehrslenkung und Lärmschutz. Dabei haben sich die Gewichte hin zu Fragen der Lärmminderung verschoben. Nach heutiger Rechtsprechung reicht Lärmminderung heute als ausschliessliche Begründung für die Einführung einer Tempo-30-Beschränkung. Basis ist die Lärmschutzverordnung, die Behörden, konkret die Gemeinden, zum Handeln verpflichten, wenn gewisse Immissionsgrenzwerte überschritten werden. Tempo 30 ist eine vermeintlich günstige Lösung zur Zielerreichung. Vermeintlich deshalb, da früher oder später bauliche Massnahmen erforderlich sind, weil es für die gewünschte Verlangsamung nicht genügt, einfach nur das 50er- durch ein 30er-Schild zu ersetzen.
Kaum bestreitbar ist, dass ein langsamer fliessender Verkehr tendenziell weniger Geräusche verursacht. Werden Schikanen – ob Blumentöpfe oder strategisch angebrachte Parkplätze – eingebaut, kann der Stop-and-go-Verkehr natürlich auch das Gegenteil bewirken.
Kontrollmessungen werden nach Einführung neuer Tempo-30-Abschnitte immer wieder vorgenommen. So in der Stadt Zürich, wo 2019/20 auf mehreren Abschnitten der Lärm erfasst wurde. Dabei zeigte sich eine Reduktion tagsüber um 0.6 (nicht wahrnehmbar) bis 2.9 Dezibel und 1.1 bis 3.1 Dezibel in der Nacht. Drei Dezibel Unterschied sollen von Menschen wie eine Halbierung des Verkehrsaufkommens empfunden werden. Auch Kontrollmessungen in anderen Gemeinden offenbaren eine Lärmreduktion von 1.5 bis 2.5 Dezibel.
In der Nacht lieber langsam
Durchaus noch Potenzial (in den Augen der Befürworter) respektive Gefahr (für jene, die 50 für angemessen halten) hat die Idee nächtlicher Beschränkungen. In der Stadt Zürich ist das Tempo derzeit auf vier Strassen zugunsten nächtlicher Ruhe auf 30 km/h begrenzt. Ein richtig grosses Projekt liegt in den Schubladen der Lausanner Behörden: eine praktisch flächendeckende Beschränkung auf Tempo 30 von 22 bis sechs Uhr. Seit einem Jahr wartet man in der Waadt nun nach einer Beschwerde auf das Urteil des Verwaltungsgerichts.
Die Welle also rollt weiter, unter anderem gestützt durch Gemeindebehörden. So lässt sich von der Homepage der Stadt Winterthur ZH ein Flyer herunterladen, der sich wie eine Bedienungsanleitung liest für die Einreichung von Tempo-30-Wünschen. Der Trend sei ungebrochen, heisst es auch in der kantonalbernischen Verkehrsdirektion. Oft üben die Kantone eine gewisse bremsende Wirkung aus, weil sie die Anträge aus den Gemeinden bewilligen müssen und dabei an den gesetzlichen Rahmen gebunden sind. Allerdings bedauern Kritiker, dass die Bewilligungsinstanzen den Kreis der Einspracheberechtigten sehr eng fassen. So sind im Kanton Bern meist nur die Anwohner einer Strasse zum Verfahren zugelassen, nicht aber Benutzer und Pendler, selbst wenn sie keine Ausweichmöglichkeit haben.
Einen bremsenden Sonderfaktor gibt es zudem im Kanton Zürich, wo seit vier Jahren in der Verfassung verankert ist, dass ein Kapazitätsabbau an einer Stelle andernorts wieder kompensiert werden muss.
Vorstoss für «Generell 30»
Die Bremswirkung der Verfahren – jeder neue Tempo-30-Abschnitt erfordert einen separaten Antrag – allerdings soll wegfallen. Jedenfalls wenn es nach dem Willen von Nationalrätin Gabriela Suter (SP/AG) geht. Sie fordert in einer parlamentarischen Initiative generell 30 innerorts. Ausnahmen auf Hauptstrassen und verkehrsorientierten Achsen sollen möglich und besonders gekennzeichnet werden. Vorbild sind ihr die Niederlande, die unlängst ein ähnliches Regime eingeführt haben. Die Chancen im parlamentarischen Prozess? Dann wohl doch eher gering.
Wobei man sich in Fragen der Verkehrspolitik längst nicht mehr auf eine «bürgerliche Front» verlassen könne, wie Reto Cavegn beobachtet hat. Der scheidende Geschäftsführer der TCS-Sektion Zürich, Routinier aus Hunderten von Einspracheverfahren in Verkehrsfragen und früherer FDP-Kantonsrat sagt es trocken-direkt: «Auch Bürgerliche haben es gerne ruhig.» Das fügt sich ein in eine politische Landschaft, in der links-grüne Anliegen bis weit in die Mitte der Gesellschaft Akzeptanz finden und eine Grüne als Kanzlerin in Deutschland ab Herbst dieses Jahres durchaus denkbar ist.
Bei dieser Stimmungslage ist es nicht verwunderlich, dass auch ACS und TCS den allgemeinen Widerstand gegen Tempo 30 aufgegeben haben. Erwartbar war das beim Touring Club Schweiz, der sich für alle Arten der Mobilität einsetzt. Und eine pragmatische Synchronisierung mit der Realität beim Automobil Club der Schweiz, der sich als Lobby für den motorisierten Individualverkehr versteht.
Seit der Abstimmung von 2001 habe sich die Schweiz massiv verändert, sagt Thomas Hurter, Nationalrat (SVP/SH) und Präsident des ACS. Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum brächten Verkehrswachstum mit sich, da seien Anpassungen in der Regelung des Verkehrs durchaus gerechtfertigt. Hurter hält aber auch fest, dass die Politik, das Auto mit diversen Massnahmen aus den Städten zu vertreiben, Auswirkungen aufs wirtschaftliche Gefüge habe. «Damit werden auch das Gewerbe und Läden des Alltagsbedarfs vertrieben. Wissen Sie, wo es in der Stadt noch eine Schraube zu kaufen gibt?»
Rein rechnerisch verliert man bei Tempo 30 beinahe fünf Sekunden pro 100 Meter Fahrstrecke, im städtischen Kriechverkehr sind es aber eher eine bis drei Sekunden. Doch nicht hauptsächlich deswegen sind TCS-Mann Cavegn und ACS-Vertreter Hurter gegen den jüngeren Trend, Tempo 30 noch flächendeckender zu machen und auch Verbindungsstrassen einzubeziehen – und natürlich gegen den Vorstoss für ein gesetzliches «Generell 30».
Die nächste Stufe: Tempo 20
Die Folgen seien absehbar, so Reto Cavegn. «Wenn Sie eine Hauptstrasse in der Strassenhierachie herabstufen und Tempo 30 verordnen, erfährt das vor zehn Jahren erfolgreich beruhigte Quartier entsprechend Mehrverkehr.» Doch auch dagegen hätten die rot-grün regierten Städte eine Karte in der Hinterhand. «Dann wandelt man einfach Tempo-30- in Begegnungszonen mit Tempo 20 und Fussgängervortritt um. Dieser Prozess hat schon begonnen.»