Es wurde viel beschrieben und ist wohlbekannt. Der Paradigmenwechsel bei Kia fand spätestens 2006 mit der Einstellung von Peter Schreyer statt. Wurden zuvor optisch eher bescheidene Autos gebaut, war die Handschrift des deutschen Designers schnell zu erkennen. Weg vom langweiligen Allerweltsdesign, hin zu klaren und teilweise ikonischen Formen wie der Tigernase. «Wir haben die letzten 15 Jahren damit verbracht, unsere Frontidentität zu entwickeln. Beim EV6 sagten uns die Ingenieure früh, dass sie vorne keine Lufteinlässe mehr haben wollten. Für uns war das ein Problem, weil früher alles um den Grill herum geplant wurde. Also mussten wir uns neu erfinden. Die Lösung ist das, was wir nun digitales Tigergesicht nennen und mit der Lichtsignatur abzubilden versuchen», sagt Gregory Guillaume, Vizepräsident Design bei Kia Europa.
Auch sonst ist der Aufritt des EV6, vorsichtig ausgedrückt, überraschend mutig. «Wir stellten uns zu Beginn die Frage, weshalb heutige CUV immer ein ähnliches Profil haben. Und ob es uns gelänge, ein EV zu kreieren, das echte Emotionen, vielleicht sogar Leidenschaft weckt», erklärt Gregory Guillaume. Das Ergebnis sei eine Vermischung verschiedener Charaktere jenseits jeder bekannten Segmentierung. «Man soll das Gefühl haben, etwas Besonderes zu fahren», sagt Gregory Guillaume.
Während die Front hübsch und einigermassen konventionell ausfällt, auch wenn sie mit einigen markanten Wölbungen im Blech versehen ist, sorgt vor allem das Hinterteil für einen bei Kia noch nicht gesehenen Auftritt. Das LED-Leuchtband zieht sich von einem Kotflügel in den andern, der daraus entstehende Bogen fungiert als riesiger Spoiler. «Die Aerodynamiker wollten einen Ducktail-Spoiler. Für Designer war das nicht erstrebenswert, weil so etwas der Vergangenheit angehört. Nach einigem Kopfzerbrechen kamen wir auf die Lösung mit den integrierten Rückleuchten. Daraus entstanden ist quasi das Markenzeichen des EV6», führt Guillaume aus. Unterstützt wird der Auftritt durch den Dachspoiler, dessen seitliche Enden nicht nur in den Rückspiegeln omnipräsent sind, sondern auch der Aerodynamik dienen. Zwei Aussparungen in der Mitte weisen der Luft den Weg. Auch sonst gibt es überall Strukturen, die erahnen lassen, wie viel Hirnschmalz im ausladenden Design des EV6 steckt. «Die kurzen Überhänge, die breiten Schultern, die niedrige Dachlinie – wir wollten diese emotionalen Dinge, die an einen Sportwagen erinnern. Der kompakte Aufbau der Plattform erlaubt das, ohne dass die Praktikabilität darunter leiden würde», sagt Guillaume.
Diese fällt bei Kia und Hyundai ähnlich aus. Wenn auch der Radstand des EV6 etwas kürzer ist, gibt es überall mehr als ausreichend Platz. Die Kopffreiheit fällt durch die flache Dachlinie etwas bescheidener aus, ebenfalls die Übersichtlichkeit nach hinten. Abhilfe schafft dabei die umfassende Armee an elektronischen Helferlein, die ihre zuverlässigen Dienste auf einer abgesperrten Piste auf der ersten Testfahrt eindrücklich beweisen konnte. Der Notbremsassistent funktioniert fehlerfrei, das automatische Ein- und Ausparkieren gelingt zwar etwas gemütlich, aber souverän, und die Kamera- und Sensorunterstützung ist so gut, dass ein Geschicklichkeitsparcours auch mit abgeklebten Scheiben keine grossen Probleme bereitet.
Nicht nur beim Design geht Kia verglichen mit seinem Plattformbruder von Hyundai einen eigenständigen Weg. Die grosse Batterie hat mit 77.4 kWh bei Kia eine etwas grössere Nettokapazität, die dabei verwendete Spannung (max. 670 V) und damit die maximale Ladegeschwindigkeit (240 kW) sind höher, auch bietet das derzeitige Topmodell mit 239 kW (325 PS) 14 kW (20 PS) mehr Leistung als bei Hyundai.
Nicht nur optisch sportlich
Grösster Unterschied ist jedoch überraschenderweise die Fahrdynamik. Bisher war es so, dass Hyundai-Modelle grundsätzlich sportlicher daherkamen. Neuerdings sieht es etwas anders aus. Nicht nur, dass der EV6 sportlicher aussieht als der Hyundai Ioniq 5, er fährt sich auch deutlich agiler. Die Plattform (E-GMP) erlaubt bei beiden Autos, dass die Batterie im Unterboden verbaut und der Schwerpunkt damit tief ist. Die permanenterregten Synchronmotoren sind platzsparend verbaut, was kurze Überhänge und eine gute Gewichtsverteilung erlaubt. Als weltweit erstes Modell verfügt der EV6 über eine Antriebsachse, die das Radlager in die Antriebswelle integriert, die die Kraft des Motors auf das Rad überträgt. Dies vermindert die Anfälligkeit für Defekte, reduziert die Anzahl verwendeter Teile sowie das Gewicht, erhöht die Achssteifigkeit und verbesert damit das Fahrgefühl. Die adaptiven Dämpfer werden wie beim Ioniq 5 von einem zusätzlichen Kolben unterstützt, der die Dämpfung in Abhängigkeit zur Eingangsfrequenz einstellt. Das Resultat ist eine ausgewogene Spreizung zwischen Dynamik und Komfort, aber der EV6 fährt in allen Belangen etwas sportlicher als der Ioniq 5. Grösster Schwachpunkt ist bei beiden Modellen die weichgewaschene und gefühllose Lenkung, die zwar mit ihrer Präzision kaum Kritik zulässt, dabei aber kaum Rückmeldung gibt.
Die mehrstufige Rekuperation erlaubt One-Pedal-Driving, mittels Vehicle-to-load können Verbraucher mit bis zu 3.6 kW geladen werden, Komfortfunktionen wie das elektrische Umstellen der beheizten und belüfteten Vordersitze in die Liegeposition oder das zum grossen Teil touchbasierte Infotainment sind Standard. «Bei uns soll jeder Kunde gewisse Funktionen geniessen können, unabhängig von der gewählten Antriebsvariante», sagt Peter Fahrni, Geschäftsführer von Kia Schweiz. Kia führt deshalb nur eine kleine Optionenliste. In den 50 000 Franken für das in der Schweiz wohl kaum nachgefragte Basismodell und den 67 000 Franken für den beliebten GT-Line mit Allradantrieb ist fast alles drin. «Wir wollen einen reellen Preis abbilden», sagt Peter Fahrni. Womit auch hier der Konkurrenz der Spiegel vorgehalten wird.
Die technischen Daten zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.