Finger hoch, wer noch nie einen anderen Verkehrsteilnehmer beschimpft hat – aber bitte nicht den Mittelfinger. In einer Studie der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) im Jahr 2014 bekannten sich 70 Prozent der Befragten dazu, mindestens einmal einem anderen Autofahrer den Mittelfinger gezeigt zu haben. 57 Prozent gaben zu, schon einmal ein Wortgefecht gehabt zu haben, das bei sechs Prozent der Befragten zu einem Streit ausgeartet war.
Laut BFU haben diese Wutausbrüche am Steuer spürbare Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit, denn fünf bis zehn Prozent der Unfälle in der Schweiz sind auf sie zurückzuführen. Die juristischen Folgen solcher Wutanfälle sind allerdings nicht immer bekannt. Ein einfacher Mittelfinger fällt zum Beispiel bereits in die Kategorie der Straftaten und kann zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen führen. In der Praxis bestrafen Richter taktlose Autofahrer aber nur selten. «Damit die Sache juristische Folgen nach sich zieht, muss ein Polizist den Autofahrer in flagranti erwischen», erklärt eine Sprecher der Genfer Polizei. «Allerdings verhalten sich die Menschen tendenziell ruhiger, sobald ein Uniformierter in der Nähe ist.»
Wurde ein Autofahrer beschimpft, kann er Anzeige erstatten, aber das Verfahren hat praktisch keine Chance auf Erfolg. «Im Fall von Beleidigungen wird das Verfahren fast immer mangels Beweisen eingestellt», erklärt Fanny Roulet, Anwältin für Strassenverkehrsrecht. Dashcam-Aufnahmen werden nur unter bestimmten Bedingungen als Beweismittel anerkannt. «Wenn der Autofahrer seine Kamera in dem Moment einschaltet, in dem der andere zu ihm kommt, um ihn zu beleidigen, dann kann das als gültiges Beweismittel anerkannt werden», fährt die Juristin fort. Aber Vorsicht: Waren Sie selbst zu sehr auf die Beleidigung aus, kann dies auch zur Einstellung des Verfahrens führen. «Derjenige, der die Beleidigung ausgesprochen hat, kann von seiner Strafe befreit werden, wenn die beleidigte Person ein provokatives Verhalten an den Tag gelegt hat», betont Fanny Roulet.
Führerausweisentzug möglich
Wenn der Wutausbruch in einer Schlägerei mit Verletzungen endet, kommt nicht mehr das Strassenverkehrsgesetz, sondern das Strafgesetz zur Anwendung. «Die Angelegenheit wird dann gleich behandelt wie eine Schlägerei in einer Bar», so die Anwältin. Lassen die Strassenboxer ihre Autos einfach so auf der Strasse stehen, droht ihnen gar der Führerausweisentzug. «Behindern oder gefährden die Fahrzeuge andere Verkehrsteilnehmer, kann dies einen Führerausweisentzug zur Folge haben», präzisiert Fanny Roulet.
Bei anderen Wutausbrüchen wie zu frühem Einscheren nach dem Überholen oder zu dichtem Auffahren hängt das Strafmass von vielen Umständen ab, die Straftat kann als leicht, schwerwiegend oder gar als Raserdelikt eingestuft werden. Bei einem Raserdelikt muss der Schuldige mit einem Führerausweisentzug von zwei Jahren und einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr rechnen! Eine Verfolgungsjagd – auch wenn es keine Opfer gibt – fällt oft in die Kategorie von Raserdelikten. Bei einem Strassenrennen in Genf im November 2013, das einen Schwerverletzten und einen Toten zur Folge hatte, befand das Gericht den Fahrer wegen vorsätzlicher Tötung mit Eventualvorsatz schuldig. Der junge Mann wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.
Aber auch Selbstjustiz gegen Drängler kann kontraproduktiv sein. Der sogenannte Brake-Check, also abruptes Abbremsen vor einem zu nahe auffahrenden Autofahrer, wird sogar härter bestraft als das zu dichte Auffahren – zumindest in der Theorie. «Es handelt sich um eine erzwungene Straftat, die eine Verletzung des Strassenrechts zur Folge hat», sagt Fanny Roulet und relativiert sogleich: «Auch wenn dieser Autofahrer zwei Straftaten begeht, kann ich mir dennoch kaum einen Richter vorstellen, der ihm eine härtere Strafe auferlegen würde als demjenigen, der zu dicht auffährt.»
So oder so gilt: In solchen Situationen atmet man am besten einmal tief durch, fährt zur Seite und anschliessend in aller Ruhe wieder weiter.