Die Passanten bleiben stehen und starren, als ob sie einem Gespenst begegnet wären. Nicht weit gefehlt, denn was da geräuschlos vor ihnen auftaucht, ist der neue Rolls-Royce Ghost. Der erhabene Engländer scheint trotz seiner stattlichen Abmessungen geradezu über der Strasse zu schweben. Der mit zwei Turboladern unter Druck gesetzte V12 leistet 571 PS, und doch hat er hat bei städtischen Geschwindigkeiten die guten Manieren, nur leise vor sich hin zu flüstern.
Der geisterhafte Auftritt Seiner Majestät geht auch darauf zurück, dass die Autos mit der Spirit of Ecstasy auf dem Kühlergrill höchste Exklusivität besitzen: Im vergangenen Jahr verliessen nur 3756 Rolls-Royce die Ateliers in Goodwood (GB).
Schluss mit dem Pomp
So widersprüchlich das auch scheinen mag, die Designer der Marke zielten darauf ab, die zweite Generation des Ghost diskreter zu gestalten. Die Kunden sollen diesen Wunsch geäussert haben. Gemäss Pressecommuniqué lautet die Stilrichtung für den Ghost intern «Post Opulence» und zeichnet sich durch Zurückhaltung und Substanz aus. Ihre Philosophie stelle die Antithese zum «Premium-Mittelmass» dar, welches Goodwood mit oberflächlicher Effekthascherei, überdimensionierten Markenemblemen, verkrampften Karosseriekanten und ähnlichen Künstlichkeiten definiert.
Die Engländer wenden sich also vom altmodischen und gewohnten Design ab und wollen einen «exklusiven, intelligenten und unaufdringlichen» Stil gefunden haben. Die zweite Generation des Ghost gefällt denn tatsächlich auch mit klaren Linien, glatten Flächen und dem Verzicht auf Schnörkel. Aber alles ist relativ, der riesige Kühlergrill wird mit 20 LED-Stäbchen beleuchtet. Insgesamt widersteht der Ghost der Versuchung zum Bling, doch von einem diskreten Auftritt kann man angesichts der Länge von 5.55 Metern und der Breite von 2.15 Metern ohnehin nicht sprechen.
Detailversessen
Der gute Geschmack macht an den gegenläufig öffnenden Türen nicht Halt. Mit Muskelkraft an den Türgriffen zu zerren, ist einem Rolls-Royce-Kunden offensichtlich nicht zuzumuten: Das Anfassen des Griffs aktiviert einen Elektromotor, der für das Öffnen der Tür zuständig ist. Diese Finesse ist nur ein Vorgeschmack darauf, was das Interieur zu bieten hat. Der Ghost ist ein Blender im besten Sinn des Wortes. Und wir sprechen nicht einmal von den allgegenwärtigen LED-Leuchten, den hinterleuchteten Bildschirmen und den Lackierungen der Holzfurniere. Bei Rolls-Royce heisst Luxus nicht das Augenfällige, Aufsehenerregende, sondern die akribische Pflege jedes Details. Einige Beispiele gefällig? 338 Häute des feinsten Leders bedecken die diversen Oberflächen in diesem intimen Raum, der sich mit jedem Salon eines englischen Clubs messen kann. Oder das dunkle Holz im Armaturenbrett: Es ist matt und satiniert und suggeriert Prestige, ohne laut nach Aufmerksamkeit zu schreien. Ein weiteres Beispiel ist das Panel mit der Ghost-Inschrift, umgeben von 850 Sternen, das dem Fahrgast zugewandt ist: Wenn man es ansieht, könnte man meinen, es sei ein Bildschirm, aber das ist es nicht. Es ist ein dezent hinterleuchteter Einsatz. Wir fallen von den Stühlen, als wir erfahren, dass die Entwicklung dieses Werks zwei Jahre dauerte und 10 000 Arbeitsstunden (!) umfasste. Über unseren Köpfen erinnert die Deckenleuchte an den Starlight Headliner. Die Deckenleuchte bildet einen Sternenhimmel nach. 152 LEDs strahlen ihr Licht durch einen 2 mm dicken, gebohrten Lichtleiter mit 90 000 Löchern ab.
Keine Abkürzungen
Die Liebe zum Detail findet sich überall. Es ist kein Geheimnis, dass die Autohersteller wo immer möglich Geld sparen. Jeder gesparte Rappen summiert sich in der Grossserie über den Modellzyklus zu Tausenden von Franken. Die Kunst liegt darin, berührungsfreundliche Materialien dort anzubringen, wo der Kunde hinfasst oder hinsieht. Im Versteckten können durchaus billige Kunststoffe verbaut werden. Aber wenn man sich Rolls-Royce nennt, keine 5000 Autos pro Jahr produziert und mit einem Einstiegspreis von 327 200 Franken operiert, dann kann man auf solches verzichten. Selbst die ordinäre Luftaustrittsdüse für den Fussraum der Passagiere – ein Teil, dass niemand sehen kann – besteht hier aus poliertem Stahl, genauso die Düsen im Armaturenbrett.
Auch sonst stösst man hie und da auf schöne Chromzier. Wir könnten eine Lobeshymne auf die Hebelchen der Lüftungsverstellung anstimmen. Die Ergonomie kommt bei all dieser Akribie nicht zu kurz, ganz im Gegenteil: Physische Schalter sind, leider, zum Luxus avanciert, aber bei Rolls-Royce leistet man sie sich noch. Die Technologieliebhaber können übrigens aufatmen: Sie finden genügend Bildschirme im Interieur des Ghost. Neben dem Mittelbildschirm sind da noch drei Anzeigen für das Infotainment, eine für den Beifahrer und zwei für die Passagiere im Fond. Die hinteren Touchscreens lassen sich in die Sitzlehnen versenken, dann bleiben nur die eleganten Klapptische aus Holz sichtbar. Die Bildschirme dienen nicht nur zum Schauen eines Spielfilms (Stecker für USB und HDMI), sie kontrollieren auch Fahrzeugfunktionen, Stereo und Navigation. Beifahrer können per Joystick oder auf dem Touchscreen ein Ziel eingeben, die Navigation taucht sofort auf dem Mittelbildschirm auf. So muss der Chef nicht einmal mehr mit dem Chauffeur sprechen.
Kleine Ausrutscher
Der Innenraum des Ghost kommt der Perfektion nahe, einige Fehlgriffe schlichen sich dann aber doch ein. Nicht alle Materialien sind über jeden Zweifel erhaben. Aufgefallen sind uns besonders die Hebel für Scheibenwischer und Blinker. Sie sind nicht von schlechter Qualität, aber in diesem noblen Umfeld fallen sie doch deutlich ab.
Was uns noch mehr stört, ist die nicht unbedingt grosszügige Bewegungsfreiheit hinten. Trotz des Radstands von 3.30 Metern finden Personen von mehr als 1.85 Metern Grösse nur gerade genügend Platz. Eine Nobellimousine in dieser Klasse sollte die Rücksitzpassagiere besonders verwöhnen, die Besitzer werden sicher vor allem hinten Platz nehmen. Doch ist das auch wirklich der Fall? Rolls-Royce ist sich dessen nicht so sicher. Es sind die Kunden in Asien, die mehrheitlich mit Chauffeur unterwegs sind. Amerikaner und Europäer wollen ihren Ghost eher selber fahren, meinen die Firmenverantwortlichen.
Mit dieser Erwartungshaltung ist es nicht überraschend, dass Goodwood den mechanischen Komponenten genauso viel Aufmerksamkeit schenkte wie dem Interieur mit seinem Connolly-Leder. Der Ghost mag nur das Einsteigermodell für Rolls-Royce sein, er baut aber auf derselben Plattform auf wie das Flaggschiff Phantom. Diese Architektur ist eine Exklusivität von Rolls-Royce, was bemerkenswert ist. BMW, seit 1998 Konzernmutter der Engländer, hat bisher keinen Druck auf Goodwood ausgeübt, mehr Komponenten aus Deutschland zu verwenden.
So weist die obere Aufhängung der vorderen Dreiecksquerlenker einen eigenen Stossdämpfer auf. Die Techniker sehen diese schwebende Lagerung mit Gummidämpfern vor, um die hochfrequenten Stösse – etwa von den Trennfugen auf der Autobahn – auszugleichen. Niedrigfrequenzen werden von der serienmässigen Luftfederung im Zaum gehalten. Das adaptive Fahrwerk liest kontinuierlich den Fahrbahnzustand vor dem Wagen und passt die Dämpfer stets den Gegebenheiten an. An der Hinterachse ist ein ganzes Arsenal von Verbesserungen vorgesehen einschliesslich der Allradlenkung. Der technische Aufwand umfasst auch den Allradantrieb, der in Anbetracht des Drehmoments von 850 Nm sehr willkommen ist, um die Antriebskräfte auf die Strasse zu bringen. Die Kehrseite ist das Gewicht. Trotz der Verwendung von Aluminium für die gesamte Karosserie sündigt der Ghost mit einem Leergewicht von 2490 Kilogramm.
Im Fahrversuch erlebten wir eine ordentliche Überraschung. Wie kann sich ein solch schweres Auto so leichtfüssig bewegen? Das Fahrverhalten ist natürlich das Verdienst der hervorragenden Fahrwerksabstimmung. Der vorbildliche Komfort wird weder durch Buckel, Schlaglöcher, Tramschienen noch Trennfugen gestört. Die Passagiere schweben im Ghost über alles hinweg.
Das Wohlgefühl ist aber nicht nur das Resultat des Fahrgestells. Der 6.75-Liter-V12-Biturbo trägt das Seine zum Charakter des Wagens bei, und das nicht zu knapp. Aber wie können 571 PS als Komforteigenschaft interpretiert werden? Das hat vor allem mit dem bulligen Charakter des Motors zu tun. Das maximale Drehmoment von 850 Nm fällt bereits bei 1600 U/min an, der Zwölfzylinder reagiert mit mächtigem Vorwärtsdrang auf jede Gaspedalbewegung. Die Anzeige für die Kraftreserve – sie ersetzt den Drehzahlmesser – gibt bei 120 km/h beruhigende 90 Prozent an! Das Powerteam ist ungemein elastisch, Hochdrehen ist sinnlos, die Ruhe regiert. Nur auf arg zerfurchten Oberflächen dringen die Abrollgeräusche ins Interieur durch, das können auch die 100 Kilogramm an verbauter Lärmisolation nicht verhindern.
Etwas gefühllos
Die hervorragenden Komforteigenschaften des Rolls-Royce Ghost sind keine Überraschung. Vor den ersten Fahrversuchen waren wir denn auch vor allem darauf gespannt, wie die noble Fuhre bei flotter Fahrt reagiert. Lässt sich die Nobellimousine aus der Fassung bringen, schaukelt sie sich auf wie ein Schiff im stürmischen Meer? Die Befürchtungen bestätigen sich nicht. Bei flotter Fahrt hebt sich der Ghost vorne an wie ein nobler Rassehengst und galoppiert davon. Der V12 lässt endlich von sich hören, das Klangbild neigt sich zum metallischen Pochen. Die Tempozahlen auf dem hervorragenden Head-up-Display rasen nach oben, für den Puls des Fahrers trifft das aber nicht zu. Die technischen Daten versprechen eine Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in 4.8 Sekunden, und wir zweifeln das nicht an. Aber die totale Isolierung im behaglichen Interieur macht jedes Tempoempfinden zum Ratespiel. Der Fahrer fühlt nicht, was die Kontaktflächen der Pneus kommunizieren könnten, die Lenkung gibt ebenfalls keine Rückmeldung. Die Karosserieneigung hält sich in Grenzen, aber auch die Techniker aus Goodwood können keine Wunder vollbringen. Schnelle Kurvenfahrt drückt auf die Vorderachse, das Untersteuern wird ausgeprägter. Aber natürlich ist der Ghost kein Sportwagen. Seine grosse Stärke liegt in der vorbildlichen Finesse, im Luxus ohne Übertreibung. Er ist das Resultat ausgereifter Entwicklung, er hat Substanz, Angeberei ist ihm fremd. Die Formel ist wie gemacht für echte Klassiker, die dem Zahn der Zeit widerstehen werden.
Die technischen Daten zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.