Die Mille Miglia ist Nostalgie am Limit

Einmal Mille Miglia. Aber bitte richtig, wie früher. Heisst, auf eigener Achse anreisen und 1719.81 Wertungskilometer in vier Tagen, ganz ohne Servicetruppe. Ein Erlebnisbericht von der bekanntesten Oldtimerrallye aus dem Cockpit eines Aston DB2/4 Mk II.

Aston Martin an der Mille Miglia

Oh ja, es gibt die zwei Gesichter der berühmten Rallye Mille Miglia. Zum ­einen das automobile Schlendern über die schönsten Marktplätze, durch liebreizende Altstädte sowie traumhafte Landschaften in der Lombardei, Emilia-Romagna, Toskana, in Umbrien und Lazio mit zahlreichen Zwischenstopps. Ein erfrischender Bitterino hier und eine wohlschmeckende Pasta da. Knapp 1500 Bewerbungen auf die letztlich 412 Startplätze bestätigen das riesige Interesse und unterstreichen die Faszination, die von der nostalgischen 1000-Meilen-­Tour ausgeht. Es gibt aber auch den sportlichen Teil. Jener, der an die knapp einhundertjährige Geschichte der wilden Jagd durch Italien erinnert. ­Eine Rallye über vier Tage, zwölf Sektoren und 1719.81 Kilometer. Genau das Richtige für den 62-jährigen Oldtimerenthusiasten Rainer Bastuck und den Autor dieser Zeilen.

Es ist Mitte Juni. Seit nunmehr vier Tagen weilt das Duo in Italien. Wobei das Verb weilen nicht so recht passen mag, zu erlebnisreich, fordernd und stressig waren die letzten Stunden und Tage. Am Sonntag fuhr es mit dem von Besitzer Bastuck in Eigenregie restaurierten Aston Martin DB2/4 aus dem Saarland (D) nach Brescia (I) – an Bord das Gepäck und wesentliches Werkzeug für den britischen Grandtourismo. Schliesslich seien sie «früher auch auf eigener Achse nach Le Mans und wieder heimgefahren», macht Steuermann Bastuck seinem Beifahrer Mut. Und bis auf einen Kerzenwechsel vor dem Gotthardpass waren keine Unzulänglichkeiten zu beanstanden, im Gegenteil. Der originale, lediglich bei knapp 200 Fahrzeugen verbaute leistungsgesteigerte Dreiliter-Sechszylinder mit 165 statt der üblichen 140 PS lief wie ein Uhrwerk und hatte mit der leer nur 1200 Kilogramm schweren Sportlimousine leichtes Spiel.

Tipps von einer Rallyelegende

Bei der in Pandemiezeiten noch etwas langwierigeren Abnahme bleibt Zeit für Benzingespräche mit Gleichgesinnten und letzte Tipps von Walter Röhrls kongenialem Co-Piloten Christian Geistdörfer, der am Steuer eines Porsche 356 A 1500 GS Carrera agiert. Brescia ist im Ausnahmezustand. Hunderte von Oldtimern, deren Besitzer und noch mehr Fans feiern ein Hochamt der Automobilkunst. Kurz vor dem Start malt eine Flugstaffel die Landesfarben an den Himmel.

Mehr hat auch der Grand Prix in Monza nicht zu bieten. Der Aufgalopp am Mittwoch nach Viareggo dauert neun Stunden. An der finalen Zeitkontrolle stempelt das Duo im Aston sechs Minuten zu spät – geschenkt. Am Donnerstag folgt die Königsetappe. Die Bordkarte schreibt von Viareggio nach Bibbona 3:15 Stunden vor, weitere 4:15 nach Castigione della Pescaia und 5:15 bis Viterbo, bevor in der späten Nacht für den kurzen Abschlussritt nach Rom nochmals 2:05 Stunden vorgeben sind. Eine echte Herausforderung für die Startnummer 405, nicht nur in Sachen Rallyetempo.

Die malerische Landschaft nimmt Bastuck kaum noch wahr. Auch nicht auf der Anfahrt auf das in der Südtoskana spektakulär gelegene Pitigliano. Der mittelalterliche Stadtkern thront unübersehbar auf einem massiven Sockel aus Tuffstein. Doch während sein Co-Pilot in die Buchhaltung vertieft ist und die nächsten Sollzeiten ins Mobiltelefon eingibt, übersieht der Steuermann im Gegenlicht eine der für Italien vor oder in Ortschaften üblichen Bremsschwellen – zum Leidwesen der Fahrwerksanschläge an der Hinterachse.

Ein bei der geringsten Bewegung schleifender Reifen deutet das vorzeitige Rallye-Aus an. Anhalten, Rad runter, die Aufnahme der Anschlaggummis für die zentralen Radmutter mit dem Holzhammer richten und weiter in Schleichfahrt. Ein Anruf in die Heimat muss helfen. Ein Mille-Miglia-Intimkenner macht eine kleine Fiat-Werkstatt am Wegesrand aus. Um 18.45 Uhr entert der grüne Renner dort eine Hebebühne. Keine Stunde später hetzt die 405 mit zwei gerichteten und einer nachgeschweissten Fahrwerksaufnahme an der Aston-­Hinterhand dem enteilten Feld wieder hinterher. Die letzten beissen eben die Hunde. Statt flott im Feld mitzureiten, kämpft sich das deutsche Duo allein durch.

Punktlandung, dann vier Stunden Schlaf

Schlimmer, das Stimmungshoch durch die gelungene Notoperation ist schnell verflogen. Zu gering ist die Wahrscheinlichkeit, die nächste Zeitkontrolle noch pünktlich zu erreichen. So oder ähnlich muss es zu den wildesten Zeiten der 1000 Meilen gewesen sein. Dumm nur, dass die Aston-Crew unangeschnallt im rechtsgelenkten Aston durch Italien tobt. Heisst, dass der Co-Pilot im Nebenjob auch die Überholfrequenz vorgibt und dabei dem Gegenverkehr mitunter in die Augen und später in die Scheinwerfer blickt, während der angespannte Fahrer zumeist nur ins Heck eines modernen SUV blickt.

Zudem gilt für das zwischenzeitlich verloren gegangene Mille-Miglia-Duo bei roten Ampeln nun das gleiche wie für alle anderen Verkehrsteilnehmer: die klare Anweisung zum Anhalten – zumindest, bis man wieder am Feld dran ist. In Viterbo folgt dennoch eine Punktlandung. Kurzes Abklatschen und Gas geben. Auf dem Weg nach Rom stehen schliesslich noch die Sollzeitprüfungen 54 bis 64 auf dem Programm. Um ein Uhr morgens wird in der Hauptstadt noch schnell ein Tankautomat gesucht, bevor es ins Hotel geht. Vier Stunden Schlaf und ab zur zweiten Rallyehälfte.

Auch der dritte Tag hat es in sich: Start um 8.28 Uhr. Dreieinhalb Stunden später wird Orvieto angefahren. Um 16.13 Uhr steht die korrekte Zeit in Arezzo in der Bordkarte, um 20.03 Uhr jene in Prato. Um 22.38 Uhr ist die Startnummer 405 auf der letzten und exakt 8.59 Kilometer langen Gleichmässigkeitsprüfung unterwegs. Es geht leicht bergab. Das Licht der Scheinwerfer verliert sich nach wenigen Metern in der stockdunkeln Nacht. Vorsichtig streichelt der Gasfuss das Pedal. Noch gut zwei Kilometern gilt es, einen Schnitt von Tempo 38 zu halten. «Zulegen», «langsamer», «noch etwas rausnehmen», «jetzt wieder anziehen».

Es läuft. Egal, ob Bastuck seinen geliebten Briten um enge Haarnadelkurven wuchtet, einen gestrandeten Vorkriegs-Alfa-Romeo oder einen am Abschleppseil durch die Nacht gezogenen Jaguar XK 120 Roadster überholt – im besten Fall bei konstant 38 Stundenkilometern. Schliesslich haben die Veranstalter, wie die Ergebnisliste später offenbart, vier geheime Zeitmessungen eingebaut. Nehmen wir es vorweg: Bastuck/Kuhn haben in zwei Abschnitten die Idealzeit auf weniger als eine Sekunde getroffen und auch in den beiden anderen satt gepunktet. Ein weiteres von vielen Erfolgserlebnissen auf der kräfteraubenden Viertagestour. 

Mit Boxhandschuhen zur Schiesserei

Auch auf den Sollzeitprüfungen, bei denen es gilt, vorgegebene Wegstrecken zwischen 80 und 1960 Metern in einer exakt vorgegeben Zeit zurückzulegen, lief es prima. Wer zwei Sekunden oder mehr daneben liegt, erhält keine Pluspunkte – so wie das Aston-Duo in fünf der ersten sieben von insgesamt 112 Sollzeitprüfungen. Schon dumm, wenn man mit Boxhandschuhen zu einer Schiesserei kommt. Wo andere Teams mit modernster Technologie, Tablets und allerlei elektronischen Hilfsmitteln in ihren Gefährten anrücken – und angeblich Vorwagen die genaue Position der Messlinie durchgeben –, reisten die Anfänger aus Süddeutschland nur mit einem Tripmaster und Smartphone an.

Für das vakante Leselicht wurde auf der zweiten Tagesetappe eine Kopflampe gekauft. Dennoch gibt es bei 89 von 112 Sollzeitprüfungen Punkte. Zehnmal schafften die überglücklichen Anfänger das Kunststück, die vorgegebene Zeit um weniger als zehn und einmal um den Wimpernschlag von nur zwei Hundertstelsekunden zu verfehlen. Mit 17 877 Punkten ist Platz 201 auch dem nachteiligen Baujahr-Koeffizienten des DB2/4 geschuldet. Mit Jahrgang 1957 darf er gerade noch an der Mille Miglia teilnehmen und zählt zu den Jüngsten im Feld.

Den Sieg machen einmal mehr die italienischen Topteams in ihren Vorkriegswagen unter sich aus. Auf der zweitletzten Sollzeitprüfung übernehmen Andrea Vesco/Fabio Salvinelli in einem Alfa Romeo 6C 1750 Super Sports erneut die Führung und siegen bei 72 492 Punkten mit gerade einmal 56 Punkten vor Luigi Andrea Belometti/Gianluca Bergomi in einem ebenfalls 1929 gebauten Lancia Lambda Spider Casaro – das entspricht ganzen drei Hundertstelsekunden! Das Hinterfeld staunt und geniesst die finalen Kilometer. Auch weil das Aston-Duo die letzten Kilometer Seite an Seite mit einem ebenfalls 1957 gebauten Abarth 750 GT Zagato zurücklegt. Am Steuer des blauen Flitzers sitzt kein Geringerer als Arturo Merzario. Jener Grand-Prix-Pilot, der Niki Lauda bei dessen Feuerunfall 1976 auf dem Nürburgring aus dem brennenden Ferrari zog. Auch solche Begegnungen machen den besonderen Reiz der Mille Miglia aus. 

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