Ach, der Reiz des Neuen. In den letzten zehn Jahren konnten etwa 300 000 Schweizerinnen und Schweizer jedes Jahr den berühmten Duft des Neuen in ihrem frisch zugelassenen Fahrzeug geniessen. Dann kam Corona mit allen seinen weitbekannten Folgen. Doch auch wenn die Gesellschaft weitgehend stillgelegt wurde, nahm das Bedürfnis nach Fortbewegung nicht wirklich ab – im Gegenteil: Nur wenige hatten Lust, sich mit potenziell ansteckenden Unbekannten in einen Bus oder einen Zug zu setzen. Daher griffen zahlreiche Schweizer auf ein Occasionsfahrzeug zurück. Im Vergleich zum Jahr 2019 verlor der Occasionsmarkt im vergangenen Jahr mit 775 222 Halterwechseln gerade einmal zwei Prozent, während der Neuwagenmarkt um 24 Prozent einbrach!
Drei von vier Fahrzeugen sind gebraucht
Gemäss den Zahlen des Bewertungsspezialisten Auto-i-Dat setzte sich dieser Trend in den ersten fünf Monaten des Jahres 2021 fort: Mit 77 Prozent waren drei von vier verkauften Fahrzeugen Occasionsfahrzeuge, in anderen Geschäftsjahren waren es 70 Prozent.
Aber warum bloss stürzen sich die Schweizer immer noch auf Occasionsfahrzeuge? Einer der Gründe liegt im aktuellen Halbleitermangel. Die weltweite Knappheit an Mikrochips hat die Produktion zahlreicher Modelle in die Knie gezwungen und zu Lieferverzögerungen geführt. Angeblich konnten deshalb bis dato vier Millionen Fahrzeuge nicht produziert werden. Occasionsfahrzeuge haben den Vorteil, dass sie sofort verfügbar sind.
Die Schweizer greifen nicht aus Begeisterung auf Occasionsfahrzeuge zurück, sondern vielmehr aus Not. Die AUTOMOBIL REVUE fragte bei einem Gebrauchtwagenhändler nach, der diesen Eindruck bestätigt: «Seit Monaten ist es so, dass die Fahrzeuge, die wir entgegennehmen, teurer sind als diejenigen, die wir wieder verkaufen. Unser Occasionspool umfasst mehr Luxusautos, denn die Kunden wählen ein tieferes Segment, wenn sie das Fahrzeug wechseln.» Und wer bereits ein Auto hat, will das so lange wie möglich behalten. So erklärt besagter Händler: «Auch Leasingverträge werden zurzeit eher verlängert, auch von Kunden, die früher noch alle zwei oder drei Jahre das Fahrzeug gewechselt haben.» Und das zieht sich offenbar durch alle Segmente hindurch. «Kunden, die vorher einen Neuwagen für 100 000 Franken gekauft haben, kaufen nun das gleiche Modell als neuwertige Occasion für 70 000 Franken», erzählt der Occasionshändler.
Dieser Ansturm auf Gebrauchtwagen hatte auch einen entsprechenden Einfluss auf die Preise, schliesslich spielt auch hier das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Laut Experten beträgt der Preisanstieg im Vergleich zum Februar 2020 zwischen zwei und fünf Prozent. Die Situation wird andauern und die Experten erwarten keine Rückkehr zur Normalität vor 2022. René Mitteregger, Produktmanager bei Auto-i-Dat, rechnet mit einer schrittweisen Normalisierung, schränkt aber auch ein: «Neuwagen sind oftmals nicht verfügbar, was den Mangel an Occasionsfahrzeugen verschärft. Diese Situation ist alles andere als ideal.»
Verglichen mit den USA ist die Lage bei uns allerdings noch wenig prekär. Dort führte der Mangel an Neuwagen zu einer Preisexplosion von bis zu 20 Prozent auf dem Occasionsmarkt.
Deutsche Marken als Gewinner
Inmitten dieser Flaute machen einige Hersteller eine gute Figur. Volkswagen bleibt auf dem Occasionsmarkt weiterhin die beliebteste Marke – 26 628 Fahrzeuge haben im ersten Quartal 2021 den Besitzer gewechselt. Die Marke kann dabei auf den Golf und den Polo zählen, diese beiden Modelle wechselten seit Jahresbeginn am häufigsten ihren Besitzer. Die Firma aus Wolfsburg erreicht damit wieder ihr Verkaufsniveau von 2019. Das ist auch bei BMW der Fall (16 864 verkaufte Fahrzeuge), hauptsächlich dank des 3ers, der den dritten Platz unter den meistverkauften Occasionsfahrzeugen in der Schweiz belegt.
Allerdings ist es vor allem der Stern von Mercedes-Benz, der hell am Himmel strahlt: Mit 15 399 verkauften Fahrzeugen im ersten Quartal belegt Mercedes-Benz den dritten Platz der Rangliste. Im Vergleich zum Jahr 2019 bedeutet dies einen Anstieg von zwölf Prozent! Ein Resultat, das der Hersteller hauptsächlich dank der C-Klasse erreicht hat, die auf dem siebten Rang der verkauften Occasionsfahrzeuge liegt. Mercedes-Benz bestätigt damit seine hervorragende Form, die bereits auf dem Neuwagenmarkt ersichtlich wurde. Der Hersteller hat das Jahr 2021 tatsächlich mit viel Schwung begonnen, als er VW hinsichtlich Neuzulassungen vorübergehend den Rang ablaufen konnte. Ferner ist das hervorragende Resultat von Porsche hervorzuheben: Der Verkauf von Occasionen stieg dort zwischen Januar und März 2021 um 33 Prozent an – ein Beweis dafür, dass sogar diejenigen, die sich etwas Schönes gönnen möchten, vorsichtig sind und sich einen Gebrauchtwagen kaufen.