Es gibt keine Klassengesellschaft mehr, sondern nur noch ein grosses Fahrerfeld.» Diese Aussage von Marcin Budkovski, einem der beiden Direktoren von Alpine-Renault, ist eine treffende Schlussfolgerung der drei Formel-1-Testtage in Sakhir, wo übernächstes Wochenende mit dem Grand Prix von Bahrain die Saison startet. Die Alpine-Piloten, Formel-1-Rückkehrer Fernando Alonso und Talent Esteban Ocon, bestätigten die Fortschritte des französischen Teams, das mit diesem Jahr von den gelben Renault-Farben zum Alpine-Blau wechselt. «Jedes Team verfolgte bei diesen Tests sein eigenes Programm. Daten, Motormodi, Reifentypen werden unsere Strategen wohl noch länger beschäftigen, ehe wir wissen, wo wir im Vergleich zur Konkurrenz stehen», so Budkovski. Hinter den Bahrain-Schnellsten Max Verstappen (Red Bull-Honda), Yuki Tsunoda (Alpha Tauri-Honda), Carlos Sainz (Ferrari) und Kimi Räikkönen (Alfa Romeo-Ferrari) klassierten sich im Testranking nicht weniger als zehn Fahrer auf acht unterschiedlichen Rennwagen innerhalb von nur einer halben Sekunde. Das verspricht viel Spannung! Zumindest bis zum Qualifying des Bahrain-GP am 27. März. Dann schlägt die Stunde der Wahrheit, Verstecken spielen liegt nicht mehr drin.
Red Bull und Honda an der Spitze?
Motorengigant Honda wirft für seine letzte offizielle Formel-1-Saison noch einmal alles in die Waagschale, und das Team Red Bull nahm sich zwecks Aktualisierung der Antriebsachse und Stabilisierung des RB16B der Federung der Hinterachse an. Vorbild ist das Mercedes-Weltmeisterauto 2020. Das Ergebnis? Verstappen war bei den Tests der Schnellste und er lag zur allgemeinen Überraschung nur Sekundenbruchteile vor dem kleinen Schwesterteam Alpha Tauri AT02-Honda mit dem beeindruckenden jungen Rookie Yuki Tsunoda, der mit weicheren Reifen fuhr (C5 super-soft statt C4 soft). Der Alpha Tauri AT02 absolvierte auch die meisten Testrunden (422, genauso viele wie der Alfa Romeo-Ferrari C41 aus Hinwil ZH), das sind 53 Runden mehr als Red Bull hinter sich brachte. «Wir haben wegen der Reglementsbegrenzungen für die flachen Böden alle an Abtrieb eingebüsst», so die Feststellung von Verstappen, «aber das neue Autos zeigt erstmals mehr Stabilität.» Pierre Gasly im Alpha Tauri äussert sich ebenfalls zufrieden: «Wir sind in einer wesentlich besseren Position als letztes Jahr. Wir wissen, wie das Auto funktioniert, und der Honda-Motor hat eindeutige Fortschritte gemacht.» Zur Erinnerung: Der Franzose gewann letztes Jahr im Alpha Tauri-Honda den GP von Italien.
Mercedes in der Defensive?
Weltmeister Lewis Hamilton nur Testfünfter, Vize Valtteri Bottas gar Neunter und das Weltmeisterteam Mercedes zudem mit Blick auf die gefahrenen Testrunden auf dem letzten Platz, 304 an der Zahl und im Vergleich mit Alpha Tauri und Alfa Romeo (je 422) weit zurück: Die drei Tage in Bahrain spiegelten ein ungewohntes Bild von Mercedes wieder. Dazu kam ein extrem seltener Ausrutscher des siebenfachen Weltmeisters Hamilton sowie einige unfreiwillige Kabinettstückchen von ihm und Bottas, was auf Abstimmungsschwierigkeiten mit dem W12 schliessen lässt. «Zickig und ohne Pardon», so der Kommentar von Bottas, der bei den Tests einen Drittel seiner Fahrzeit wegen eines Getriebeschadens verlor.
Reiner Zufall? Dieselbe Schwäche hielt Sebastian Vettel am ersten Testtag in der Aston-Martin-Box auf, bevor ein kaputter Turbolader das Debüt des Deutschen in seinem neuen Rennstall nochmals störte. Mit nur 117 Testrunden ist Vettel fahrerseitig das Schlusslicht bei der zurückgelegten Testdistanz, die von Gasly mit 237 Runden angeführt wird. Vettels Teamgefährte Lance Stroll machte im grünen Mercedes zwar einen besseren Eindruck, aber mit Rang zwölf auf den weichen C5-Reifen blieb er sicher hinter den Erwartungen zurück. So hinterliess ausgerechnet der Mercedes-Neukunde McLaren mit dem MCL35M den stärksten Eindruck. Daniel Ricciardo und Lando Norris lagen Testtag für Testtag regelmässig mit unterschiedlicher Bereifung auf den vorderen Plätzen.
Alfa Romeo vor Ferrari?
Eine weitere Überraschung im Testranking ist, dass Carlos Sainz im Ferrari SF21 nur knapp vor dem Alfa Romeo-Ferrari von Kimi Raikkönen liegt. Sowohl der finnische Veteran als auch sein Stallgefährte Antonio Giovinazzi lagen mit den Autos aus Maranello immer auf Schlagdistanz. Bezüglich des Topspeeds lagen die Alfa sogar vor Ferrari, ebenso bei der Simulation eines Grand Prix, was auf weniger Reifenverschleiss bei den Autos aus Hinwil hinweisen könnte. Entweder steht Ferrari wieder nicht dort, wo es sein möchte – oder Alfa Romeo hat einen echten Sprung nach vorne gemacht. Tatsache ist, dass der selten für Testfahrten motivierte Raikkönen mit 299 Runden – davon alleine 166 oder drei GP-Distanzen am letzten Tag – der zweitfleissigste Fahrer war. Der Finne dürfte sich in seinem Monoposto sehr wohl fühlen! Wie Charles Leclerc bei Ferrari lobte Räikkönen den deutlichen verbesserten Motor: Die Spitzengeschwindigkeit des SF21 lag bei 292 km/h, schnellser waren Tsunoda (296) , Ricciardo (293). «Wir haben auf den Geraden kein Handicap mehr», bestätigt Ferrari-Teamchef Mattia Binotto. Und wo liegt Alfa mit dem Ferrari-Kundenmotor? «Wir sind besser vorbereitet als letztes Jahr. Das Auto ist zuverlässig, und wir haben Schwächen ausgemerzt», sagt Technikdirektor Jan Monchaux.