«Die Regierung will nicht das Klimaproblem lösen»

Für den renommierten Verkehrsexperten Reiner ­Eichenberger ist Mobility-Pricing ein sinnvoller Weg, um Kostenwahrheit zu schaffen. In der Pflicht sieht er dabei aber vor allem den öffentlichen Verkehr.

Prof. Dr. Reiner Eichenberger promovierte und habilitierte in Volkswirtschaft an der Universität Zürich und ist seit 1998 Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg. Spezialisiert ist er auf die ökonomische Analyse politischer Prozesse. Er ist Mitherausgeber der sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift «Kyklos», war Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und ist Vizepräsident des Senats der Universität Freiburg.

Wenn Reiner Eichenberger über Mobility-Pricing spricht, fällt ein Begriff immer wieder: Kostenwahrheit. Wer versteckte oder offensichtliche Kosten verursacht, soll dafür aufkommen, egal ob Auto, Velo oder Zug. Am Ende sei das Auto die beste Lösung, ist der Verkehrsexperte überzeugt.

AUTOMOBIL REVUE: Das grosse Thema im Moment ist Mobility-Pricing. Sie sind ein bekennender Befürworter. Weshalb?

Reiner Eichenberger: Weil heute die Verkehrsteilnehmer einen grossen Teil der Kosten, die sie verursachen, nicht selbst tragen. Deshalb gibt es zu viel Verkehr mit ineffizienten Verkehrsmitteln und so riesige Schäden durch Lärm, Unfälle, Staus und Zersiedelung. Das gilt für die Strasse und für den öffentlichen Verkehr. Wenn es uns gelänge, hier eine Kostenwahrheit herzustellen, würden wir in ­einer weit besseren Welt leben.

Und wie erreichen wir diese Kostenwahrheit?

Volkswirtschaftlich und gesellschaftlich richtig ist es, alle Verkehrsmittel gleich zu behandeln und wenn möglich nicht zu subventionieren. Heute wird Verkehr auf zwei Arten subventioniert: Erstens indem die Verkehrsnutzer einen grossen Teil ihrer externen Schäden durch Umwelt- und Lärmbelastung, Unfälle und Staus nicht bezahlen. Zweitens indem der Staat den Verkehrsbetrieben Geld gibt. Wenn man beides vernünftig schätzt und richtig zusammenzählt, dann erhält der öffentliche Verkehr pro Personenkilometer das Vier- bis Fünffache an Subventionen des Automobils. Das ist total absurd und wird von den Interessenvertretern des öffentlichen Verkehrs und in der Politik völlig falsch dargestellt. Pro Personenkilometer – und das ist das relevante Mass – ist nicht das Auto, sondern der öffentliche Verkehr das Problem. Auch das Velo ist so gemessen wegen der Unfälle und Infrastrukturkosten ein schlechtes Verkehrsmittel.

Wenn man von Mobility-Pricing spricht, spricht man aber meist übers Auto.

Man kann Mobility-Pricing völlig falsch machen. Tatsächlich scheinen manche Politiker darauf abzuzielen. Da geht es nicht um Kostenwahrheit, sondern nur darum, das Auto mit Steuern zu belasten und mit diesem Geld dann den öffentlichen Verkehr und das Velo noch höher zu subventionieren. Statt dass man Kostenwahrheit schafft, wird die heutige Kostenlüge noch zementiert. Und das Auto, das pro Personenkilometer heute schon weit besser ist als der öffentliche Verkehr oder das Velo, noch mehr belastet.

Das heisst, wenn Mobility-Pricing kommt, müssen wir auch die Velofahrer besteuern?

Die Velofahrer kilometerabhängig zu besteuern, wäre heute technisch kein Problem. Aber die Velopolitik hat ja fast religiöse Züge. Velofahrer sind immer gut, selbst diejenigen, die auf dem Velo noch rücksichtsloser als im Auto sind. Das Velo ist für die meisten Transportbedürfnisse für einen grossen Teil der Bevölkerung während eines grossen Teils der Jahreszeiten und Wetterbedingungen völlig ungeeignet. Deshalb ist das Velo kaum je ein Ersatz für das Auto, sondern für den Fussgängerverkehr und den öffentlichen Verkehr.

Das heisst, bei Mobilty-Pricing geht es darum, mehr Fairness zwischen den Verkehrsteilnehmern zu schaffen?

Fairness ist das eine, Effizienz das andere. Wer seine Verkehrskosten nicht bezahlt, stellt unsinnige politische Forderungen auf. Konkret: Weshalb verlangen viele ÖV-Nutzer den weiteren Ausbau des öffentlichen Verkehrs? Weil sie nur einen Bruchteil der Kosten tragen! Die Autofahrer sind etwas vernünftiger, weil sie einen grösseren Teil selbst bezahlen. Aber auch dort: Ja, die Autobahnen bezahlen die Autofahrer zwar selbst, aber nicht die Folgekosten beispielsweise durch Lärm. Viele der abstrusen Forderungen in der Verkehrspolitik entspringen der Kostenlüge. Deshalb ist es wichtig, dass wir endlich Kostenwahrheit und Gleichbehandlung erhalten. Was sich die SBB heute hinsichtlich Lärmverursachung und -schutz erlauben, ist oft einfach rücksichtslos! Das können sie nur, weil sie für den Lärm nicht selber bezahlen müssen. Wenn sie wie Airlines für laute Flugzeuge eine Lärmtaxe bezahlen müssten, dann hätten sie schnell leisere Züge und eine lärmsenkende Gleisführung.

Von welcher Grössenordnung an zusätzlichen Ausgaben reden wir da?

Unter dem Strich wird es für fast alle viel billiger und besser! Die Autofahrer müssten etwa sechs bis sieben Milliarden mehr bezahlen im Jahr, der öffentliche Verkehr etwa zwei Milliarden, zudem würden ihm etwa sieben Milliarden Subventionen gestrichen. Der Staat würde also um rund 15 Milliarden entlastet. Das heisst, wir könnten die Mehrwertsteuer halbieren und fast alle Reformträume finanzieren!

Die Finanzierung der Infrastruktur ist eine Sache, aber mit Mobility-Pricing soll ja auch Stau verhindert werden können.

Mit Mobility-Pricing drohen grosse Fehlanreize. Wenn der Staat Gebühren erheben kann, wenn es Stau gibt, dann hat er einen Anreiz, Staus zu produzieren. Wenn Anti-Auto-Politiker sehen, dass man mit Staus nicht nur Autofahrer erziehen, sondern auch noch Geld verdienen und damit die eigene Klientel pflegen kann, ist unklar, ob es wirklich weniger oder mehr Staus geben wird. Leider sind die Fachliteratur und Forschung fixiert auf die Nachfrageseite. Man will über den Preis die Nachfrage nach Mobilität steuern. Dabei wird aber die Angebotsseite vernachlässigt. Sie fehlt auch jetzt wieder im Entscheid des Bundes. Wenn Zürich Versuche mit Mobility-Pricing machen darf und das Geld des Autoverkehrs in der Stadt Zürich bleibt, dann wird Zürich natürlich versuchen, den Durchgangsverkehr zu besteuern. Da ist das Missbrauchspotenzial riesig. Wenn deshalb der Bund über die Gebühren entscheiden kann und das Geld nach Bern fliessen soll, lehnen das die Zürcher ab – zu Recht. Denn die Zürcher wissen, dass sie dann von Bern ausgebeutet würden. Das Entscheidende ist deshalb wie bei jeder Steuer: Wer entscheidet über die Steuerhöhe und an wen geht das Geld? In der öffentlichen Debatte wird nur überlegt, wie Mobility-Pricing technisch umgesetzt werden soll, aber nie, was die institutionelle Einbettung sein soll und wohin das Geld fliessen soll. Aber solange das nicht klar ist, kommt Mobility-Pricing entweder nicht oder nur in einer sehr schlechten Form.

Ein Problem der Besteuerung des Verkehr zu Spitzenzeiten ist, dass dadurch Menschen mit festen Arbeitszeiten benachteiligt werden.

All die normalen Gegenargumente ziehen nicht. Konkret: Bei richtig umgesetztem Mobility-Pricing werden diejenigen, die flexibel sind, ihren Zeitplan anpassen. So können diejenigen fahren, die keine Flexibilität haben. Damit profitieren gerade die Unflexiblen, weil sie dann keinen Stau mehr haben! Das ist ja das Tolle am Preissystem: Es beginnen sich alle zu überlegen, ob sie nicht ausweichen und flexibel sein können.

Ein anderes Problem ist der Schutz der Privatsphäre. Mobility-Pricing muss immer auch mit einer Überwachung einhergehen.

Dafür gibt es eine ganz einfache Lösung: Ein Prepaid-Verfahren. Sie können im Voraus bezahlen, Ihre Fahrt wird abgebucht und sofort gelöscht. Zudem gilt: Wer heute ein Handy hat, wird sowieso überwacht. Deshalb brauchen wir so oder so einen wirksamen Datenschutz, der die gesellschaftlich fruchtbare Nutzung der Mobilitätsdaten erlaubt, aber den Missbrauch verhindert.

Mit der Steuer auf Benzin und Diesel haben wir heute schon so etwas wie Mobilty-Pricing. Besteht nicht das Risiko einer Mehrfachbesteuerung?

Ja. Mobility-Pricing darf keinesfalls ein Einfallstor für höhere Gesamtbesteuerung sein. Solange die Bürger diese Garantie nicht haben, sagen sie völlig zu Recht: Das wollen wir nicht. Das ist genau das gleiche wie beim CO2. Eine vernünftige CO2-Politk wäre für die Schweiz rundherum sehr gut. Wir sind ein kleines Land und können den weltweiten CO2-Ausstoss nicht senken, aber wir könnten mit einer Politik vorangehen, die, wenn sie weltweit nur halbwegs umgesetzt würde, das Klimaproblem lösen würde. Das wäre eine allgemeine, ausnahmslose CO2-Steuer von 40 bis 80 Franken pro Tonne CO2. Dazu eine volle Rückschüttung an die Bevölkerung durch Senkung der Mehrwertsteuer um ein halbes bis ein Prozent. Man  könnte all die heutigen verrückten Klimavorschriften, -regulierungen und -subventionen aufheben. Denn dann hätte die fossile Energie einfach ihren richtigen Preis. Aber genau das wird nicht gemacht – weil die Regierungen und viele Klimagewinnler das Klimaproblem nicht wirklich lösen wollen. Sie wollen zusätzliches Geld haben, um damit ihre Ideologien auszuleben. Das ist Politik: diese öde Bewirtschaftung der Probleme.

Wäre es denkbar, dass wir alternativ zu Mobility-Pricing analog zur Steuer auf fossilen Treibstoffen eine Steuer auf Strom erheben, der für Mobilität genutzt wird?

Der Anteil an Elektroautos wird in den nächsten fünf Jahren so ansteigen, dass deren Besteuerung für die Infrastrukturnutzung zwingend wird. Aber da ein Elektroauto an jeder Steckdose aufgeladen werden kann, muss Mobility-Pricing kommen. Wenn man das schon macht, sollte man natürlich auch die anderen Externalitäten abgelten. Dann aber kommt der Druck, dass es auch für den Zug kommt. Denn die neue Perspektive ist ja «guter Stromer versus Zug» nicht «böser Fossiler versus Zug». Dann wird erst recht offensichtlich, dass der Zug gegenüber der elektrischen Individualmobilität weit unterlegen ist. Elektromobilität ist etwas absolut Grossartiges. Wenn der Strom immer sauberer hergestellt wird und die Autos immer intelligenter werden, werden sie im wahrsten Wortsinn zu unseren Lebensgefährten. Die Bürger wollen dann noch mehr Autos und weniger öffentlichen Verkehr. Oder kurz: Die Zukunft gehört dem Auto, das ist für mich völlig klar.

Sie glauben also nicht an Mobilitätslösungen wie Mobility-Sharing oder Car-Sharing?

Diese Modelle machen für manche Personen in manchen Situationen natürlich Sinn. Das heisst aber nicht, dass deshalb der Gebrauch des eigenen Autos abnehmen wird. Das lehrt auch die ganze Mobilitätsgeschichte. Neue Technologien ersetzen die alten nur in gewissen Bereichen. Insgesamt gibt es aber immer mehr Mobilität und nicht weniger. Das andere ist: Angenommen, ich gehe am Morgen mit dem gesharten, selbstfahrenden Auto von Meilen nach Zürich zur Arbeit. Dann fährt es zurück und holt jemand anderen ab. Das ist immer die doppelte Distanz! Zudem muss das Auto immer wieder leer zum Reinigungshub und zurück. Car-Sharing bedeutet also extrem viele Leerkilometer – ziemlich unsinnig. Zudem gilt: Wir werden ja nicht ärmer und müssten deshalb teilen, sondern wir werden reicher. Wir wollen also kaum am Morgen in einem Auto fahren, in dem schon ein anderer sein Gipfeli gegessen hat, der vielleicht sogar ­eine ansteckende Krankheit hat.

Das heisst, wir werden noch lange unsere eigenen Autos kaufen und fahren?

Ja natürlich! Schauen Sie doch einmal Tesla an: Der Preis pro PS ist mit Elektroautos viel billiger geworden, deshalb kaufen die Leute noch stärkere Autos. Und die werden auch immer sicherer und luxuriöser. Bisher war das Auto ein Transportmittel, in Zukunft ist es ein Büro, Wohn- oder Schlafzimmer mit Chauffeur. Ja, mit autonomen Autos kommen wir in eine Zeit, wo sich jeder einen Chauffeur leisten kann. Das heisst, es wird immer billiger, ein tolles Auto zu haben.

Wie wird das für uns Autoenthusiasten? Werden wir immer noch die Möglichkeit haben, selber zu fahren?

Davon bin ich überzeugt. Diese Möglichkeit wird es geben, solange es den Menschen Freude bereitet. Und die Freude wird wachsen. Denn in Zukunft kann man sie ohne schlechtes Gewissen geniessen. Zugleich wird es Innovationen geben, die auf eine Mischform zwischen Autos und Zügen herauslaufen: Bis ein vollautonomes Auto kommt, das auch in Wohnstrassen navigieren und auf Katzen und Kinder reagieren kann, wird es noch lange dauern. Zuerst werden Autos kommen, die auf Autobahnen und speziell geschützten Strassen fahren können. Es wird die Zeit kommen, wo die SBB merken werden, dass die Schienentrassees eigentlich ideale Strassen für solche teilautonome Fahrzeuge wären. Die sind gerade und relativ kreuzungsfrei. Das wäre viel das bessere Geschäftsmodell, als defizitäre Züge fahren zu lassen. Wenn wir die privaten Autobahnen in anderen Ländern anschauen, dann ist das ein Riesengeschäft. Insofern ist es lustig, dass die SBB erst die Bahnhöfe vergolden, aber noch nicht ihre Trassees.

Es wäre spannend, eine solche Umnutzung zu sehen.

Wenn wir den Gedanken jetzt weiterspinnen, stellt sich die Frage: Kann man Schiene und Strasse nicht auch kombinieren? Da gibt es ein altes Modell: das Tram. Es ist durchaus vorstellbar, dass es in Zukunft auch für den Fernverkehr Mischsysteme geben wird mit Schienenverkehr und Autos. Aber da müssen wir uns überraschen lassen, was die Zukunft bringt.

Ein oft gehörtes Argument für den öffentlichen Verkehr ist immer der Auftrag der Grundversorgung auch in abgelegenen Gebieten.

Fragen Sie mal in einem Walliser Bergdorf, was ihnen für die Erschliessung und Attraktivität ihres Dorfes am wichtigsten sei: das Mobiltelefon, Elektrizität, Wasser, ein Einkaufsladen oder der öffentliche Verkehr? Die Antwort ist klar. Der öffentliche Verkehr kommt zumeist zuletzt. Trotzdem wird alles andere hoch besteuert und nur der öffentliche Verkehr hoch subventioniert. Von all den vielen Argumenten für Subventionen für den öffentlichen Verkehr zieht nur eines: Falls der Privatverkehr seine Kosten nicht trägt, macht es Sinn, den öffentlichen Verkehr im – pro Personenkilometer – gleichen Umfang zu subventionieren. Sobald aber der Privatverkehr durch Mobility-Pricing seine eigenen Kosten trägt, fällt auch dieses Argument für die Subventionierung des öffentlichen Verkehrs weg.

Mit Mobility-Pricing, egal ob für Auto oder ÖV, bestrafen wir dann aber die Menschen dafür, dass sie zur Arbeit fahren.

Was die Menschen zur Arbeit brauchen, müssen wir nicht subventionieren. Ansonsten müssten wir ja auch Kleider und Seife subventionieren, schliesslich müssen wir angezogen und gewaschen arbeiten. Wir sollten aber einen angemessenen Steuerabzug zulassen. Speziell für die Arbeit notwendiger Pendelaufwand sollte genauso wie spezielle Berufskleidung steuerlich absetzbar sein. Auch das zeigt: Den Verkehr beurteilen wir mit einem völlig verzerrten Massstab. Nicht weil Mobilität etwas völlig anderes ist, sondern weil der öffentliche Verkehr eine superstarke Lobby hat.

Ohne Subventionen wären die SBB also schon lange nicht mehr da

Doch, doch. Aber sie wäre schlanker, effizienter, leiser und halt ein wenig teurer für die die eigenen Kunden!

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