Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Auch wenn Max Verstappen erst kürzlich in Bezug auf den dominanten Mercedes-Boliden W11 plapperte: «90 Prozent der Fahrer könnten mit diesem Auto gewinnen.» Doch George Russell ist nicht nur elf Zentimeter grösser als der an Corona erkrankte Rekord-Weltmeister Lewis Hamilton, den er beim Grand Prix von Sakhir im Mercedes ersetzte. Der Umstieg vom lahmen Williams ins überlegene Weltmeister-Auto forderte ihn sicher auch sonst. Nicht nur, weil er sich ins zu enge Hamilton-Cockpit quetschen musste und deswegen sogar eine Nummer kleinere Schuhe trug als üblich: «Das ist etwas unbequem, aber für diese Chance ertrage ich das.» Dass Russell sich mit dem überragenden Wagen erst einmal anfreunden musste, zeigt auch der Funkspruch während des Rennens, als er die Boxencrew fragte, wie sehr denn Bottas über die Curbs fahre und ob er das auch dürfe, er wäre so zwei Zehntel pro Runde schneller. Nicht dass das nötig gewesen wäre, Russell hatte Bottas schon vor der ersten Kurve im Griff, obwohl er als Zweiter auf der schmutzigen Seite der Strecke hatte ins Rennen gehen müssen.
Doch wer ist dieser George Russell, geboren am 15. Februar 1998, der aussieht wie ein Chorknabe und am Sonntag fuhr wie ein junger Gott?
Einfach beeindruckend
Russell gewann so ziemlich alles, was man auf dem Weg in die Formel 1 gewinnen kann. 13 Kartmeisterschaften stehen in seinem Palmares, inklusive Europa- und Weltmeisterschaften, Formel-4-Champion war er, Formel-3-Meister war er ebenfalls, und natürlich gewann er auch die Formel 2, als er sich 2018 souverän gegen McLaren-Stammfahrer Lando Norris und Red Bulls Alexander Albon durchsetzte. Seit 2019 fährt er für Williams, gewann aber in 36 Rennen noch keinen Punkt. Beklagt hat er sich über seine Situation nie. Er tat das, was er konnte: Er schlug seine Teamkollegen Robert Kubica und Nicolas Latifi, weder der Pole noch der Kanadier hatten in den Qualifyings eine Chance gegen den Briten. Und den Zweiflern sagte er in Erinnerung an die Formel 2 und seine Konkurrenten Norris und Albon stets: «Ich habe diese Jungs 2018 geschlagen, also stellen Sie sich vor, was ich in ihren Autos machen könnte.»
Dass Russell aber seit 2017 im Förderprogramm von Mercedes steht, seit 2018 Ersatzfahrer ist und jetzt, eher überraschend, im Cockpit von Hamiltons Fahrzeug Platz nehmen durfte, zeigt die hohe Wertschätzung, die ganz besonders Mercedes-Teamchef Toto Wolff gegenüber dem Engländer hegt. «Ein Stern ist aufgegangen», meinte Wolff nach der Show von Russell beim Mercedes-Debüt. Nicht ganz so lustig fand es Teamkollege Valtteri Bottas: «In den Augen derer, welche die Formel 1 nicht kennen, bin ich nun der Depp.» Nun, man muss die Formel 1 nicht besonders gut kennen, um zu erkennen, dass Russell auf dem kleinen Kurs von Bahrain ganz einfach schneller war – obwohl es nur für Platz neun reichte – als der seit einigen Rennen nicht mehr besonders motiviert wirkende Finne. Und wie Russell Bottas nach dem katastrophalen Reifen-Desaster in der Mercedes-Box ausbremste, zeugt nicht nur von ganz grosser Klasse, sondern könnte auch die Wachablösung im deutschen Team bedeuten.
Für Bottas oder sogar Hamilton?
Aber wessen Platz könnte denn Russell einnehmen? Bottas hat einen Vertrag, Hamilton hingegen hat noch nicht unterschrieben. Der siebenfache Weltmeister soll unverschämte Gehaltsforderungen stellen, was bei einem Hersteller wie Mercedes, der auch immer Staatshilfe fordert, für Kopfschmerzen sorgen dürfte. Im Vertragspoker mit dem extrovertierten Hamilton hat Wolff nun mit dem bedeutend jüngeren Russell überraschend ein Ass aus dem Ärmel gezaubert, das völlig neue Perspektiven eröffnet. Aber wie haben sich die beiden überhaupt kennengelernt? Russell hatte Wolff 2014 vor einer Formel-3-Testfahrt eine Nachricht geschickt: «Ich hatte nicht mit einer Antwort gerechnet. Ich beschloss, dieses Mail um halb elf abends zu schicken, legte mein Handy beiseite, wachte am nächsten Morgen auf und sah, dass Toto schon eine Viertelstunde später geantwortet hatte», erzählte Russell einst dem TV-Sender ESPN.
Eine Frage aber bleibt: War nun Russell so gut – oder ist tatsächlich der Mercedes so herausragend, wie Verstappen behauptet? Ins gleiche Horn wie Verstappen stiess auch Ex-Weltmeister Jackie Stewart, der verlauten liess: «The car’s the star.» Womit er sowohl die Leistung von Russell als auch die vielen, vielen Titel von Hamilton relativiert. Aber vielleicht darf man ja Ross Brawn, der mit Michael Schumacher auch einen siebenfachen Weltmeister betreute, mehr Expertise zutrauen: «George hat definitiv das Zeug zum Weltmeister.» Schliesslich stammt Russell auch aus einem Dörfchen mit dem Namen King’s Lynn.