Macht die Digitalisierung den Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen nach 2035 überflüssig? Das war die Frage, die im Mittelpunkt des Dialoganlasses von Avenir Mobilité stand. Bisher hatten das Wachstum der Bevölkerung und der Wirtschaft zu einem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur geführt. Wäre es denkbar, dass die Digitalisierung diese Entwicklung so verändert, dass nach 2035 keine weiteren Ausbauten nötig würden? Dass die Digitalisierung, die alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft erfasst, auch das Verkehrswesen stark verändert, war unbestritten. Wie und wann die Veränderungen passieren, das allerdings weiss heute niemand.
Besseres Verständnis nötig
Matthias Finger, Professor an der ETH Lausanne, erklärte in seinem Einführungsreferat, es brauche noch ein besseres Verständnis für die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Infrastrukturen. Erst dann sei der Regulierungsbedarf besser abzuschätzen. Der Kunde werde weit weniger oft mit einem Infrastrukturanbieter verbunden sein, sondern mit einer Plattform. Er ist nicht mehr Kunde des Taxis, sondern Kunde von Uber. Das sei die entscheidende Veränderung. Die Plattform entscheide dann auch, was im Einzelfall besser sei – ÖV oder Taxi. Finger erwähnte als Beispiel Finnlands Hauptstadt Helsinki, in der Kunden Mobilitätsdienstleistungen wie Taxi, ÖV, Mietauto und Bahn über eine einzige Plattform kaufen können.
Digitalisierung und Ausbau
Was bedeutet die Digitalisierung für den Ausbau des nationalen Strassen- und Schienennetzes? Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamts für Verkehr (BAV), machte darauf aufmerksam, dass bis 2040 eine Verdoppelung des Schienenverkehrs zu erwarten sei. Die Probleme lägen nicht auf der Strecke. Selbst wenn sich Züge in kürzeren Abständen folgten, helfe das nicht. Das Problem sei der Halt an den Bahnhöfen. Man benötige zwei Minuten für das Aus- und Einsteigen der Reisenden. Deshalb seien Verhaltensänderungen der Reisenden eine Alternativen. So könnten 60 Prozent der Pendler einen anderen, weniger überfüllten Zug wählen, was die Situation entschärfen würde – sie tun es aber nicht. Für das Verkehrsverhalten der Kunden seien zudem die Wetterprognosen entscheidend, welches Verkehrsmittel sie wählen, meinte Füglistaler.Eine Möglichkeit sieht der BAV-Direktor in der gezielten Bepreisung der Mobilität, das heisst in einer starken Differenzierung zwischen den Haupt- und Nebenverkehrszeiten, aber er ist sich bewusst, wie schwierig es ist, die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen. Mobility Pricing sei politisch fast nicht durchzusetzen. Dagegen seien Subventionen für den ÖV in der Bevölkerung unbestritten. Auch eine Erhöhung der Preise für das Generalabonnement der SBB zu realisieren, sei schwierig.
Es braucht etwas BetonFür Jürg Röthlisberger, Direktor des Bundesamts für Strassen (Astra) ist nicht ein flächenmässiger, aber ein punktueller Ausbau des Strassennetzes notwendig. Einen vierten Bareggtunnel beispielsweise hält er für möglich, nicht indes einen fünften. Ganz ohne Beton gehe es nicht. Für ihn hat die Digitalisierung Potenzial, aber es braucht dafür Zeit zur Entwicklung. Die Autobahnen seien immer stärker ausgelastet, im Jahr 2017 verzeichnete man auf den Nationalstrassen über 27 000 Staustunden. Die Nachtfenster, die man für den Unterhalt braucht, werden immer kürzer, weil die Autopendler noch früher losfahren und später heimkommen. Aber auch auf anderen Strassen nehme der Verkehr zu.Daniel Müller-Jentsch von der Denkfabrik Avenir Suisse bezeichnete Röthlisbergers Sicht als Ingenieursbetrachtung des 19. Jahrhunderts. Investitionen in neue Bauten lösen das Hauptproblem nicht, dass nämlich die Verkehrsspitzen zu Staus führen. Die Aufhebung des Nachtfahrverbots für Elektro-Lastwagen wäre etwa eine Möglichkeit, da nachts die Strassen praktisch ungenutzt seien. Darüber hinaus sollte Mobility Pricing gefördert werden. Aber einen überzeugenden Vorschlag, wie die Verkehrsproblematik auf unseren Strassen in den Griff zu bekommen sei, hatte er nicht anzubieten. So wenig wie Nationalrat Jürg Grossen (GPL/BE), der Visionen für ein künftiges Verkehrssystem vermisste, ohne allerdings selbst einen substanziellen Beitrag zu leisten.BAV-Direktor Füglistaler hatte wohl recht mit der Bemerkung: «Das Wachstum des Verkehrs ist nicht Selbstzweck. Wenn wir den Wohlstand bewahren sollen, brauchen wir Lösungen.» Die Theorie helfe da nicht viel. «Wir müssen in der Praxis Lösungen bringen. Unser Auftrag besteht nämlich darin, die Mobilität zu ermöglichen.»