Die klassische Automobilindustrie profiliert sich seit jeher und immer noch allein dadurch, dass das eigene Fahrzeug als zeitweilen grösstes Statussymbol gilt. Diese Vormachtstellung bröckelt, weil sich die Einstellung zum Individualverkehr augenscheinlich ändert. Das positive Mobilitätserlebnis steht im Vordergrund, nicht mehr aber unbedingt das Fortbewegungsmittel selbst. Einfacher formuliert: Wozu braucht der moderne Mensch ein eigenes Fahrzeug, wenn es ihm via App schnell, einfach und kostengünstig immer dann zur Verfügung steht, wenn er es wirklich braucht? Wie es aussieht und was damit passiert, wenn er es nicht unmittelbar benötigt, spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Aus diesen Gründen steht die traditionelle Automobilindustrie vor der wohl grössten Umstrukturierung ihrer 130-jährigen Geschichte. Technologieriesen verändern mit einer neuen Art, die Mobilität zu denken, den Markt. Unzählige Start-ups versuchen, sich mit innovativen und digitalbasierten Ideen ein Stück von der Wertschöpfungskette zu sichern. Und zu guter Letzt bedroht die Entwicklung autonomer Fahrsysteme in Verbindung mit Carsharing-Angeboten den klassischen Fahrzeugverkauf. Tatsächlich sind sich viele Experten einig, dass die Einführung des autonomen Fahrens die Fahrzeugindustrie in ihren Grundfesten erschüttern und die sogenannte «Sharing Economy» immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. «Digital or Die» lautet das Credo, um im Haifischbecken der Digitalisierung bestehen zu können. Auch Peter Götschi, Zentralpräsident des TCS, sieht viele Änderungen auf uns zukommen.
«Automobil Revue»: Peter Götschi, die Automobilbranche steht durch die zunehmende Digitalisierung vor einem tiefgreifenden Wandel. Die Beziehung zum eigenen Fahrzeug ändert sich und Drittanbieter drängen – vor allem im Rahmen des autonomen Fahrens – vermehrt auf den Markt. Worin sehen Sie die grössten Herausforderungen für die Automobilhersteller in den kommenden Jahren?
Peter Götschi: Die auf uns zukommenden gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen in den Bereichen Verkehr und Mobilität sind von enormer Tragweite und haben globale Auswirkungen. Autonomes Fahren, Vernetzung der Mobilitätsträger, Sharing Economy sowie alternative Antriebs- und Fahrzeugformen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Damit steht das gesamte Mobilitätsverhalten inmitten tiefgreifender und nachhaltiger Veränderungsprozesse, denen sich kein Akteur verschliessen kann. Die Veränderungen des Umfelds bedingen Veränderungen des Angebots. Kundenbedürfnisse zu erfassen und ihnen entsprechen zu können, liegt im ureigenen Geschäftsinteresse eines jeden Marktteilnehmers.
Kommt dieser Wandel aus Sicht der Automobilhersteller nicht etwas zu spät?
Keineswegs. Die Zukunft der Mobilität hat begonnen und gerade bei der Fahrzeugtechnik, also insbesondere bei den Antriebs- und Assistenzsystemen, sind jedes Jahr aufs Neue wieder zahlreiche Innovationen und positive Entwicklungen festzustellen – etwa betreffend Sicherheit, Umweltschutz, Effizienz und Komfort. Aber auch betreffend den Grundsatzmodellen künftiger Mobilität werden laufend neue Konzepte und Ideen entwickelt und erprobt. Die gesamte Branche versucht derzeit aktiv, die Mobilität der Zukunft zu gestalten.
Einerseits suchen die Konzerne zum Beispiel durch «Pop-up-Stores» die Nähe zum Kunden, andererseits wird die Digitalisierung auch von den Herstellern vorangetrieben. Worin verbinden sich diese beiden Entwicklungen Ihrer Meinung nach und worin widersprechen sie sich eventuell?
Die Nähe zum Kunden ist eine grundlegende Voraussetzung für eine erfolgreiche Geschäftstätigkeit. Die Digitalisierung gehört neben der Vernetzung und der Elektrifizierung zu den grössten Metatrends in der Entwicklung der künftigen Mobilität. Wir erkennen hier keinen direkten inhaltlichen Zusammenhang.
Carsharing-Angebote erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Diesbezügliche Angebote gibt es schon lange, neuerdings kann gar das eigene Auto unkompliziert via App vermietet werden. Verschiedene Städte unterstützen diese Entwicklung zudem beispielsweise durch die Freigabe der Busspuren oder durch gebührenfreies Parken. Neuerdings versuchen auch Cadillac, Volvo und Porsche, solche Angebote zu lancieren. Wie schätzen Sie das Erfolgspotenzial solcher Abo-Angebote ein?
Gerade in den Agglomerationen stehen begrenzte räumliche Ressourcen den Ansprüchen von immer mehr Menschen gegenüber. Deshalb ist eine optimierte Auslastung der zur Verfügung stehenden Ressourcen und Räume unabdingbar. Innovative Mobilitätskonzepte und Sharing-Modelle sind aus Sicht des TCS geeignete Ansätze, um die bestehenden Ressourcen besser zu nutzen und Verkehrsflüsse zu optimieren. Durch die Lancierung von «carvelo2go», der ersten Plattform für E-Cargo-Bike-Sharing, und der Unterstützung der App ParkU, einer Anwendung zum Teilen von Parkflächen beispielsweise, fördert der TCS solche Entwicklungen aktiv.
Die Hersteller versprechen ein «Rundum-Sorglospaket». Wo sehen Sie die Risiken solcher Angebote für den Kunden, und wollen die Kunden überhaupt ein solches Abonnement?
Nun, den typischen Kunden gibt es wohl genauso wenig wie das perfekte Angebot. Jedes Individuum hat auch im Bereich der Mobilität andere, persönlich ausgeprägte Bedürfnisse und Ansprüche. Für die Anbieter von Mobilitätslösungen kann es deshalb nur darum gehen, möglichst breit abgestützte und akzeptierte Modelle zu entwickeln. Der moderne Verkehr ist als ein komplexes und vielschichtiges System zu verstehen und die Herausforderungen der Zukunft erfordern verkehrsträgerübergreifende Lösungsansätze – multimodale Mobilitätsformen.
Experten glauben, dass wir in Zukunft kein eigenes Auto mehr besitzen werden. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung?
Es gibt da durchaus unterschiedliche Expertenmeinungen. Aus unserer Sicht hat das eigene Auto noch lange nicht ausgedient. Die Formen, Ausprägungen und Modelle der Mobilität werden sich weiter ausdifferenzieren und verändern, aber der individuelle Anspruch auf Mobilität und Flexibilität dürfte bestehen bleiben.
Cédric Heer
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