Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.» Seit mehr als einem Jahrhundert wird dieses Zitat mit Henry Ford in Verbindung gebracht. Ob er den Satz tatsächlich jemals gesagt hat, ist nicht abschliessend geklärt. Es spielt auch gar keine Rolle. Denn die Aussage trifft den Nagel so ziemlich auf den Kopf. Immer. Und immer wieder.
Ford veränderte spätestens mit dem Model T nicht nur das Strassenbild, sondern die Gesellschaft. Grund für den durchschlagenden Erfolg war auch die konsequente Umstellung auf die erste kommerzielle Fliessbandproduktion der Automobilgeschichte. Die Fertigung wurde beschleunigt, der Preis um mehr als die Hälfte gesenkt, dafür nahm die Individualisierbarkeit ab. «Jeder Kunde kann seinen Wagen beliebig anstreichen lassen, wenn der Wagen nur schwarz ist.»
Weshalb hier von den Anfängen des 20. Jahrhundert erzählt wird, wo es doch um die Digitalisierung geht? Weil sich die Geschichte wiederholt. Anderes, jüngeres Beispiel: Wohl die wenigsten erwarteten zu Beginn, dass das Smartphone zentraler Begleiter unseres Alltags werden würde. Vor 2007 wusste man gar nicht, wie smart ein Telefon sein kann. Sieben Jahre später war die Rechenleistung eines iPhone 6 bereits 120 Millionen Mal höher als diejenige des Navigationscomputers der Apollo-11-Mission. Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins flogen damit 1969 zum Mond. Heute sind allein bei Google 93 Millionen Quadratkilometer der Erde kartografiert und für jedermann abrufbar.
«Unsere gesamte Flotte agiert als intelligenter Sensor», sagt Sebastian Zimmermann, Leiter Data Services, Governance, Privacy bei BMW. Schwarmintelligenz nennt sich das. Sämtliche Fahrzeuge liefern detaillierte Infos, beispielsweise über Gefahren, die Park- oder Ladesituation. «Unsere Fahrzeuge vermessen die Mobilitätswelt laufend. Innert 24 Stunden haben wir 98.5 Prozent der deutschen Autobahn einmal abgefahren. Wir kennen die Situation vor Ort und können gegebenenfalls nachfolgende Autos auf dynamische Tempolimits oder besondere Gefahren hinweisen.»
Die vier Säulen der Digitalisierung
An sich ist das nichts Neues. Interessanter ist die Frage, was technologisch möglich sein wird. Getragen werden die Autos der Zukunft nicht mehr nur von Karosserie und Reifen, sondern vom Internet, oder vielmehr dem Internet der Dinge – alles kommuniziert mit allem. Mit den digitalen Errungenschaften kommt bei den Herstellern der Wunsch auf, die Prozess- und Stückkosten zu senken. Sie sehen die Notwendigkeit, neue Service- und Produktinnovationen zu implementieren. Es besteht die Chance, neue Kundengruppen zu erschliessen. Und es gibt die Möglichkeit, die Interaktionskosten mit den Kunden zu senken. Die Zahl der Werkstattbesuche wird künftig abnehmen.
Jochen Kurbjuweit, Senior Manager Remote Software Upgrades bei BMW, sagt: «Wir können bereits jetzt das gesamte Fahrzeug über die Luft upgraden, was uns massiv von unseren klassischen Wettbewerbern unterscheidet. Deshalb trauen wir uns zu behaupten, dass wir neben Tesla derzeit die einzigen sind, die so tiefgreifend ins System eingreifen können.» Und: «Bisher haben wir noch kein Feature von Tesla gesehen, dass wir nicht auch über die Luft hätten ändern können.»
Vor allem Cloud-Computing ist für die Autoindustrie interessant. Sämtliche Informationen werden über das Internet direkt in der Cloud, also einem oder mehreren externen Servern, ausgetauscht und verarbeitet. «Die gesamte Rechenpower läuft im Prinzip in der Cloud. Man muss das Fahrzeug in Zukunft als mobiles Device verstehen. Die Cloudifizierung von Funktionen gibt uns die Möglichkeit, uns beispielsweise hardwareseitig von Anforderungen frei zu machen, die wir heute gar noch nicht antizipieren können», sagt James Mallinson, Leiter Development Vehicle Connectivity and Mobile Communications bei BMW.
Kooperationen der Automobilhersteller
Durch vernetzte Systeme können aber auch die Abläufe innerhalb des Unternehmens optimiert werden. BMW will mit Hilfe von Amazon Services die Innovationsgeschwindigkeit weiter erhöhen, indem Daten und Datenanalysen in den Mittelpunkt von Unternehmensentscheidungen und -entwicklungen gestellt werden. Die Unternehmen werden ihre Stärken in ihren jeweiligen Bereichen miteinander verknüpfen, um gemeinsam cloudbasierte IT- und Softwarelösungen zu entwickeln, die die Effizienz, Innovationskraft und Nachhaltigkeit in allen Unternehmensprozessen steigern, von der Fahrzeugentwicklung bis zum Kundendienst. Die Industrie in der Evolutionsstufe 4.0 wird mit modernen Informations- und Kommunikationstechnik verzahnt. Das Ziel bei sämtlichen solchen Kooperationen: Effizienzsteigerung und Optimierung der gesamten Wertschöpfungskette.
Daimler kooperiert mit Nvidia, VW mit Microsoft, Ford mit Google, um nur einige der jüngsten Verbindungen zwischen Autoherstellern und Tech-Giganten zu nennen. Im Detail verfolgen die Verbindungen unterschiedliche Ziele.
Mercedes-Benz will mit dem Hersteller von Grafikprozessoren und Chipsätzen seine Fahrzeuge der nächsten Generation in das autonome Zeitalter führen und intelligente Cockpits entwickeln. Vorderhand geht es dabei um Entwicklungsaufgaben rund um das autonome Fahren, trotzdem wird der Softwarestack von Nvidia wohl ein zentraler Teil des Betriebssystems MB.OS sein.
VW will mit der cloudbasierten Plattform von Microsoft die Entwicklungsprozesse vereinfachen, um Fahrassistenzsysteme und automatisierte Fahrfunktionen – der deutsche Verkehrsminister Andreas Scheuer will autonomes Fahren auf Level 4 schon im kommenden Jahr erlauben – schneller in die Autos zu bringen. «Im Zuge der Transformation zum digitalen Mobilitätsanbieter streben wir nach mehr Effizienz in der Softwareentwicklung. Durch die Verbindung unserer Expertise bei der Entwicklung vernetzter Fahrfunktionen mit Microsofts Know-how im Cloud-Computing und Software-Engineering beschleunigen wir die Bereitstellung sicherer und komfortabler Mobilitätsdienste», sagt Dirk Hilgenberg, CEO der von VW lancierten Car Software Organisation.
Ford setzt bei der Datenanalyse auf künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, will seine Produktionsabläufe modernisieren und vertraut in seinen Autos künftig auf ein androidbasiertes Betriebssystem, wie das auch die PSA-Marken, Renault-Nissan-Mitsubishi und General Motors angekündigt haben. Damit wird Google auf einen Schlag zum Big Player in der Autoindustrie. Derzeit betonen noch alle, die Google-Plattform mit eigenen Softwarelösungen anpassen zu wollen. Womit sie einen Mittelweg gehen.
Hierbei gibt es drei Stufen. Auf der untersten steht das 2015 erschienene Android Auto, das wie Apples Pendant Car Play heute zur Standardausrüstung neuer Fahrzeuge gehört. Dabei handelt es sich um eine Projektion, mit der das Smartphone auf den Bildschirm des Autos gespiegelt wird. Mit der Open-Source-Software Android Automotive werden bestimmte Softwareumfänge und Schnittstellen standardmässig integriert und gepflegt, der Hersteller kann aber noch eigene Anpassungen vornehmen. Ford betont, dass Google darüber hinaus keine Daten von Ford-Kunden zur eigenen Verwendung erhalte.
Nochmals einen Schritt weiter gehen Polestar und Berichten zufolge auch Volvo mit Google Automotive Services (GAS). Das ist das Prinzip All-in, es handelt sich um ein Buy-in in das komplette Google-Ökosystem. Im Grunde wird das Fahrzeug zu einem mobilen Gerät, wie das Smartphone eines ist. Sämtliche Google-Anwendungen laufen dann nativ, Updates für die Applikationen kommen von Google, im Gegenzug erhalten die Amerikaner Zugriff auf Betriebsdaten.
BMW wiederum steckt viel Geld in eigene Entwicklungen. Zudem betont Martin Arend, General Manager Automotive Security, Data Services Connected Car bei BMW: «Das Auto als persönlicher Rückzugsort wird immer wichtiger. Wir respektieren die Bedürfnisse der Kunden, insbesondere im Sinne von Privacy und Security. Bei BMW haben sie die volle Transparenz und informationelle Selbstbestimmung.»
Kein Rennen, sondern ein Marathon
Dafür, welchen Weg man einschlägt, den des schnellen Erfolgs oder den der längerfristigen Planbarkeit, werden derzeit die Weichen gestellt. Fest steht, dass noch vor wenigen Jahren viele Hersteller auf Eigenverantwortung setzten, sich heute jedoch die riesigen IT-Abteilungen nicht mehr leisten können. Outsourcing ist wieder im Trend, mit einem grossen Unterschied zur klassischen Hersteller-Zulieferer-Beziehung: Wenn es um digitale Produkte geht, bestellen die Autobauer nicht mehr ein nach ihren Vorstellungen gefertigtes Einzelteil, sondern adaptieren Fahrzeuge und Strukturen auf die Funktionalität einer externen Lösung. Das spart Kosten, schafft aber auch Abhängigkeiten, weil Erfolg und Misserfolg stärker vom Partner beeinflusst werden. Und Abhängigkeiten bestehen überall, bei der Konnektivität, dem Mobilfunk, der Elektronik, der Software, der Bordnetzarchitektur. Die Frage ist, was man sich als Hersteller ins Auto holt, und was man selber macht. Die Frage sollte zudem sein, wie weit das digitale Leben des Kunden in das Auto integriert werden kann – und nicht anders herum. Aus diesem Dickicht das bestmögliche Produkt auf den Markt zu bringen, ist die Herausforderung. Zumal die Kaufgründe auf jedem Markt unterschiedlich sind.
Womit wir wieder bei Ford angelangt sind. Die Umstellung der Produktionsmechanismen war eine neue Herangehensweise in allen Belangen. An Pferde dachten nach dem Eroberungszug des Automobils nur noch die wenigsten. Hätte man die Menschen vor dem ersten iPhone gefragt, sie hätten sich wohl ein handlicheres Telefon, einen leistungsstärkeren Computer oder eine bessere Kamera gewünscht – nicht aber alles kombiniert in einem Gerät. Die grösste Leistung von Menschen wie Steve Jobs oder Henry Ford war die Tatsache, dass sie uns zunächst zeigten, was wir eigentlich wollen.
Heute stehen die traditionellen Hersteller vor einem der grössten Umbrüche ihrer Geschichte und derselben Herausforderung. Welche Trends sich durchsetzen, ist ähnlich umstritten wie der vermeintliche Siegeszug der Elektromobilität. Die Autobauer wenden viel Geld für neue Plattformen mit alternativen Antrieben auf, suchen neue Produktions- und Vertriebswege und haben bei Gelingen einen massiven Vorteil gegenüber Ford vor 100 Jahren: Glückt der Wandel, wird die Maschinerie effizienter, einfacher und bleibt durch die neuen Technik-Errungenschaften voll – oder mehr denn je – individualisierbar. Misslingt der Schritt allerdings, dann läuft man mit einem Handicap im Rennen oder vielmehr dem Marathon um die Digitalisierung mit. Ob man dabei das Ziel erreicht, bleibt offen. Oder wie Henry Ford es dereinst sagte: «Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.»