Für William Huon, der 1946 in Reims (F) geboren ist, begann alles mit einer simplen Feststellung: Es gab in Frankreich praktisch keine Literatur über die Rekordfahrten von Landfahrzeugen. Der passionierte Autoliebhaber mit einer Ausbildung zum Bohringenieur in der Erdölindustrie machte sich also daran, die Geschichte für ein französischsprachiges Publikum aufzuarbeiten. Seine Recherchen führten 2006 zur Veröffentlichung eines Buches mit unzähligen Details: «Records de vitesse auto: un siècle de défis». Huon, aus dessen Feder übrigens auch eine monumentale Biografie über Enzo Ferrari stammt («Enzo Ferrari, une vie pour la course»), gibt uns im Interview Einblicke in diese sagenhafte Geschichte.
«Automobil Revue»: In welchem Kontext entstand die Jagd nach Rekorden am Ende des 19. Jahrhunderts?
William Huon: Am Anfang zielten die Rekordversuche darauf ab, eine Technik vorzuführen. In der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam es zu einem erbitterten Kampf zwischen elektrisch betriebenen Fahrzeugen (Jeantaud Type Duc, La Jamais Contente), Verbrennermotoren (Mors, Mercedes 90) und dampfbetriebenen Fahrzeugen (Serpollet, Stanley Rocket). Anfangs trugen die elektrisch betriebenen Fahrzeuge den Sieg davon, zum Beispiel die «La Jamais Contente» des Belgiers Camille Jenatzy. Es war das erste Fahrzeug, das im April 1899 schneller als 100 km/h fuhr.
Gibt es noch andere Erklärungen für diesen Wunsch, immer schneller zu fahren?
Die Geschwindigkeitsrekorde dienen auch dazu, die Überlegenheit einer Marke zu demonstrieren. Mit diesem Hintergedanken steigt Henry Ford in den Ring: Durch den Geschwindigkeitsrekord des Ford Arrow Anfang 1904 verschafft er seinem neu gegründeten Unternehmen enorme Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Darüber hinaus kann Ford dank der Wirkung dieses Erfolges seine Bekanntheit in den Vereinigten Staaten steigern. Später sind es die Reifenhersteller, die sich bei den Geschwindigkeitsrekorden abwechseln. In den Jahren 1920–1930 ist es Dunlop mit dem englischen Piloten Malcolm Campbell, in den 1960er-Jahren dann Firestone mit dem Amerikaner Art Arfons und zeitgleich Goodyear mit Craig Breedlove, einem weiteren Amerikaner. Diese drei Unternehmen nutzen die Erfolge ihrer Fahrer auf jede erdenkliche Weise, um die Qualität beziehungsweise die Überlegenheit ihrer Produkte zu unterstreichen.
Sie haben bereits drei Personen erwähnt, aber wer sind die unangefochtenen Helden in der Zeit der Geschwindigkeitsrekorde von Landfahrzeugen?
Der grösste ist zweifellos Art Arfons (1927–2007). Dieser Pilot war ein begnadeter Tüftler. Mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, baute er einfache, robuste und schnelle Fahrzeuge. Seine Green Monster, mit denen er zwischen 1964 und 1965 (927.87 km/h) dreimal hintereinander den Geschwindigkeitsrekord brach, bestanden aus Teilen, die er hier und da «aufgelesen» hatte. Das muss man sich einmal klarmachen: Das Green Monster von 1964 bestand aus dem General-Electric-Turbostrahltriebwerk J79 des Lockheed F-104 «Starfighters», das aus einem überschüssigen Bestand der amerikanischen Streitkräfte stammte, aus der Vorderradaufhängung eines Lincoln von 1937, aus der Lenkung eines Dodge-Lastwagens, einer Federung vom Vorderrad eines Flugzeugs und der starren Hinterachse eines Ford-Lastwagens. Dieses Fahrzeug, das, wie bereits erwähnt, mit Firestone-Reifen ausgestattet war, kostete damals knapp 100 000 Dollar.
Und welches sind die bemerkenswertesten Fahrzeuge?
Was die Technik betrifft, da würde ich den Railton Special nennen, der nach seinem Konstrukteur Reid Railton benannt ist. Am Steuer sass der britische Pilot John Cobb (1899–1952), der 1938 mit 563.58 km/h einen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt hat. Er war dem Grundprinzip gefolgt, dass die Mechanik eines Fahrzeugs für Geschwindigkeitsrekorde so wenig Platz wie möglich beanspruchen muss. Also baut Reid Railton zwei Flugzeug-Turbomotoren vom Typ Napier Lion VII D mit zusammen 2860 PS in eine Monocoque-Karosserie, deren Form auf ein Mindestmass reduziert war. Er baut zwei Motor-Getriebe-Brems-Einheiten in Reihe geschaltet auf jede Seite eines S-förmigen Rahmen-Chassis. Meiner Meinung nach ist der Railton Special der Inbegriff der Rekordfahrzeuge vor dem Zweiten Weltkrieg.
Kommen wir auf heute zurück. Was denken Sie über das Bloodhound-Projekt?
Es handelt sich um eine unglaubliche Geschichte, die eines deutlich zeigt: Die Briten scheuen kein Risiko. Im Gegensatz zu anderen Ländern, die in solchen Unternehmungen keinen richtigen Sinn mehr erkennen können, betrachtet man in Grossbritannien die Geschwindigkeitsrekorde als Mittel, Ingenieur-Teams unterschiedlichster Herkunft zusammenzuführen. An der Spitze des Projekts steht Richard Noble, der 1997 für den Entwurf des ThrustSSC beim letzten Rekord (1227.98 km/h) verantwortlich war. Er ist vernünftig, ehrgeizig, äusserst kleinlich, ohne einer übertriebenen Verwegenheit zu verfallen. Er ist zur Selbstkritik fähig, wenn die Umstände dies nahelegen. Kurz gesagt, Richard Noble hat sicher gute Karten, um den ThrustSSC zu übertreffen.
Welche unvorhersehbaren Schwierigkeiten könnte den Bloodhound-Versuch zum Scheitern bringen?
Meist versagt nicht die Technik, sondern der Untergrund. Früher fuhren die Fahrzeuge auf Teerstrassen. Dann waren es britische und amerikanischen Strände wie Daytona in Florida. Je höher das Tempo, umso grössere Flächen wurden nötig wie die Salzwüste von Bonneville, 177 km westlich von Salt Lake City, oder die Wüste von Nevada. Ende 2020 wird der Bloodhound seinen Versuch in der Hakskeen Pan, einer Wüste in Südafrika, unternehmen. Einen Rekordversuch kann man nicht am Computer simulieren, denn es bleibt immer das Unbekannte des Untergrunds. Bei über 1000 km/h kann der kleinste Stein zu einer Katastrophe führen. Das Wetter und die Piste können auch sehr gut vorbereitete Vorhaben zunichtemachen.