RAID – FAHREN WIE GOTT IN FRANKREICH

Liebreizende Landschaften und Dörfer, begeistertes Publikum am Strassenrand und sportliche Herausforderungen mit automobilen Klassikern – das ist der Raid Suisse–Paris.

FLOTT: Der Sunbeam 20/60 des Teams Thomi/Thomi schaffte es mit nur 92 Differenzpunkten auf Rang 2 im Gesamtklassement.

Im Klassiker nach Paris. Die Idee ist reizvoll, denn die Stadt an der Seine ist immerhin die Kinderstube des Autoverkehrs, und die Bilder im Kopf von diesem Ort passen hervorragend zu den Eindrücken und Emotionen, welche wir mit unseren Klassikern verbinden: Stil, eine gewisse Nonchalance, Klasse. Der Raid hat deswegen weniger die Anmutung einer Rallye, wie es mittlerweile viele gibt, als vielmehr diejenige einer fantastischen Idee, eines langersehnten Traumes oder einfach einer kitschigen Postkarte, die man sich vor einiger Zeit mit dem Magneten an den Kühlschrank gepinnt hat und jeweils kurz betrachtet, wenn man sich frühmorgens vor einem arbeitsreichen Tag im Halbschlaf eine Tüte Milch daraus greift. Einer Postkarte, die man unter all den anderen Notizen und Zetteln als erste vermissen würde, wenn sie fehlte. Eine Fahrt nach Paris, durch pittoreske Dörfer und Städtchen, über menschenleere Routes Départementales, vorbei an winkenden Menschen, ja, so haben wir uns diesen Anlass vorgestellt, den Raid. Und so kam es, dass auch die «Automobil Revue» am Donnerstagmorgen des 24. August zugegen war und mit dem Klassiker des Autors in die Zwischenhalle neben dem Rundhof der Messe Basel einfuhr. In einer erstaunlich ruhigen Atmosphäre wimmelten Besitzer und Funktionäre, Schaulustige und Beifahrer/innen um einen kunterbunten Mix von edlen Klassikern und in Ehren ergrauten Alltags-Oldies herum – die Spanne reichte vom Mercedes 230­­ E W 124 in «Äh-Äh-Braun» bis zum Vorkriegs-Alvis 4.3 Liter in passendem «BRG», British Racing Green. Urheber und Organisator H. A. Bichsel, der noch kurz zuvor einen Spitalaufenthalt über sich hatte ergehen lassen müssen, empfing die Teilnehmer daraufhin zum Fahrerbriefing, während Navigatoren, Mechaniker, oder wer immer sich dafür finden oder begeistern liess, Startnummern und Rallyeschild am Wagen anbrachten. Bereits nach den verschiedenen Kategorien geordnet – Véterans, Tourisme und OpenRaid, die «Gümmeler», in der sich auch das dreiköpfige AR-Team wiederfand –, warteten die Wagen auf den Wink der «Marshalls» zum Startparcours über die Rampe und rund um den Rundhof. Speaker Ruedi Wenger erwies sich derweil, wie am Concours d’Elégance am Vortag, als versierter Kenner von Menschen und Maschinen.

VERFOLGER: Ein Packard im Rückspielgel vor französischer Kulisse? Das muss der Raid sein.

Auf, nach Beaune!

Tag eins des Raids – für die Teilnehmer des OpenRaid bedeutete dies eine Startzeit gegen 14 Uhr, während die Véterans der Tradition folgend bereits um Punkt 12.30 Uhr mit der Schweizerfahne auf den Raid geschickt worden waren. Zielvorgaben für die erste Etappe nach Gennes war ein Schnitt von 44 km/h für die Vorkriegsklassiker. Für die Kategorien Tourisme und OpenRaid galt ein Stundenmittel von 46 km/h als Vorgabe. Mit einem der letzten Wagen, mit Startnummer 76 von 79, machte sich die Dreierbesatzung der AR mit ihrem 1953er-DeSoto-Powermaster auf den Weg. Das Auto besitzt einen 4.1-Liter-6-Zylindermotor mit 118 PS und eine Getriebe-Semiautomatik, die es erlaubt, in einer kleinen und grossen Gruppe (L oder D) jeweils automatisch zwischen zwei Gängen hin und her zu wechseln. Servolenkung gibt es hingegen keine, genauso wenig wie eine Servobremse. So weit, so gut. Die Route führte zunächst über die Autobahn nach Weil, um erst danach über den Rhein hinüber ins gelobte Land abzubiegen. Bereits auf den ersten Metern auf französischem Boden standen Fans mit ihren eigenen Veteranen und winkten. Er liess sich ganz offenkundig gut an, dieser Start. Durch Dörfer und Felder, um Kurven herum und über Kuppen hinweg zog sich so die Route zum ersten Etappenhalt hin. Bereits am Vortag mit kleinen Problemen mit der Benzinversorgung kämpfend, zeigte das amerikanische Dickschiff aus dem Hause Chrysler – DeSoto war eine generische Marke, welche von 1928 bis 1961 zwischen Chrysler als Top-Brand und Dodge darunter positioniert lag – ein Stottern und Ruckeln. Im Wissen darum, als nahezu letzte Gestartete keine Chance mehr zu haben, das vordere Feld einzuholen, selbst wenn Team AR als «Open»-Fahrende keine Sonderprüfungen zu absolvieren hatte, fiel der Entscheid via Autoroute den Tross vor Erreichen des Zielortes in Beaune abzufangen und die Zeit zu einer gründlichen Reinigung des Vergasers zu nutzen. Gesagt, getan und wie zu erwarten, fühlte sich der amerikanische Fullsize-Cruiser auf einem Kurs mit gerader Linie weit wohler als auf den sich windenden Überlandstrassen des Elsass. Spannender allerdings war diese Route mit Bestimmtheit nicht, abgesehen vielleicht von den zahlreichen aus den Seitenfenstern nach oben gestreckten Daumen von Leuten in  überholenden Autos.

Beaune, diese Perle im Burgund, mit ihrer mittelalterlichen Innenstadt und dem Hôtel Dieu im Zentrum, dem wohl besterhaltenen mittelalterlichen Krankenhospiz überhaupt, war der Zielort der ersten Tagesetappe.

 

EIN BLICK: Für landschaftliche Schönheiten blieb den sportlich engagierten Teams wenig Zeit.

Stinken und Schrauben

Eine umfangreiche Zerlegung des Vergasers auf dem Hotelvorplatz stand für das Team AR als nächstes auf dem Programm. Derweil trafen die Autos langsam auf dem grossen Parkplatz ein. Dank dem durch den Raid angebotenen Gepäcktransport durften sich nach einem ausgesprochenen Hitzetag auch diejenigen auf frische Kleider freuen, die mit kleinem oder gar fehlendem Kofferraum unterwegs waren – so, wie die wilden Reiter auf dem American LaFrance oder das Team mit der Startnummer 1 auf dem Ford T, dem ältesten Auto im Feld.

Wie so oft bei Veranstaltungen dieser Art, ist es für die Veranstalter eine Herausforderung, entsprechende Unterkünfte mit genügend Parkplätzen zu finden. So liegen  die Hotels meist in einem Vorort, wo zwar entsprechender Platz zu finden ist, allerdings mit dem Nachteil, dass man von Beaune zumindest am Tag der Ankunft kaum einen Eindruck hatte gewinnen können. Dem  Team AR allerdings winkte sowieso andere Abendbeschäftigung, und dank dem grossen Kofferraum brauchte niemand auf seinen Koffer zu warten, sodass nach dem Apéro im Hotelgarten end­lich die zuvor beschlossene Zerlegung des Vergasers ausgeführt werden konnte. Prompt blockierte ein Gummistückchen das Loch zur Schwimmernadel, sodass der – vermeintliche – Urheber aller Unannehm­lichkeiten lokalisiert zu sein schien und eliminiert werden konnte. Zufrieden gings dann zunächst auf das Zimmer und unter die Dusche, um den Abend in der über­aus freundlichen Gesellschaft Gleichgesinnter recht spät ausklingen zu lassen.

Kulinarik und Kulturgeschichte allenthalben

Am Freitagmorgen sollte das AR-Team als erstes bereit sein um die Teilnehmer auf den Sonderprüfungen ablichten zu können. Der Start hinter dem Feld hatte sich als völlige Fehlüberlegung erwiesen. Als Startort galt das Mercure Hotel in Beaune. Hier, auf dem grossen Parkplatz, konnte man erstmals seit dem Start die verschiedenen Fahrzeuge in Augenschein nehmen und den Vorbereitungen der einzelnen Teams beiwohnen. Eine subtile Mischung aus Vorfreude, souveräner Gelassenheit und einer gewissen Nervosität war bemerkbar. Das Team AR, beflügelt vom frisch gesäuberten Vergaser, machte sich frohgemut auf den Weg in die Altstadt von Beaune, welche zu rund der Hälfte umrundet werden sollte, so zumindest gemäss Roadbook und dem uns exklusiv zur Verfügung stehenden Kartenwerk (zwecks besserer Übersicht über Strecke und Sonderprüfungen hatte die Organisation Raid die Güte, exklusiv und streng vertraulich entsprechende Unterlagen auszuhändigen). Allerdings kam es etwas anders. Die Kirche Sacré Cœur auf Beaunes Ringstras­se und die Mannschaft der AR schlossen alsbald innige Freundschaft. Die alten Mauern sollten Hintergrund für die nächste Stunde intensiver Schraubarbeiten sein. Das Raum- und Zeitschiff aus Detroit hatte sich entschieden, in den Streik zu treten. Nachdem das Werkzeug ausgepackt war, wollte es der Zufall, dass eines der beiden vom Raid zur Verfügung gestellten Pannenfahrzeuge zu Hilfe eilte. Alex Geigy, ein versierter Kenner alter Autotechnik und Inhaber der Garage mini&more in Bättwil SO, und sein Co-Pilot Mark Stucki installierten eine elektrische Benzinpumpe und rieten, die Autobahn zunächst einmal zu meiden. Gesagt, getan? Wir steuerten den grauen DeSoto direkt auf die Autoroute, wo er nach einigem Stottern und Schies­sen – wie von magischer Hand selbst repariert – plötzlich in einen ruhigen Rhythmus verfiel, um Richtung Troyes loszuziehen. Endlich! Die fantastische Anlage der Abbaye de Fontenay, eine Gründung des Bernhard de Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert, bildete den einmaligen Rahmen für den Mittagshalt. Die Reichhaltigkeit des Buffets wurde den Erwartungen bezüglich französischer Kulinarik mehr als gerecht. Am Nachmittag führte die Route über Traumstrassen, wie sie auf unserem Kontinent wohl nur in Frankreich zu finden sind: schnurgerade und gesäumt von Alleebäumen, dazwischen kleine Dörfer. Das Ziel hiess Mesnil-Saint-Père, am südlichen Ufer des Lac d’Orient in der Nähe von Troyes gelegen. Untergebracht in mehreren Hotels, teilte sich der Tross danach auf und steuerte die entsprechenden Logis an, um sich für eine Exkursion in ein Gourmet-Restaurant am Stadtrand von Troyes aufzumachen. Das Team AR behob derweil mithilfe der gelben Engel des TCS ein elektrisches Problem. Fortan herrschte seitens des Autos eitel Sonnenschein bis zum Ende des Raid.

VIELE WEGE FÜHREN NACH PARIS: … und wer sich Zeit nehmen kann, gewinnt entlang der Route des Raid unzählige unvergessliche Eindrücke.

Blinde Kühe und Schlauchprüfungen

Der Raid hat sehr viele touristische Elemente und führt durch Landschaften, die zu den schönsten Frankreichs zählen. Für die Navigierenden allerdings blieb besonders in den engen Dörfern selten viel Zeit, sich dessen zu erfreuen. Sonderprüfungen, eine «Find your Way»-Sektion und Schlauchprüfungen boten den Nervenkitzel, der das Gleichmässigkeits-Fahren ausmacht. Für den Samstagmorgen stand als Erstes eine Partie «Blinde Kuh» an. Hier galt es, eine Distanz von 25 Metern mit verbundenen Augen und ohne Hilfe eines Navigierenden möglichst punktgenau abzufahren. Erstaunlich, wie sich manch ungeübter Fahrer dabei täuschen konnte und sich nach einer knappen Wagenlänge bereits im Ziel wähnte. Am Nebel alleine, der über dem fast surreal anmutenden, leeren Parkplatz eines Outlet-Stores lag, kann es nicht gelegen haben.

Mit besonderer Sorgfalt ausgewählt, boten gewisse Startpunkte selbst für Zuschauer einmalige Bilder. Charmant war, wie die lokale Bevölkerung entlang der Strecke sich teilweise bereits Stunden vor der Durchfahrt des Raid-Trosses in Position gebracht oder sich gar eine passende Dekoration ausgedacht hatte. In jedem Fall bedeutete dies, wie sich das für so viel entgegengebrachte Begeisterung gehört, viel Arbeit für die Hupe und den Winkarm.

Eine letzte Prüfung zum Schluss – es galt, 15 Sekunden für das Durchfahren der Wegstrecke präzise einzuhalten – und der Raid setzte zum letzten Ziel, dem Schloss in Raray, an. Eine würdige und toll gewählte Kulisse für den Abschluss des kompetitiven Teils, der Ort übrigens, an dem Jean Cocteau seine Aussenszenen für den Film «La Belle et le Bête» von 1945 gedreht hat. Selbst streng nach Benzin riechend, verschwitzt oder mit Fliegen in den Haaren und zwischen den Zähnen, in Frankreich fühlt man sich in solcher Umgebung stets ein klein wenig erhabener.

Das Ziel ist – das Ziel!

Ganz ohne Zweifel, der Weg einer Veranstaltung vom Format des Raids ist gewiss ein wesentlicher Teil des Ziels. Das Besondere dieser 27-jährigen Traditionsfahrt aber bleibt das effektive Ziel in Paris. Das Team AR war sich darüber einig, unter Ausklammerung des sportlichen Teils, den es aussen vor gelassen hatte und darüber nicht zu urteilen vermag, dass der Raid von geradezu sinnlicher Art war. Gewisse Streckenabschnitte entsprachen exakt der Vorstellung einer französischen Traumstrasse. Etappenorte wie Troyes oder Beaune sind Juwelen, für die alleine es sich lohnen würde, sich bald einmal wieder ans Lenkrad zu setzen, um hinzufahren, vielleicht mit mehr Zeit für die kulturellen Aspekte denn die sportlichen Herausforderungen. Und Paris, die Einfahrt in die Stadt, die dem Automobil als erste der Welt ihr Pflaster zur Verfügung gestellt hat, von wo aus sich die frühen Autopioniere in verwegener Ungewissheit über die Zuverlässigkeit ihrer Vehikel in das sie umgebende Umland hinausgewagt hatten, die Metropole, welche sich dereinst als Diesel- und Altauto-frei präsentieren soll, ist noch immer eine Autoreise wert – respektive einen Raid.

Die Abschlussgala lüftete das Geheimnis um die Endresultate. Erfreulich dabei: Die Jungen mischten erfolgreich in der Spitzengruppe mit, Frauen ebenso. Wie Hans A. Bichsels Sohn, der seinen Vater vertrat, erwähnte, soll es den Raid künftig in weiterentwickelter Form geben, denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in den vergangenen Jahren eine schrumpfende Zahl von Teilnehmern zu verzeichnen war. Ein Blick in den dicht gefüllten Kalender erklärt dabei einen gewichtigen Teil der Ursache.  Dass diese «Classique» für Klassiker aber nach wie vor einmalig ist, hat sie auch 2017 bewiesen. So darf man sich bereits auf die Ausgabe 2018 freuen.

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