Lawrence Patihis ist Gedächtnisforscher an der University of Southern Mississippi – und Vater. Er hatte vom dramatischen Anstieg von Todesfällen von Kindern gehört, welche bei brütendem Sonnenschein in Autos eingeschlossen waren. Bis Anfang August 2016 waren in den USA bereits 26 Kinder in überhitzten Fahrzeugen gestorben, was die Gesamtanzahl vergleichbarer Tragödien des gesamten Jahres 2015 bereits um einen Fall überschreitet.
Patihis beschloss also, proaktiv an diese latente Gefahr heranzugehen, und versuchte, seinem dreijährigen Töchterchen beizubringen, wie es den Verschluss seines Kindersitzchens alleine entriegeln könnte. Das Kleinkind begriff es nicht. Also wollte der besorgte Vater seinem Mädchen zeigen, wie man die hintere Türe öffnet, was aber auch nicht gelingen wollte.
In der Zeit von «SafeLock», dem Sicherheits-Verriegelungssystem, welches in vielen Autos automatisch agiert, würde allerdings selbst ein eingeschlossener Erwachsener weder die Türen noch die Fenster öffnen können, ohne eine Scheibe einzuschlagen. Das Öffnen gelingt nur noch mittels des für das jeweilige Fahrzeug kodierten Originalschlüssels. Der TCS empfiehlt deshalb, dass sich bei aktivem SafeLock keine Lebewesen im Fahrzeug aufhalten sollten. Wenn man Kinder hat, müsste man sich sogar überlegen, das Sicherheitssystem komplett zu deaktivieren. Wie das geht, verrät die Gebrauchsanweisung des Fahrzeugs.
Nicht nur Vergesslichkeit
Dass Kinder (oder auch z.B. Hunde) bei heissen Sommertemperaturen in Fahrzeugen eingeschlossen werden, ist nicht ausschliesslich der Vergesslichkeit oder Unachtsamkeit der Aufsichtspersonen anzulasten. Kinder klettern auch mal selbstständig und unerkannt ins Auto zurück, um ihr Lieblingsspielzeug zu holen, oder ein Hund erschreckt sich auf dem Parkplatz und springt auf seine Lieblingsdecke auf dem Rücksitz des Fahrzeugs – und wenns dumm läuft, schlägt dann die Autotür zu, und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Kinder und Tiere werden aber durchaus auch bewusst im Auto zurückgelassen, weil den Erwachsenen das Tempo einer Überhitzung des Innenraums und die daraus resultierenden Gefahren schlicht nicht bewusst sind. Fahrzeugmessungen des TCS bei der EMPA Dübendorf in einem klimatisierten Raum mit UV-Scheinwerfern zur Simulation eines typischen europäischen Sommertages haben ergeben, dass bereits ab einer dauerhaften Innenraumtemperatur von 40 °C nach einer Weile der tödliche Kollaps droht, da bereits diese Hitze die Kompensationsfähigkeit des Organismus‘ überfordern kann. Selbst eine Aussentemperatur von lediglich 24 °C kann den besonnten Innenraum eines geschlossenen Autos innerhalb von nur 30 Minuten über diese kritische Schwelle hochheizen (siehe Grafik rechts). Auf dunklen Lederoberflächen, wie z.B. Sitzen, Lenkrad oder Schaltknauf, kann problemlos eine Temperatur von 55 °C entstehen, was auf der menschlichen Haut bereits nach wenigen Sekunden Schäden verursachen kann.
Komplexe Problematik
Sicherheitsexperten drängen den Gesetzgeber und die Autoindustrie dazu, Regeln und technische Lösungen zur Verhinderung von Hitzeopfern bei Kleinkindern zu entwickeln. Die Aktion kommt aber nur langsam in die Gänge, weil die Öffentlichkeit ausschliesslich den Eltern Verantwortungslosigkeit vorwirft, anstatt zu erkennen, dass das Problem jedermann betrifft. «Die Leute sind viel zu überzeugt davon, wie zuverlässig ihr Gedächtnis funktioniert, statt zu erkennen, wie fehlerhaft es tatsächlich arbeitet», gibt sich Lawrence Patihis als Forscher besorgt und nimmt an, dass die Leute zu sehr ihrem eigenen Instinkt vertrauen, welcher dann schon zuverlässig verhindern würde, dass Vergesslichkeit ihr Kind oder Haustier in tödliche Gefahr bringen könnte.
Die amerikanische «National Highway Traffic Safety Administration» versuchte dem Problem mittels der Aufklärungskampagne «Look Before You Lock» (Schau nach, bevor du abschliesst) sowie mit Erinnerungs-Tipps und -Tricks für die Eltern zu begegnen. Der Erfolg war moderat, und die meisten diese Gefahr adressierenden Zubehörprodukte auf dem Markt sind leider ebenfalls unzuverlässig. Nur General Motors verbaut nächstens eine Erinnerungs-Technologie, welche erstmals im «GMC Acadia 2017» und später dann auch in anderen Modellen zur Anwendung kommen wird. In derart ausgerüsteten Fahrzeugen läutet eine Warnglocke und erinnert eine Meldung im Fahrdisplay, den Rücksitz zu kontrollieren. Das einzige Zubehörprodukt, welches – gemäss dem amerikanischen «Consumer Reports», einer Art «Kassensturz» – zuverlässig vor dem Vergessen eines Babys auf dem Rücksitz warne, sei der Kindersitz «Evenflo SensorSafe», welcher sich automatisch mit einem Dongle (Stecker) im OBD-II-Port (Datenzugang) des Autos verbinde, wenn der kleine Passagier angegurtet werde. Beim Abstellen des Motors ertöne dann ein Warnsignal.
Zahl der Todesfälle steigt
Ein Grund, wieso die Zahl von zurückgelassenen Kleinkindern in Autos ansteigt — und somit auch die Anzahl der Todesfälle durch Überhitzung — könnte darin liegen, dass Kindersitze, wegen der Gefahr durch die Airbags, nicht mehr auf dem Beifahrersitz montiert werden, sondern hinten – und dann sind die friedlich und ruhig schlafenden Sprösslinge sozusagen «aus den Augen, aus dem Sinn …». Gedächtnis-Blackout. — Janette Fennell, Gründerin von KidsAndCars.org, einer Aktivisten-Gruppe, welche die Hitzschlag-Problematik als Top-Prioriät erachtet, wies tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Einführung des Rücksitzgebots für Kindersitze und der Zunahme von hitzschlagsbedingten Todesfällen von Kindern in Autos nach.
Die Macht der Gewohnheit
Eine Gedächtnislücke könne jedem widerfahren, meint Lawrence Patihis. Sie passiere am ehesten, wenn eine Änderung in der täglichen Routine auftrete, indem z.B. ein Elternteil krank werde und stattdessen das andere das Baby in die Kita führen müsse oder wenn man einen unüblichen Zwischenhalt einlege oder wenn ausnahmsweise mal die Grosseltern das Elterntaxi spielten. «Solche Veränderungen bringen unsere normalen, tief verwurzelten Gedächtnismuster durcheinander», sagt Patihis. Um sich den Routine-Wechsel und das Bewusstsein um die neue Situation präsent zu halten, müsse man sich die ungewöhnlichen Umstände kontinuierlich vor Augen führen, da sonst das «Gewohnheitstier» in uns gnadenlos die Führung übernehme.
Es braucht (auch technische) Lösungen!
Die «Rücksitz-Erinnerung» von General Motors ist ein erster Schritt in eine gute Richtung, aber es braucht mehr, und das rasch. So sind ja in den 1950-er-Jahren in den USA Gesetze erlassen worden, dass man Kühlschränke nicht mehr so verriegeln kann, dass sie von innen nicht zu öffnen sind. Kinder und Tiere sind in Kühlschränken unabsichtlich «entsorgt» worden, weil sie sich zum Spielen in den für den Abtransport abgestellten Geräten versteckt hatten.
Oder dass man die Kofferraumklappe auch von innen öffnen können muss, weil in den 1990-er-Jahren Kinder so den Hitzetod erlitten hatten. — Analog braucht es nun auch Verordnungen und schnellstmöglich darauffolgend technische Lösungen von Seiten der Automobilindustrie, um diesen menschlichen Tragödien einen Riegel zu schieben, denn rund 30 % der Todesfälle seit 1998 sind Kindern zugestossen, welche in Autos unabsichtlich eingeschlossen und nicht solchen, die darin vergessen worden sind.
Tipps des TCS
– Halten Sie sich nie in einem geschlossenen, unklimatisierten Auto an – der Sonne auf. Ab 40 °C Innenraumtemperatur wird es kritisch!
– Befestigen Sie eine Sonnenschutzfolie mit der spiegelnden Seite – – nach aussen auf der Windschutzscheibe. Der Innenraum bleibt so um
– bis zu 10 °C kühler, das Armaturenbrett sogar um bis zu 40 °C!
– Leicht geöffnete Fenster reichen nicht aus, um den Innenraum kühl – zu halten. Es besteht keine ausreichende Luftzirkulation!
– Achten Sie beim Autokauf auf die Farbe. Schwarz absorbiert bis zu – 20 °C mehr Wärme als Weiss!
– Lassen Sie sich Zeit. Öffnen Sie vor dem Einsteigen ins überhitzte
– Auto alle Fahrzeugtüren für mindestens 3 Minuten!