In 96 Hundertstelsekunden auf Tempo 100

Um das Wort Sekunde verständlich ­auszusprechen, ­benötigt man gut eine Sekunde. In der gleichen Zeit könnte man aber auch aus dem Stand auf 100 km/h beschleunigen.

Zuerst sehr viel Arbeit, dann noch viel mehr Freude: Das Team des Akademischen Motorsportvereins Zürich hat den 2022 aufgestellten Weltrekord für das am schnellsten von 0 auf 100 km/h beschleunigende Elektrofahrzeug pulverisiert. Unter anderem dank eines genialen Abtriebtricks, der schon 1978 in der Formel 1 eingesetzt wurde.

September 2022, in der Nähe von Renningen im grossen Kanton bei Stuttgart: Der Weltrekord für das am schnellsten beschleunigende Elektrofahrzeug wird vom Green Team der Universität Stuttgart gebrochen. Der Eintrag im «Guinness-Buch der Rekorde» nennt 1.461 Sekunden für den Spurt auf 100 km/h, was eine Verbesserung der bisherigen Marke um 0.052 Sekunden bedeutet. Diesen alten Rekord hatte 2016 der Akademische Motorsportverein Zürich (AMZ) aufgestellt und immerhin sechs Jahre hatte er gehalten. Wie hat man dort auf diese Niederlage im vergangenen Jahr reagiert? Das Team schwieg und arbeitete stattdessen. Denn wie das halt so ist, wenn man geschlagen wird: Nein, man hält nicht auch noch die andere Backe hin. Man schlägt zurück. Ein knappes Jahr später ist es soweit. Und wie!

Irrwitziges Leistungsgewicht

Als Basiswerkzeug, um sich den Weltrekord zurückzuholen, holte das Team einen ausgedienten Formula-Student-Renner mit Namen Mythen von 2019 aus dem Ruhestand. Aufgrund der neuen Anforderungen an die nur kurze und intensive Beschleunigungsphase ging es dem Fahrzeug an den Speck. Insbesondere bei Akku, Wechselrichter, Motoren und Aerodynamik waren Neuentwicklungen fällig. Nach der Verjüngungskur des Rekordanwärters stand der Systemleistung von 235 kW (320 PS) ein Leergewicht von nur noch 140 Kilogramm gegenüber. Das ergibt ein Leistungsgewicht von 0.6 kg/kW! Doch das Hauptproblem bei der Rekordjagd liegt in der Natur des Antriebskonzepts. Wie bekommt man die enorme Kraft der Elektromotoren überhaupt auf den Boden? Bei hohen Tempi sorgen Flügel und Spoiler für den gewünschten Abtrieb, doch aus dem Stand sind diese Komponenten wirkungslos.

Die Lösung erinnert an den Formel-1-Geniestreich von 1978, an den Brabham-Alfa Romeo BT46. Bei dem erzeugte ein Ventilator einen Unterdruck am Heck. Das AMZ-Team entwickelte den gesamten Unterboden neu und sorgte mit Ventilatoren für Unterdruck unter dem Fahrzeug. So kann das Fahrzeug bereits im Stand mit dem mehrfachen seines Eigengewichts auf den Asphalt gesaugt werden und den nötigen Abtrieb generieren. 

Nach der Pflicht folgt die Kür

Am 1. September 2023, direkt vor dem Headquarter des AMZ am Innovationspark in Dübendorf ZH, beginnen die letzten Vorbereitungen, und gegen zehn Uhr treffen Sponsoren und Offizielle ein. Vertreter einer akkreditierten Prüfstelle, in diesem Fall des Dynamic Test Centers (DTC), fungieren als Zeugen und sollen die Rechtmässigkeit des Rekordes bestätigen, so verlangt es die Guinness World Records Limited aus London. Das Fahrzeug ist bereit, die Pilotin angeschnallt, die Heizdecken von den Reifen gezogen. Das Startprozedere lautet: Kopf nach hinten an die Stütze pressen, beide Schaltwippen ziehen, Pedal durchdrücken und die Schaltwippen schnappen lassen. Und danach den Elektroboliden möglichst ohne zu lenken über die Distanz beschleunigen.

Schon der erste von insgesamt elf Versuchen an diesem Tag gelingt. Mit 1.11 Sekunden wird der aktuelle Rekord deutlich unterboten und das Team freut sich bescheiden. Die Zurückhaltung hat ­einen Grund, denn das soll noch lange nicht alles gewesen sein. Nun werden die Reifentemperaturen gesteigert sowie die Leistung schrittweise erhöht. Auch eine noch leichtere Pilotin kommt zu ihrem Einsatz – und im neunten Versuch wird das intern gesetzte Ziel tatsächlich erreicht. Weniger als eine Sekunde braucht das Rekordfahrzeug für den Sprint auf Tempo 100. Genauer gesagt: in null-Komma-neun-sechs Sekunden sind die 100 km/h erreicht. Die Physik-Formelsammlung hilft bei den Detailberechnungen: Die mittlere Beschleunigung liegt bei 2.95 g, und es braucht nur eine Strecke von weniger als 13 Metern, ehe 100 km/h erreicht sind. Nun ist die Freude des Teams grenzenlos, die Mitglieder liegen sich in den Armen, vergessen sind die vielen Stunden, Nachtschichten, Rückschläge auf dem Weg zum neuen Rekord.

Die Rekordfahrt wird in den kommenden Tagen von Guinness noch geprüft und verifiziert. Nach der hoffentlich erfolgreichen Prüfung wird der Rekord offiziell wieder in die Schweiz zurückkehren. Für wie lange? Die Luft für neue Rekorde wird auf jeden Fall immer dünner. 

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