Endlich ist er da. Und er soll einen Wendepunkt markieren, auch wenn Kia das so nicht sagt. Der EV6 GT ist mit 430 kW (585 PS) der stärkste je gebaute Kia, er hat über 200 PS mehr als der bisherige Rekordhalter, der Stinger GT. Auf diesen bezieht man sich gerne bei Kia, wenn man vom EV6 GT spricht. Und obwohl die beiden ausser den zwei verheissungsvollen Buchstaben im Namen so gar nichts gemeinsam haben, versteht man schon wieso. Schliesslich war der Stinger GT bei der Lancierung mit seinem auf 272 kW (370 PS) gesteigerten 3.3-Liter-V6 und einem ganz hervorragenden Fahrwerk auch eine Ausnahmeerscheinung im Line-up der biederen Koreaner. Entwickelt unter der Leitung von Ex-BMW-M-Chefingenieur Albert Biermann und entworfen von Ex-Audi-Designer Peter Schreyer, startete der Stinger in Europa einen Frontalangriff gegen die deutsche Konkurrenz.
Gewonnen hat er freilich wenig ausser den Herzen einiger Fans und den fast uneingeschränkten Respekt der schreibenden Gilde. Wenn keine Kreise im Markenlogo sind, ist die hiesige Kundschaft eben skeptisch und kauft im Zweifelsfall dann doch lieber deutsch. Aber der Stinger GT lieferte den Beweis, dass die Koreaner durchaus starke Autos bauen können. Das war vor über fünf Jahren, seither kam nichts mehr Neues. Schon fast schien es, als sei der Stinger ein Ausreisser gewesen und nicht der erhoffte Wendepunkt in eine mutigere Zukunft. Bis Ende 2021 mit dem EV6 der erste konsequente Stromer kam. Technologisch liess der locker die gesamte deutsche Konkurrenz hinter sich, und bei der Optik sprintete Chefdesigner Karim Habib der hausinternen, etwas biederen Designsprache um Längen davon. Und dann waren da noch die Gerüchte um eine kommende Überversion des Elektro-SUV, die sich wenig später mit dem hier getesteten, 430 kW (585 PS) starken EV6 GT bewahrheiteten.
Am Wendepunkt
Dieser soll aber nicht bloss ein weiterer Ausreisser sein, sondern tatsächlich ein Wendepunkt. Bereits jetzt ist klar, dass es auch das grosse SUV EV9 in einer leistungsstarken GT-Variante geben wird, und bei der Batterietechnologie werden die Koreaner ihren Vorsprung gegenüber der europäischen und japanischen Konkurrenz wohl auch noch einige Jahre halten können – bis die Chinesen richtig Fuss fassen. «Aber Tesla!», mag jetzt der eine oder andere einwenden. Stimmt, Tesla. In reinen Zahlen ist der Model Y Performance gar nicht so weit entfernt von einem Kia EV6 GT. Mit 660 Nm Drehmoment und 3.7 Sekunden von 0 auf 100 km/h fährt der Amerikaner längsdynamisch auf einem ähnlichen Niveau wie der Kia mit 740 Nm und 3.5 Sekunden. Dass Tesla die Reichweite im Griff hat, ist auch kein Geheimnis: Da schlägt der Model Y den EV6 GT mit 515 Kilometern gegenüber 424 Kilometern.
Fahren ist aber mehr als pure Leistung, es gehört in erster Linie auch ein gutes Fahrwerk dazu, und da tun sich erfahrungsgemäss die schweren Elektro-SUV wortwörtlich etwas schwer. Vor allem wenn auf adaptive Dämpfer verzichtet wird, wie das auch Kia tut. Man hat den GT zwar fünf Millimeter tiefer gelegt, die – bereits in der Standardversion eher harten – Dämpfer noch härter gemacht und die Lenkung noch etwas direkter. Im Alltag fühlt sich das stimmig an, wer aber die sportliche Motorisierung ausreizen will, merkt schnell einmal, dass das Fahrwerk an seine Grenzen gerät. Mit 2.2 Tonnen Leergewicht und einem SUV-typisch hohen Schwerpunkt lassen sich die Gesetze der Physik auch nicht aushebeln. Die Lenkung ist direkt und nicht zu leichtgängig, dürfte aber noch etwas mehr Rückmeldung von der Strasse bieten. Aber um noch einmal den Bogen zu Tesla zu schlagen: Wir kritisieren den Koreaner auf hohem Niveau.
Regenerativ Bremsen
Vier verschiedene Fahrmodi bietet der EV6 GT, die über zwei Knöpfe am Lenkrad gewählt werden: Normal, Eco sowie Sport auf einer Taste und auf einer auffälligen, neongelben Extrataste den GT-Modus. Verändert wird mit ihnen die maximale Motorleistung, die Gasannahme und das Verhalten von Traktionskontrolle und ESP. Zudem hat Kia noch einen fünften Fahrmodus versteckt: Driften. Kia verrät zwar nicht offiziell, wie er aktiviert wird, aber natürlich dauerte es nicht lange, bis die Anleitung für die nötige Tastenkombination im Internet auftauchte. Was wohl auch nicht ganz unbeabsichtigt war, dafür gab man sich bei Kia zu wenig Mühe, das Geheimnis zu bewahren. Das Drehmoment wird in diesem Modus ungefiltert an die Hinterachse entlassen, wo es vom elektronisch geregelten Sperrdifferenzial, das aus dem Stinger GT stammt, an die Räder gesendet wird und die Reifen in Rauch aufgehen lässt. Bereits beim GT-Modus empfiehlt der Hersteller, ihn auf der Strasse mit Vorsicht zu geniessen. In der Tat wird der Stromer damit zur Heckschleuder.
Man habe die Anzahl Gleichteile mit dem normalen EV6 bewusst so hoch wie möglich halten wollen, erklärt David Labrosse, Leiter Produktplanung bei Kia und Hyundai Europa – «aus Kostengründen». Mechanisch neu sind die vergrösserten Bremsen mit 380-Millimeter-Scheiben an der Vorderachse. Die kommen zwar in anderen Modellen des Konzerns auch bereits zum Einsatz, neu ist aber ein System namens Regenerative Braking-Maximization. So kann über die Elektromotoren mit bis zu 320 kW rein elektrisch gebremst werden. Auch das hat wieder mit der 800-Volt-Architektur und der Batterietechnologie zu tun, die es erst ermöglichen, so hohe Leistungen in die Batterie zu führen. Damit kann die regenerative Bremse über einen grossen Einsatzbereich die mechanische Bremse ersetzen. Vor allem habe man auch die elektrische Bremsleistung an der Vorderachse vergrössert, erklärt Kia. Diese ist üblicherweise unterdimensioniert, da die leistungsstärkere E-Maschine antriebsbedingt an der Hinterachse sitzt – beim Bremsen wäre aber genau das Gegenteil ideal. Verstärktes regeneratives Bremsen hat nicht nur den Vorteil, dass die Reichweite maximiert, sondern auch der Bremsverschleiss minimiert wird – Kosten und Feinstaubemissionen werden reduziert.
Alles inklusive
Als entscheidendes Bauteil für leistungsstarke E-Autos sieht David Labrosse die Inverter, die den Gleichstrom der Batterie in Drehstrom für die Elektromotoren umwandeln. Wer mehr Leistung wolle, müsse in Zukunft vor allem dieses Bauteil der Leistungselektronik beherrschen. Zulieferer Infineon hat diese für den EV6 GT denn auch entscheidend verbessert. Wie üblich bei der E-GMP-Plattform von Kia und Hyundai verfügt der EV6 GT über eine 800-Volt-Architektur. Diese ist bisher im Volumensegment noch wenig verbreitet, in der Oberklasse steht die Konkurrenz aber in den Startlöchern. Mercedes wird sie mit dem MB.EA-Baukasten einführen, bei Porsche wird der E-Macan das erste SUV mit 800 Volt sein, bei Audi der Q6 E-Tron (s. Seite 8). Diese Architektur hat unter anderem den Vorteil der hohen Ladeleistung, im EV6 sind es bis zu 220 kW. Diese wird tatsächlich erreicht, wenn der Ladestopp eingeplant wird. So ist die Batterie in 18 Minuten wieder auf 80 Prozent. Kia verbesserte die Routenführung des Navigationssystems, sodass – endlich – eine automatische Planung von Ladestopps erfolgt, wenn die verbleibende Batterieladung nicht bis zum Ziel reicht. Allerdings tut sich die Planung noch immer etwas schwer und peilt die Ladestationen teilweise mit grossen Umwegen an.
Die neongrünen Details ziehen sich in den Innenraum weiter, wo sie an den Ziernähten wieder auftauchen. Die Schalensitze aus Leder und Wildleder bieten angemessenen Seitenhalt, allerdings halten sich die Einstellmöglichkeiten in Grenzen. Auf der Rückbank ist der Platz ausreichend auch für Erwachsene, die Sitzposition allerdings wegen der Batterie im Unterboden nicht ideal. Die Sitzfläche liegt im Vergleich zum Innenboden zu niedrig, die Beine sind dadurch stark angewinkelt. Die Vordersitze sind ausschliesslich manuell verstellbar, eine Option für elektrisch verstellbare Sitze gibt es nicht. Das kann man durchaus kritisieren bei einem Auto, das mindestens 81 900 Franken kostet. Allerdings hält sich Kia mit den Optionen für den EV6 GT zurück. Der Aufpreiskatalog lautet folgendermassen: Metalliclackierung für 830 Franken, Mattlackierung für 1950 Franken, Glasschiebedach für 1500 Franken. Alles andere ist im Basispreis enthalten – oder eben nicht erhältlich.
Testergebnis
Gesamtnote 77.5/100
Antrieb
Der Kia EV6 überzeugt bereits in der Basisversion mit guten Fahrleistungen und Schnellladen. Als GT mit 585 PS sprintet das Elektro-SUV in 3.5 Sekunden auf Tempo 100 und wird dank spezieller Fahrmodi zur Heckschleuder.
Fahrwerk
Die straffe Abstimmung sorgt für ein sportliches, aber alltagstaugliches Fahrgefühl. Schade ist, dass kein adaptives Fahrwerk erhältlich ist, das die Spreizung zwischen Komfort und Sportlichkeit erhöhen würde.
Innenraum
Der Materialmix ist stimmig und das Platzangebot grosszügig. Dass das Navi inzwischen auch Ladestopps selbständig einplanen kann, ist ein grosses Plus, das per Update nachgereicht wurde.
Sicherheit
Die Palette an Sicherheitssystemen ist, wie üblich bei Kia, umfangreich. Die Bremsen sind bei der GT-Variante grösser dimensioniert, der EV6 GT kann mit bis zu 320 kW Bremsleistung aber auch regenerativ verzögern.
Budget
81 900 Franken kostet der Kia EV6 GT, die Aufpreisliste ist kurz. Elektrische Sitzverstellung gibt es aber nicht, dafür sieben Jahre Garantie.
Fazit
Der EV6 ist bereits über ein Jahr auf dem Markt, jetzt reicht Kia den GT nach. Dieser soll den Stinger GT als Spitzenmodell ablösen – mit 585 PS funktioniert das ganz gut. Das Elektro-SUV überzeugt auch mit hoher Ladegeschwindigkeit, guter Reichweite und grosszügigem Platzangebot.
Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.
Hallo, der KIA EV6 als echtes GT Modell verfügt über adaptive Dämpfer – im Gegensatz zu den anderen Ausstattungslinien. Da KIA eigene System nennt sich Electronic Control Suspension, ECS.
Genau damit ist die oben gewünschte Spreizung (Komfort bis Sport) möglich. Siehe auch Handbuch Kapitel 6-38 oder Preisliste GT:
Radaufhängung vorn MacPherson-Federbeine mit aufgelöstem unteren Querlenker;
Federbein (adaptives Fahrwerk, ECS)
Radaufhängung hinten Mehrlenkerhinterachse, Stoßdämpfer hinten (adaptives Fahrwerk, ECS)