Fesselspiele und harte Schläge auf den Allerwertesten – so erwartet man das von einem kompromisslosen Fahrzeug, das sich als Rennwagen mit Strassenzulassung präsentiert. Die Alpine A110 R will kein profaner Sportwagen sein.
Sogar die Jungs der Formel-1-Abteilung sollen Hand angelegt haben, um aus der A110 S eine A110 R zu machen. Denn nichts weniger als einen Rennwagen gab die Alpine-Führungsriege als Ziel aus. Im Fadenkreuz der Franzosen steht die A-Konkurrenz: der Porsche 718 Cayman aus Allemagne und der Lotus Emira aus Angleterre.
So durften die Motorsport-Ingenieure bei der R das machen, was ihnen bei der Modellschwester S (AR15/2023) noch verwehrt geblieben war. Verzichtbares wie Heckscheibe, Innenspiegel oder Parksensoren raus, dafür Zeitenhatz-Tools wie einstellbares Fahrwerk, Semislicks und Sechspunktgurte rein ins Fahrzeug. Abgespeckt wurde mittels weitreichender Karbonisierung. Macht in Summe 34 Kilogramm weniger auf der Waage im Vergleich zur zivileren Modellschwester.
Optimierung im Windkanal
Die wahre Kunst steckt, wie immer, im Detail. Feinschliff vom Feinsten: Für die Leistungssteigerung in den Bereichen Kühlung und Anpressdruck wurden sämtliche Komponenten im Windkanal optimiert. Das reicht vom zusätzlichen Frontspoiler über die Fronthaube mit Kühlungsaussparungen, seitlich filigranem Flügelwerk, luftverwirbelungsarmen Felgen, neuer Motorabdeckung bis hin zum wuchtigen Diffusor und einem hängend angebrachten Spoiler am Heck. Alles strömungsoptimiert überarbeitet, alles aus feinster Kohlefaser, die pure Aerotik. Oh, là, là.
Um die Gewichtsersparnis im Innenraum fortzuführen, wurden einschalige Kohlefasersitze eingebaut. Das gesamte Interieur wird von Karbonapplikationen und Mikrofaserbezügen von Armaturenbrett bis Lenkrad dominiert, was sehr viel zur Rennwagenatmosphäre beiträgt. Im Gegensatz dazu stehen das etwas zu klein geratene Infotainmentsystem und dessen billig anmutende Bedienung über genau jenem Knubbel, den Pöstler von ihrem Renault-Master-Transporter kennen. Mon dieu.
Nervtötende Fesselspiele
Unter der Mittelkonsole verbirgt sich eine Sonderplakette mit fortlaufender Fahrzeugnummerierung, auf ihr der Startknopf. Kurz drücken, und hinter den Ohren faucht ein leistungsunveränderter Vierzylinder! Allez, ma bleue, auf die Strasse mit dir.
Aber halt! Vorher heisst es, sich noch anzuschnallen. Aber wie ging das nochmals? Kurzum, die Fesselspiele mit den sportlichen Sechspunktgurten sind im Alltag unpraktisch bis nervtötend. Ein Parkticket ziehen zu wollen, kann schon mal einen klaustrophobischen Anfall auslösen, daher sind die Gurte abseits der Rennstrecke wohl nur was für echte Racingfans. Korrekt angepasst, verschweisst der Sitz den Piloten dafür fest mit dem Fahrzeug.
Beim Thema Sicherheit sind die Assistenzsysteme rasch aufgezählt. Ein nicht adaptiver Tempomat und ein Limiter, das ist alles, mehr gibt es nicht. Faszinierender ist da schon das, was die Bremsanlage hergibt. Die Verzögerungswerte machen Eindruck. Die Räder stehen aus einer Geschwindigkeit von 100 km/h bereits nach 33.4 Metern still. Das Auto macht also schon Pause, während der Pilot wahrscheinlich noch um Atem ringt. Die andere Seite der Medaille: Ein gewisses Fading nach mehreren harten Bremsungen lässt sich nicht leugnen, das enttäuscht etwas.
Die Kunst der Querdynamik
Nahe an der Perfektion ist das Fahrwerk der Alpine A110 R. Es überträgt den Fahrbahnuntergrund zwar ungefiltert in den Innenraum, doch die Schalensitze bieten ein für einen Rennwagen unerwartetes Mass an Restkomfort. Wird es kurviger, kann die Alpine ihre Insassen allerdings gehörig durchschütteln. Ganz ihrer DNA entsprechend, pures Racing eben. Lenkung und Geradeauslauf verdienen die Höchstpunktzahl – ein positiver Kontrapunkt zur Modellschwester A110 S, die in dieser Disziplin im AR-Test nicht überzeugen konnte.
Des Fahrzeugs Kunst liegt in der Querdynamik. Jeder Lenkbewegung folgt eine direkte Übertragung auf die Fahrlinie, ohne dass das Fahrzeug auch nur im Ansatz nervös wird. Wahre Wunder bewirken die zusätzlichen Querstabilisatoren an der Vorderachse in Kombination mit den Cup-Reifen von Michelin. Diese saugen die R förmlich auf die Strasse und lassen kurze Bremsphasen Richtung Kurvenscheitel zu, ehe ansatzlos wieder herausbeschleunigt werden kann. Die R ist ein Skalpell für den Asphalt und schneidet mit solch chirurgischer Exaktheit wie kaum ein anderes Fahrzeug.
Fahrzeugbalance, Aerodynamik und Gripniveau sind auf maximale Fahrpräzision ausgelegt, statt spektakulär quer Gummi und Zeit liegen zu lassen. Die Alpine kann quer, wenn sie muss, bevorzugt aber die direkte Art.
Man sollte jedoch aufpassen, die R auf öffentlichem Grund zu sehr herauszufordern und zu geniessen. Denn das bedeutet geradezu zwangsläufig, sich weit oben im Katalog der Ordnungsbussen zu bewegen. Genuss ohne Reue geht andernorts besser. Grip und Querbeschleunigungsorgien der Alpine lassen sich im Rahmen eines Trackdays auf abgesperrter Rennstrecke wesentlich entspannter erfahren.
Drehfreudiger Turbo mit 300 PS
Der 1.8-Liter-Turbo zischt und knurrt vehement nach vorne. Jeder Gasbefehl wird direkt übertragen, und wer noch mehr Selbstbestimmung sucht, dem seien die fest an der Lenksäule montierten Schaltwippen für das Durchzappen des Doppelkupplungsgetriebes empfohlen. 1.7 Sekunden nach dem Ortsschild sind wir auf 80 km/h. Die Hatz wird akustisch laut untermalt, innen wie aussen.
Der Mittelmotor dreht ab 2600 U/min willig hoch und verwöhnt seinen Auftraggeber mit direktem Ansprechverhalten, ausreichend Leistung und leider auch mit kuscheliger Abwärme. Die 300 PS kommen mit den 1200 Kilogramm Leergewicht inklusive Fahrer locker zurecht. Der Verbrauch ist prinzipiell mit 8.1 Litern auf 100 Kilometer moderat – allerdings kann er sich bei entsprechender Fahrweise und daraus resultierendem Fahrspass auch auch gehörig steigern. Santé.
Ein Kritikpunkt sei allerdings noch gestattet. Die Alpine A110 R gehört zur schnellen Gattung, kein Zweifel. Aber für das Konzept eines radikalen Rennwagens schlottern einem zu wenig die Knie, und man verspürt nicht dieses Kribbeln, diesen Respekt vor Fahrzeugen mit sehr niedrigem Leistungsgewicht. 50 bis 100 PS mehr – und die R wäre wohl unbesiegbar.
Exklusiver Preis
Zwar gibt Alpine steigende Verkaufszahlen an, eine A110 R wird man in freier Wildbahn dennoch eher sehr selten antreffen. Der exklusive Renner hat mit 116 000 Franken einen hohen Einstiegspreis. Und der lässt sich auch noch steigern: Wer es noch exklusiver mag, dem seien die Sondermodelle A110 R LeMans (100 Exemplare) oder A110 R Fernando Alonso (32 Exemplare, für seine 32 Rennsiege) empfohlen.
Die R wird potenzielle Käufer finden, denen die S zu glatt ist und die sich nur mit der besten Hardware zufriedengeben. Weiteres Kaufargument: Die Konzernmutter Renault setzt ab 2026 auf massive Elektrifizierung, und die ist (noch) alles andere als leichtfüssig.
Testergebnis
Gesamtnote 80.5/100
Antrieb
Ausreichend Leistung für sehr wenig Gewicht. Wäre aber auch kein Drama, wenn der kleine Sportwagen mehr hätte – von der Leistung.
Fahrwerk
Maximale Fahrpräzision und Kurventempi sind die Welt der Alpine A110 R. Für den Rennstreckeneinsatz in Zug- und Druckstufe einstellbar. Für den Alltag einfach zu hart.
Innenraum
Racingatmosphäre inklusive Telemetriesystem. Im Alltag fummelige Sicherheitsgurte, kleines Infotainment und vereinzelt schlechte Materialauswahl für die Bedienelemente.
Sicherheit
Kurze Bremswege und sportlich abgestimmtes ESP. Weitere Assistenzsysteme? Non merci.
Budget
Hoher Einstiegspreis für hohe Exklusivität. Karbon ist schön und teuer. Und in der hohen Anzahl ganz schön teuer.
Fazit
Auch wenn die S mit der R auf der Rennstrecke nicht ganz mithalten kann: Wer auf die weniger kompromisslose und extrovertierte Alternative A110 S setzt, kommt auch auf seine Kosten und spart dabei über 35 000 Franken. Die könnte man dann wiederum in Semislicks und in ein Fitnessabo investieren, um das Leistungsgewicht zu optimieren.
Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.