Die ersten Rekognoszierungen im April zeigten, dass die Region zwischen Siena und Florenz eigentlich vom lieben Gott nur geschaffen wurde, um mit einer spannenden Topografie und hervorragenden Strassen für beste Fahrerlebnisse zu sorgen. Kurvenreiche Wege führen aus den Tälern auf die sanften Hügel des Chianti, geschwungene, grosszügiger angelegte Landstrassen verbinden dazwischen die Ortschaften, die oben auf den Erhebungen angelegt und mit einer Weitsicht gesegnet sind, die einem oft den Atem verschlägt. Die Strassen sind nur das Netz, dessen Lücken mit dem gefüllt sind, was die Region berühmt und begehrt macht: Kultur und, natürlich, Wein und kulinarische Köstlichkeiten. Begehrt? Heute sind es die kleinen Weingüter mit ihren begrenzten Mengen an Spitzenweinen, die eine Reise in die Region so interessant machen. Früher war das Chianti durch die Fehde zwischen Siena und Florenz geprägt. Dieser stetige Wettbewerb nicht nur in der Kriegskunst, sondern auch in den bildenden Künsten oder in der Kochkunst prägt die Region bis heute. Die Innovationskraft ist spürbar, die touristische Erschliessung ist modern, naturnah, kommt ohne einschneidende Infrastrukturbauten aus und lässt die Region nicht im Massentourismus ertrinken. Italien in der Krise? Hier blüht das Land der Kultur und des Genusses, der Liebe und der offenen Herzen für die schönen Seiten des Lebens.
Cheforganisator Luca Prota mit dem Helferteam (l.). Andrea Trigili checkt einen Mietwagen (o. r.). Perfekt im Griff hat Ruedi Breuer seine selber restaurierte Göttin (u. r.).
Die gute Zeitreserve
Der erste Fixpunkt der Reise war der Freitagmorgen. Kurz nach neun Uhr sollten die beiden Mechaniker von Emil Frey Classics, Andrea Trigili und Guido Steigmeier, bei einer ersten Kontrolle mögliche Mängel an den Autos feststellen und dafür sorgen, dass alle Teilnehmer schadlos zu den ausgewählten Wein- und Kulturgütern gelangen konnten. Weil eine Reise stets ein Risiko darstellt, aber auch das Unvorhergesehene ein Grund ist, das Leben nicht nur in seinen eigenen Wänden zu verbringen, waren neben eigenen Autos der Angemeldeten auch verschiedene Mietwagen zu kontrollieren. Pech hatte AR-Inhaber Engelbert Spörri, der mit AR-Geschäftsführer Theo Uhlir unterwegs war. Sein Porsche schaffte es nur bis zum Autobahnanschluss der A1 bei Luterbach SO. Ein türkischer Lastwagen kniff den Zuffenhausener unsanft in den Hintern, sodass der Porsche mit kaltverformtem Blech zu Hause bleiben musste. Die Crew erreichte das Borgo Scopeto, unserer Homebase während der Ride & Wine Classics, am Donnerstagabend im Mercedes-Van.
Etwas früher war das Ehepaar Martinet aus Lausanne am Ziel. Doch zunächst erreichte uns der Anruf eines Einheimischen, Martinets Alpine A310 sei auf einem Kreisel in Siena abgestellt und die Feuerwehr vor Ort, doch der Lenker habe den Kabelbrand selber gelöscht. Wir schickten den Hotel-Shuttlebus los und waren froh, das Paar heil und – welch tolle Einstellung! – bei erstaunlich guter Laune begrüssen zu dürfen. Charles Martinet führte gleich zwei Feuerlöscher mit, einen davon griffbereit hinter dem Fahrersitz. So konnte er die Motorklappe des Heckmotorwagens öffnen und die hochschlagenden Flammen binnen Sekunden ersticken. Der Schaden liess leider eine Weiterfahrt undenkbar erscheinen, und auch der Plan, das Auto abzuschleppen und im Hotel zur Abholung aus der Schweiz bereitzustellen, scheiterte. Charles Martinet fertigte ein Pappnummernschild an, da er das Wechselschild mitnehmen wollte, während seine Alpine auf einem Parkplatz in Siena auf den Abschleppwagen wartete. Nicht lange zu warten hatten die Pechvögel auf einen Ersatzwagen, ein VW-Käfer-Cabriolet stand kurz nach dem Eintreffen des Ehepaars bereit. An Geschichten mangelte es also bereits am Vorabend kaum.
Spazierfahrten
Bei der Konzeption der Ride-&-Wine-Ausfahrten war klar, dass kürzere, entspannte Etappen zu den Weinkellern führen sollten. Der Begriff automobile Spazierfahrten war bewusst gewählt, Strecken von 40 bis 60 Kilometern versprachen dennoch herzhaftes Motoring. Die erste Ausfahrt startete am Freitag gegen Mittag, Wer selber navigieren wollte, konnte sich die Routen auf The Drivers App herunterladen, die Teilnehmer bevorzugten aber die Fahrt in der Kolonne vom Borgo Scopeto nach Castellina. Dort führte uns eine Ehrenrunde am schwarzen Hahn, dem Wahrzeichen der Region vorbei, bevor wir wieder ein kurzes Stück zurückfuhren, um in Fonterutoli einen Weinkeller der sehr besonderen Art zu besuchen.
Das Weingut der Familie Mazzei, die in Fonterutoli seit 1435 verbrieft ist, wurde so gestaltet, dass die geernteten Weintrauben respektive deren Saft möglichst ohne grossen mechanischen Aufwand von den Reben bis in die Flasche finden. Alles funktioniert hier per Schwerkraft, auch Pressen gibt es keine, die Trauben platzen beim Aufprall in den Gärfässern von selbst. Die Maische, Kerne und Traubenhüllen, schwemmt die aus dem Gärprozess resultierende Wärme nach oben, wo sie abgeschöpft werden kann. Im Keller eine Etage tiefer lagert der Chianti schliesslich in Eichenfässern. Hier ist ein ständiges Wasserplätschern zu hören. Die hintere Stirnwand des Raumes ist direkt an den Berg angelehnt, eine Quelle – der Ort heisst ja Fonterutoli – bringt die nötige Feuchtigkeit in den Keller. Nach der Weindegustation wartete im Restaurant der Familie Mazzei oben im Dorf ein üppiges Mittagsmahl. Die Fahrt zurück schafften alle Teilnehmer problemlos, als Schrittmacher betätigte sich zuvorderst zwar nur ein Fiat 500, doch die beherzte Fahrweise der Dame am Lenkrad sorgte für flottes Vorankommen.
Zu Besuch beim Erfinder des Chianti
Bettino Ricasoli (1809–1880) gilt als Begründer des Chianti. Das Oberhaupt der alten Familie mit Stammsitz auf dem Castello di Brolio in Gaiole war zweimal Ministerpräsident unter König Vittorio Emanuele II. im noch jungen Italien. Nebst Politik beschäftigte Ricasoli der Wein, der Chianti classico aus 80 Prozent Sangiovese-Trauben und maximal 20 Prozent Canaiolo und/oder Colorino gründet auf seiner Formel. Die Ricasoli gelten als älteste Familie der Welt, die sich kontinuierlich dem Weinbau verschrieb, erstmals erwähnt werden sie im Jahr 1141. Bei einer Tour durch das Chianti ist es deshalb ein Muss, Brolio einen Besuch abzustatten. Die Führung durch nur gerade drei Räume des über 140 Zimmer zählenden Castello schien auf den ersten Blick reichlich oberflächlich, der Besuch der Waffenkammer, des kleinen Museums mit dem Zimmer für den König – der hier nie übernachtete – und des grossen Festsaals brachte aber so viele Anekdoten und Hintergründe zu den ehemaligen und aktuellen Bewohnern von Brolio ans Tageslicht, dass noch mehr in der Fülle untergegangen wäre. Der Höhepunkt war die Aussicht in Richtung Siena vom Schlossbalkon. Brolio ist auch Ausgangspunkt der Eroica, eines Radrennens im alten Stil auf den traditionellen Strade bianche, den toskanischen Schotterstrassen. Die mittlerweile über 20 000 Teilnehmer zählende Traditions-veranstaltung wurde ins Leben gerufen, um die Schotterstrassen vor der Asphaltierung zu retten.
Liebe auf den ersten Blick
Wenn im Wein die Leidenschaft, mit der er gekeltert wurde, zu spüren ist, dann kann damit nichts falsch sein. Wenn der Winzer respektive der Besitzer mit keinem geringeren Anspruch antritt, als einen der besten Chiantiweine überhaupt zu produzieren, dann muss das Ergebnis restlos überzeugen. Etwas ausserhalb von Panzano in Chianti liegt das Weingut Gagliole von Thomas und Monika Bär. Die beiden lernten sich 1990 im Chianti kennen und begannen 1993, Wein anzubauen. 1994 konnten sie die ersten Flaschen ihren Freunden und Bekannten mitbringen. Heute produziert Gagliole rund 70 000 Flaschen im Jahr. Vom Castello di Brolio führt eine kurvenreiche Strecke hierher, wo Ride & Wine der Faszination der beiden Schweizer, die rund die Hälfte des Jahres in der Toskana verbringen, auf den Grund gehen wollte.
Erst 2019 komplett erneuert und an die Bedürfnisse eines mittelgrossen Betriebes angepasst, zeigt das topmoderne Weingut Gagliole, wie sich Schweizer Präzision und italienische Leidenschaft perfekt verbinden lassen. In Gesellschaft der Besitzer durfte unsere Reisegesellschaft die besten Tropfen des Hauses nicht nur probieren, sondern in Verbindung mit einem hervorragenden Essen gleich auch ausgiebig geniessen. Überhaupt gestaltete sich der Besuch von Gagliole als ein die Sinne fast im Überfluss stimulierender Schlüsselmoment. Nach der Anfahrt in zwei separaten Gruppen für Sportfahrer und Classic-Driver, dem grandiosen Essen und einer herrlichen Aussicht auf der Terasse vor den neuen Weinkellern gaben uns die Düfte aus der Gartenanlage rund um die Gebäude den Rest. Wenn die Nase die stärksten Erinnerungen festzuhalten vermag, dann trifft dies beim letzten besuchten Weingut der Ride & Wine Classics bestimmt zu.
Kultur bis zum Schluss
Bei angenehmen Temperaturen stand die letzte Fahrt zurück zum Borgo Scopeto auf dem Programm, bei der wegen einiger Regentropfen kurzzeitig die Verdecke der Cabriolets geschlossen werden mussten. Dank der gut bemessenen Zeitreserven lag es jedem Team frei, die Geschwindigkeit nach eigenem Gutdünken zu wählen. Nach dem etwas turbulenten Start am Donnerstag hatten alle Autos die Ausflüge bis am Samstagabend schadlos überstanden – nur das VW-Käfer-Cabriolet von Charles und Marie-Thérèse Martinet versuchte, seinen Piloten abzuwerfen. Plötzlich klappte der Sitz nach hinten, der versierte Fahrer konnte sich aber trotz veränderter Sicht nach vorne in der erzwungenen Kauerstellung schadlos halten. Die beiden Mechaniker von Emil Frey Classics schraubten den Sitz darauf korrekt fest.
Die Lesung von Philipp Gut aus seinem Buch über einen der Chefankläger der Nürnberger Prozesse und grossen Kämpfer für Gerechtigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, den erst in diesem Frühling im Alter von 103 Jahren verstorbenen Ben Ferencz, brachte einen ernsteren Moment in den Abschlussabend der Ride & Wine Classics. Über die Fülle an Speisen und Weinen zum grossen Abschlussabend wollen wir uns hier gar nicht weiter auslassen. In vielerlei Hinsicht hatten die beiden Tage in der Toskana Grossartiges zu bieten. Bei bester Laune liessen die Teilnehmer die Reise ausklingen, Unerschrockene zogen noch zum Mitternachtsschwimmen weiter. Der Sonntag galt der Heimreise, zurück ins Leben B sozusagen. Mit viel Dankbarkeit und Freude durfte das Team der AUTOMOBIL REVUE seine Gäste verabschieden.