Komfort mit Biss

Die achte Generation wechselt zum Mittelmotor. Mit dem C8 präsentiert sich die Chevrolet Corvette europäischer denn je. Mit unerwarteten Qualitäten und einem heissen Preis.

Eine kleine Palastrevolution: Wir sitzen in der Chevrolet Corvette der achten Generation, aber zum ersten Mal befindet sich der Motor nicht vor, sondern hinter uns. Diese Änderung der Antriebsphilosophie teilt die Fans des Sportwagens aus Bowling Green (USA) immer noch in zwei Gruppen. Auf der einen Seite in Puristen, die den Verlust einer Tradition beklagen – man stelle sich vor, Porsche hätte den Motor des Neun-Elfers vom Heck in die Mitte verpflanzt. Auf der anderen Seite in Sportenthusiasten, die sich mit Ferrari und McLaren auf Augenhöhe fühlen. Denn die Gesetze der Physik sind klar: Es gibt nichts Besseres als einen Motor in der Mitte des Fahrzeugs, Stichworte Gewichtsverteilung und neutrales Fahrverhalten. 

Der technische Umbruch zwang die Designer in die Knie. Eine lange Motorhaube ist nicht mehr nötig, stattdessen ist das Heck gestreckt und die Fahrgastzelle nach vorne verlagert. Dieser Cab-forward-Stil sei von den Jagdflugzeugen F-22 und F-35 inspiriert, sagt Chevrolet. Tatsächlich erinnert die gesamte Karosserie an einen Kampfflieger, selbst beim Cabrio. Es ist aggressiv, fast schon überzeichnet: ein 4.63 Meter langes, 1.93 Meter breites und 1.23 Meter hohes Fahrzeug. Die Corvette fällt auf, wo immer sie auftaucht. Ob sie gefällt, ist eine andere Frage.

Fahrerzentrierter Innenraum

Auch im Innenraum gibt es viele Überraschungen, angefangen beim Einstieg: Er ist sehr einfach, kein breiter Seitenschweller zwingt zu Verrenkungen, um in die Schalensitze zu gelangen. Chevrolet hat unter dem grossen Mitteltunnel eine grosse strukturelle Verstärkung versteckt, die wie ein Balkenrahmen wirkt. Dadurch werden die beiden Insassen deutlich voneinander getrennt. Alle Aufmerksamkeit gilt dem Fahrer. Das Cockpit umhüllt ihn geradezu, alle Elemente, einschliesslich des Infotainmentbildschirms, zeigen in seine Richtung. Diese eher egoistische Anordnung hindert den Co-­Piloten daran, den Fahrer zu unterstützen, indem er zum Beispiel eine Adresse ins Navigationssystem eingibt. Die vertikal angeordneten Knöpfe gehören ebenfalls zu den ergonomischen Ideen, bei denen sich der Blick auf der Suche nach dem richtigen Befehl verirrt. Andere Punkte wirken durchdachter, etwa die Handballenauflage vor dem Bildschirm des Infotainmentsystems. So wird die Navigation durch die Menüs entspannter.

Auch die Verarbeitungsqualität verdient ein Lob, durchgehend sind Mikrofaser­velours oder Leder im Einsatz: Atemberaubend, aber leider auch blendend, da sich die helle Verkleidung der Test-Corvette in der Windschutzscheibe spiegelte. Um den Blick auf das Armaturenbrett (12-­Zoll-­Bildschirm) freizugeben, haben sich die Ingenieure für ein rechteckiges Lenkrad entschieden. Der Blick nach hinten wird durch die grosszügigen Seitenspiegel und die Rückfahrkamera erleichtert, während der Spiegel in der Mitte den Blick auf die Heckflosse freigibt. Die Heckscheibe lässt sich herunterklappen, um den Sound des 482 PS starken V8, intern LT2 genannt, durchzulassen.

Aus einer anderen Zeit

Beim Druck auf den Startknopf erwacht derAchtzylinder mit einem kräftigen, metallischen Grollen und lässt die Herzen von Nostalgikern höher schlagen. Klang und Eigenschaften stammen aus einer anderen Epoche. Die Technik ist recht rustikal: zwei Ventile pro Zylinder, von einer zentralen Nockenwelle betätigt, plus viel Hubraum. In einer Zeit, in der der Antrieb eines Formel-1-Autos (1.6 l) kleiner ist als die Champagnerflasche bei der Podiumszeremonie, scheinen 6.2 Liter antiquiert.

Dennoch ist diese Art Anachronismus erfreulich, ebenso der Verzicht auf die Aufladung des Motors. Natürlich leidet die spezifische Leistung unter dem Verzicht auf Frischluftzufuhr und liegt bei nur 77.7 PS pro Liter. Im Vergleich zu den 187.5 PS/l des jüngsten McLaren 750S (4-l-Turbo, 750 PS) ist das nicht allzu viel. Der McLaren kostet aber auch das Dreifache einer Corvette, deren Einstiegspreis bei 108 400 Franken liegt. Das getestete Cabrio kostet ab 115 900 Franken.

Genug geredet, lassen wir die 482 Pferde arbeiten! Von der Explosivität eines Turboladers ist man weit entfernt, aber die Corvette C8 geht mit ihrem Ansprechverhalten und der unmittelbar einsetzenden Kraftentfaltung – untermalt mit einer grossen Portion Hardrocksound – unter die Haut. Das ist berauschend, aber man bleibt etwas hungrig. Das ist auf das für einen Saugmotor enttäuschende Drehverhalten zurückzuführen. Der Begrenzer setzt schon bei 7000 U/min sein Limit, was weit von den 9000 U/min entfernt ist, die der V8 des Ferrari 458 Italia erreicht. Hier setzt die Motorkonstruktion mit zentraler Nockenwelle und Ventilen, die durch Stangen und Kipphebel betätigt werden, ihre Limite. Zum Glück arbeitet das Achtgang-­Doppelkupplungsgetriebe blitzschnell, und schon spielt die Platte von vorne. Der Abstand zwischen dem dritten und vierten Gang ist etwas zu gross, aber der V8 kann diese Schwäche mit seinem maximalen Drehmoment von 613 Nm, das bei 4500 U/min zur Verfügung steht, gut kompensieren. Die Werte auf dem digitalen Tachometer schiessen in die Höhe, das Adrenalin steigt, und das Datenblatt beziffert diesen Temperamentsausbruch: Chevrolet verspricht eine Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in 3.5 Sekunden. Dieses Ziel erreichen wir nicht ganz, schneller als in vier Sekunden fiel die magische 100-km/h-Marke nicht.

Grossartig auch auf langer Strecke

Die hervorragende Leistung des Antriebsstrangs wird vom Fahrwerk unterstützt. Ohne den grossen Motor ganz vorne punktet die Vorderachse mit millimetergenauer Präzision und einem Biss, der in einer Corvette bisher unbekannt war. Das Lenkrad ist allerdings etwas zu leichtgängig.

Wählt man den Sport- oder Track-Modus, ist die Lenkung schwerfälliger, sogar ein wenig künstlich, aber deutlich besser für die Kurvenjagd geeignet. Gleichzeitig wird auch die Federung straffer, die Karosseriebewegungen werden neutralisiert. Die Corvette wird zu einem Präzisionsinstrument, das mit seiner Mischung aus Ausgewogenheit und bösem Buben verblüfft. Die Hinterachse rollt leicht oder entwickelt speziell auf nasser Fahrbahn durchaus ein Eigenleben, der rechte Fuss des Fahrers entscheidet. Die Bremsen verdienen das Prädikat spektakulär, sie vereinen Kraft, Pedalgefühl, Progressivität und Ausdauer.

Und wenn man mit dem Herumtollen aufhört, ist die Corvette fast wieder so komfortabel wie ein GT, mit dem man auch lange Ausflüge machen kann, nicht zuletzt wegen der grossen Kofferräume vorne und hinten. Diese Philosophie erinnert an den Maserati MC20. Der Italiener ist noch kommunikativer und natürlicher in seinen Reaktionen, kostet aber auch mehr als doppelt so viel wie die Corvette. In der Tat gibt es keinen anderen Sportwagen, der diese Leistung zu diesem Preis bietet. Man bedauert natürlich die traditionelle Preisinflation bei der Überquerung des Atlantiks, in den USA kostet der C8 Stingray nur 64 000 Dollar kostet. Doch die Corvette bleibt auch in Europa ein grossartiges Geschäft, wohl mehr denn je. 

Testergebnis

Gesamtnote 87/100

Antrieb

Der V8-Motor mit Trockensumpfschmierung berauscht mit seinen kräftigen metallischen Noten, der Schub vermittelt ein packendes Gefühl und ist gut beherrschbar. Bei Durchzug und Drehfreude erwartet man von ­einem Saugmotor mehr. Die Gänge schalten sehr schnell.

Fahrwerk

Die Corvette C8 kann abwechselnd ein komfortabler GT oder ein Kurvenjäger sein, der sowohl ausgewogen als auch verspielt ist. Eine reife Leistung, die für eine Premiere sprachlos macht.

Innenraum

Die Sitzposition ist sehr gut, die Materialien sind gut gewählt, die Ausstattung reichhaltig, die Verarbeitung ausgezeichnet. Die Kofferräume sind gross.

Sicherheit

Besonders hervorzuheben sind die ausgezeichneten Bremsen.

Budget

Auch wenn er die Hälfte seiner Zylinder abschalten kann, bleibt der V8 ein durstiger Typ. Der Einstiegspreis ist konkurrenzlos.

Fazit 

Volltreffer! Chevrolet hat mit seiner Corvette brillante Arbeit abgeliefert, denn das Niveau an Agilität, Ausgewogenheit, Biss, Effizienz und sogar Alltagstauglichkeit ist erstaunlich. Natürlich sind ein Ferrari oder ein McLaren noch schärfer, leistungsfähiger und fesselnder. Aber sie kosten dreimal so viel, sind aber nicht dreimal so gut, ganz sicher nicht. Die Corvette ist ein echtes Schnäppchen.

Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.