Ein Smartphone auf Rädern. Das ist einerseits der Spott, mit dem sich automobile Traditionalisten über von Bits und Bytes dominierte Autos – nicht nur elektrifizierte – mokieren. Andererseits stimmt es natürlich. Computer in Form von Steuergeräten haben längst in jeder Ecke eines modernen Autos die Herrschaft übernommen. Angefangen bei den Sicherheitssystemen wie ABS und ESC über immer zahlreichere, moderne Fahrerassistenzsysteme, ausgeklügelte Motorsteuerungen und Abgasreinigungen bis hin zu fast schon ausufernden Infotainment- und Komfortfeatures.
Mit dem Aufkommen vollelektrischer Autos hat sich die Bedeutung von Software und deren Entwicklung in den letzten Jahren rasant beschleunigt. Elektroautos sind sich technisch noch einmal ähnlicher, als es Verbrenner sind, die sich ja auch dank ihrer Herstellung auf grossen technischen Plattformen schon weite Teile der Hardware unter dem Blech teilen. «Subjektive Faktoren wie die erhöhte Sensibilität der Verbraucher und ihre Suche nach neuen Erfahrungen veranlassen die Automobilindustrie dazu, eine softwarebasierte Transformation und Entwicklung anzustreben, bei der der Wert der Software höher ist als der Wert der Hardwaretechnologie», bilanziert das Beratungsunternehmen Deloitte in seiner Studie «Software-designed vehicles: A forthcoming industrial evolution». Dieser Trend begann bereits vor einigen Jahren mit der Verbreitung von Konnektivitätsschnittstellen wie Android Auto und Apple Carplay.
Um die Software herum konzipiert
Diese Schnittstellen, die dazu dienen, sein Smartphone mit dem Auto zu verbinden und zumindest einen Teil der darauf installierten Apps auf dem Fahrzeugbildschirm zu nutzen, sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Die Entwicklung, die sich derzeit anbahnt, ist viel tiefgreifender: das um die Software herum konzipierte Fahrzeug. «Software-defined Vehicle wird eine unvermeidliche Transformation darstellen, die die Entwicklung der Automobilindustrie in den nächsten fünf bis zehn Jahren vorantreiben wird», schreibt Deloitte.
Die Hersteller machen sich an die Entwicklung – oder den Erwerb – eines Betriebssystems, eines Superhirns, das alle physischen Komponenten des Autos wie Motor, Batterie, Bremsen, Ladesystem und Infotainment steuern kann. Peter Murmann, Professor für strategisches Management an der Universität St. Gallen, erklärt: «Im Inneren eines Autos gibt es heute viele verschiedene Softwareprogramme. Jedes Bauteil hat seine eigene Software, die vom jeweiligen Lieferanten programmiert wurde. Die Autohersteller integrieren diese unterschiedliche Software einfach, so gut sie können.» Heutzutage gibt es bis zu 100 Steuergeräte in einem Auto, die alle ihre eigene Sprache sprechen. Jede Abteilung in der Fahrzeugentwicklung entwickelt ihre eigenen Steuergeräte und die dazugehörende Software für Antrieb, Fahrwerk, Infotainment, Komfort. Zusammengeführt wird diese Kakofonie mit aufwändig programmierten Schnittstellen.
Ziel ist es, aus diesem Nebeneinander eine zentrale Softwareentwicklung und ein Betriebssystem zu schaffen, das als Dirigent aller Fahrzeugfunktionen fungiert. Dieses Modell, das Tesla anwendet, weist viele Vorteile auf. Die Hersteller können die Softwareentwicklung von der Hardwareentwicklung abkoppeln und während des gesamten Fahrzeugzyklus immer wieder neue Funktionen anbieten. Tesla-Besitzer entdecken regelmässig neue Funktionen, wenn sie morgens in ihr Auto steigen, da es die Nacht genutzt hat, um sich over the air mit einem Softwareupdate auf den neusten Stand zu bringen.
Es ist klar, dass das softwarebasierte Fahrzeug die Augen der Hersteller zum Leuchten bringt, denn es verspricht kontinuierliche Einnahmen über den gesamten Lebenszyklus eines Fahrzeugs. Das Mantra «Digital first» wird auch den Entwicklungszyklus eines Autos verkürzen, Volkswagen schätzt, dass die Entwicklung eines Autos nur noch 40 Monate dauern wird, bisher wurden dafür 54 Monate veranschlagt. Allerdings erfordert dies auch ein Umdenken in der Entwicklung. Diese erfolgt nicht mehr von Modell zu Facelift zu neuem Modell, sondern in Software-Releases. Im besten Fall lässt sich ein Auto alle paar Wochen mit neuen oder zuverlässiger funktionierenden Features ausstatten.
Der Alleingang
Das Problem ist, dass die Entwicklung solcher Betriebssysteme sehr langwierig, unglaublich komplex und teuer ist, die Rede ist von zweistelligen Milliardenbeträgen. Vor allem aber hat kein Hersteller diese Art von Fähigkeiten im eigenen Haus. «Man muss eine gewisse Grösse haben, um die Ausgaben für die Entwicklung von Software im eigenen Haus rechtfertigen zu können», warnt Murmann. Dies ist bei Toyota, Volkswagen und Mercedes der Fall, die sich an die interne Entwicklung eines Betriebssystems gewagt haben. Die Schwaben haben weltweit 3000 Arbeitsplätze für die Programmierung von MB OS, so der Name ihres für 2025 erwarteten Betriebssystems, geschaffen. «MB OS wird intern entworfen und entwickelt, um die volle Kontrolle über die Kundenbeziehung zu behalten, die Vertraulichkeit der Daten zu gewährleisten und die Integration aller Funktionen des Fahrzeugs zu nutzen», erklärt Mercedes.
Ein Betriebssystem selbst zu entwickeln, hat den Vorteil, «dass man die Kontrolle über die Daten behält, über das Geschäftsmodell entscheiden kann, höhere Margen behält, nicht von einem Drittanbieter abhängig ist und über Updates entscheiden kann», argumentiert Alina Kaminke, Absolventin der Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen, die sich in ihrer Masterarbeit mit dem Thema befasst hat. Die Kehrseite der Medaille ist, dass das Unternehmen auf diese Weise die enormen Entwicklungskosten und Risiken allein trägt. Zwar sind die von den Herstellern investierten Beträge nicht bekannt. Aber Cariad, die Tochtergesellschaft von Volkswagen für die Entwicklung von VW OS, hat allein im vergangenen Jahr rund 2.1 Milliarden Euro Verlust eingefahren – eine Software gibt es aber immer noch nicht. Der Start von VW OS, ursprünglich für 2025 geplant, wurde vom neuen Volkswagen-Chef Oliver Blume um fünf Jahre verschoben.
Zusammenschluss mit den Besten
Andere Hersteller wie Renault haben beschlossen, sich mit den besten Akteuren der Branche zusammenzuschliessen, um ihr softwarebasiertes Fahrzeug zu entwickeln. Der französische Konzern kündigte im Herbst 2022 eine Partnerschaft mit Google/Android an. Der US-Software-Riese wird für die Renault-Gruppe ein Betriebssystem entwickeln, das alle Aspekte des Autos verwalten wird. Der Vorteil ist, dass Renault bereits Android Auto (Konnektivität mit dem Smartphone) und Android Automotive (Infotainmentsystem) nutzt. Die Integration mit dem grossen Gehirn, das noch kommen wird, wird dadurch einfacher.
Android wird dafür aber eine ganze Reihe wertvoller Daten erhalten, etwa über alle zurückgelegten Fahrten. «Es wird interessant sein zu sehen, wie die Automarken und die Technologieunternehmen den Kuchen unter sich aufteilen werden, damit alle davon leben können», sagt Murmann. Vielleicht werden die Technologieunternehmen versuchen, die gesamte Wertschöpfung aus den Daten für sich zu gewinnen und die Autohersteller zu Hardwareherstellern zu degradieren, die wenig Geld verdienen. Der Professor der Universität St. Gallen denkt dabei an den Fall von Apple und Foxconn. Der chinesische Hersteller verdiene nur wenig Geld mit der Produktion von iPhones, während das Unternehmen aus Cupertino sein ganzes Geld mit der Verwertung seiner Software mache.
Die Analogie zur Welt der Smartphones hört hier noch nicht auf. Tatsächlich wollen sich Mercedes und VW durch ihren Alleingang als Apple der Automobilwelt positionieren – und hoffen auf Kunden, weil ihre Software der der anderen Hersteller möglicherweise überlegen ist. Murmann: «Die Kundenerfahrung wird zentral werden, sie ist ein Differenzierungsfaktor für die Hersteller. Diese Erfahrung wird auch durch die Nutzung der Software vermittelt.» VW, Mercedes und Toyota wollen ihr Betriebssystem zu einem entscheidenden Kaufkriterium machen, so wie es in der Vergangenheit der Verbrennungsmotor war. Google wird seinerseits versuchen, die Zahl seiner Herstellerkunden zu erhöhen, wie es bei den Smartphones mit Android gelungen ist. Welches Modell wird sich durchsetzen? «Vielleicht wird sich ein Unternehmen in der Art von Apple auf dem Markt durchsetzen», schreibt Alina Kaminke in ihrer Masterarbeit. «Aber darauf zu setzen, ist auch ein grosses Risiko für die Hersteller. Niemand möchte das gleiche Schicksal erleiden wie die Mobilfunkunternehmen von einst, die riesige Summen investierten und scheiterten.» Tatsächlich dürften angesichts der digitalen Revolution die Gespenster von Nokia und Motorola in manchen Köpfen der Automobilindustrie herumspuken.