Es ist Montag, wir feiern Jubiläen: Heute mit dem Mercedes-Benz 180/190 (W 120/121), der vor 70 Jahren seine Weltpremiere erlebte.
- Gebaut von 1953 bis 1962
- Ab 1954 mit Diesel
- Klassensieger Mille Miglia
Die Zeichen standen auf Veränderung, damals vor 70 Jahren im deutschen Wirtschaftswunderland: In den Kinos verdrängte Hollywood die Heimatfilme, Rockabilly und Pettycoat erreichten die Tanzlokale, der Pkw-Bestand überstieg die Millionenmarke, und die neuen Mercedes-Modelle 180 (W 120) und 190 (W 121) adaptierten die amerikanische Ponton-Karosserie so erfolgreich, dass sie bald zum bedeutendsten Premium-Protagonisten dieses Designtrends avancierten. Nicht der preiswerte Strassenkreuzer Opel Kapitän, sondern die nur knapp 4,50 Meter messenden, aber fast ebenso kostspieligen Ponton-Mercedes 180/190 parkten als populärste Prestigesymbole vor den Villen von Ärzten, Rechtsanwälten oder kleinen Fabrikanten.
Sogar in Nordamerika sorgten diese ersten Stuttgarter Limousinen mit selbsttragender Karosserie für Furore: Im Land der Fullsize-V8 warb Mercedes für seine kompakten Vierzylinder mit einer 8200-Kilometer-Marathontour von Seattle nach Washington, D.C., und das mit Dieselmotoren, die Amerikaner sonst nur aus Trucks kannten. Gerade einmal 32 Dollar und 27 Cent kostete der Treibstoff für diese Kontinentalfahrt, eine Sensation. Auch in Europa waren die Diesel-Typen 180 D/190 D für Überraschungen gut, denn Mercedes machte die anfangs nur 29 kW/40 PS leistenden Selbstzünder gesellschaftsfähig. Vor allem das Taxigewerbe tankte fortan Diesel, zumal die Selbstzünder das Potential zum Kilometer-Millionär mitbrachten.
In einer Dekade, als Hersteller 75’000 oder 100’000 Kilometer ohne Austauschmotor noch mit vergoldeten Schlüsselanhängern oder Uhren belohnten, war das eine geradezu unglaubliche Laufleistung. Aber nicht nur am Taxistand waren die markant klingenden und unter Last manchmal russenden Mercedes mit Kennzeichen D bald allgegenwärtig: Auch Privatkäufer goutierten die Knauser-Motorisierung. Schliesslich hatte Mercedes den seit 1936 gebauten Dieselaggregaten die anfänglich ruppigen Nutzfahrzeugmanieren so weit abgewöhnt, dass nun nicht der Benziner, sondern der 180 D zum Bestseller der Baureihe avancierte.
Gut fürs Image waren dabei auch Motorsporterfolge. So dominierte Mercedes die Mille Miglia 1955 zwar mit dem legendären Sportwagen 300 SLR, aber ein 180 D holte sich einen Klassensieg und dies mit einem respektablen Durchschnitt von fast 95 km/h. Vier Jahre später triumphierte ein 190 D unter Grand-Prix-Pilot Karl Kling sogar bei der über 14’000 Kilometer langen Afrika-Rallye. Sportliche Lorbeeren, die vor allem von der Robustheit des Konzepts zeugten, denn auf den seit 1953 unlimitierten deutschen Strassen wurde der lediglich 112 km/h schnelle Mercedes 180 D von fast allen Mittelklasse-Rivalen überholt. Allein gegenüber dem allgegenwärtigen VW Käfer punktete er mit einem fürs Selbstbewusstsein der Stern-Kundschaft wichtigen Vmax-Vorteil von zwei km/h.
Andererseits waren zu hohe Geschwindigkeiten und riskante Überholmanöver, etwa durchs berüchtigte «Kolonnenspringen» auf Landstrassen, an der Tagesordnung auf dem noch schlecht ausgebauten deutschen Strassennetz. So verzeichneten die Unfallstatistiken trotz der noch geringen Verkehrsdichte immer neue Negativrekorde, die Zahl der Verkehrstoten war Mitte der 1950er fünf Mal so hoch wie heute. Deshalb sollten die neuen Volumenmodelle im Zeichen des Sterns auch durch Sicherheitsinnovationen reüssieren: Sogar eine Frühform der unter Sicherheitsforscher Béla Barényi 1952 patentierten Knautschzone bot der Ponton-Benz bereits, denn die Front- und Heckpartien der Karosserie waren weicher gestaltet. Unter dem eingängigen Slogan «Wenn Sie ganz sicher sein wollen…» verglich die Mercedes-Werbung ausserdem die «schutzbietende Rahmenbodenanlage» der Baureihe mit der massiven Tür eines Tresors.
Mit einer grossen Modellpflege im Jahr 1959 spendierte Mercedes den Ponton-Typen 180 und 190 einen breiteren Kühlergrill, mehr Leistung für die Benziner (50 kW/68 PS im 180 und 59 kW/80 PS im 190), vor allem aber zusätzliche gepolsterte Prallflächen an Lenkrad und Armaturentafel. Ein damals noch wenig verbreiteter wichtiger Schutz vor Verletzungen. Andererseits: Für serienmässige Dreipunkt-Sicherheitsgurte, wie sie Volvo etwa im Mittelklassemodell Amazon einführte, sahen die Schwaben vorläufig keine Notwendigkeit.
Stattdessen legte Mercedes einen ganzen Ponton-Modell-Baukasten auf, der sich Plattform und Rahmen teilte: Ob Mercedes 180 oder 190, sportlicher 190 SL oder die starken Sechszylinder 219 und 220, alle diese Typen galten in der Fachwelt als Massstab für stilvoll verpackte Sicherheitstechnik und mit ihren modernen geräumigen Three-Box-Karosserien mit quaderförmigem Motorraum, Passagierabteil und Gepäckabteil brachten sie den amerikanischen Traum vom Fahren auf deutsche Strassen. Während Bundeskanzler Konrad Adenauer seine Wiederwahl 1953 noch im betulichen Mercedes 300 feierte und auch die neuen BMW V8-Limousinen in barocke Vorkriegsformen gekleidet waren, trafen die Benz-Baureihen mit der nach dem Glied einer Schwimmbrücke benannten Pontonform den Nerv einer fortschrittshungrigen Zeit.
Neue Technik bedeutete damals Wohlstand und Sozialprestige: Deshalb investierten die Besserverdienenden in soundstarke Musiktruhen, die fast so viel wie ein VW Käfer kosteten, oder gar in eines der ersten TV-Geräte, das im Freundeskreis magnetische Anziehungskraft hatte, wenn die Krönung von Elizabeth II. oder ein Fussball-Länderspiel übertragen wurde. Die Menschen zeigten gerne, was sie sich leisten konnten, und das gelang mit einem hochpreisigen Mercedes 180 oder 190 besser als mit vergleichbar grossen Opel Rekord und sogar dem flotten Borgward Isabella.
Allein die Modelle mit Stern boten deshalb auch Oberklasse-Extras wie sie die Reichen und Schönen liebten. Darunter Standartenhalter, Schlummerrollen als Kopfstützen oder als Bett nutzbare Ruhesitze, ein sperriges Autotelefon und Sonderlackierungen. Goodies, die ebenso wie die Hupe mit Zusatzfanfare, vorzugsweise bei den agilen Benzinern zu finden waren. Speziell der 1956 eingeführte Mercedes 190 mit (leistungsreduziertem) 1,9-Liter-Triebwerk aus dem Roadster 190 SL mit kettengetriebener, oben liegender Nockenwelle zählte zu den dynamischsten Vierzylinder-Limousinen auf europäischen Autobahnen, der auch manch schnellen Borgward oder Porsche 356 von der Überholspur vertrieb. Dafür genügten dem Typ 190 anfangs 55 kW/75 PS.
Das werkseitige Karosserie-Portfolio beschränkte sich beim Ponton-Benz zwar auf Viertürer, aber Mercedes lieferte auch Fahrgestelle, auf die Firmen wie Binz oder Miesen Krankenwagen- und Bestattungsfahrzeug-Aufbauten setzten. Sogar Kombis und Pick-ups gab es, speziell für Südafrika und Südamerika. Bis Anfang der 1960er blieben die Mercedes-Baureihen (W 120/121) so begehrt, dass lange Lieferzeiten die Regel waren, aber dann ging die Mode plötzlich über die Ponton-Protagonisten hinweg: Mercedes präsentierte 1961 den opulent dimensionierten 190 (W 110) im frischen Trapezdesign – und einmal mehr mit schönen Grüssen aus Amerika, diesmal in Form dezenter Heckflossen. (SP-X/AR)
In der monatlich erscheinenden Klassik-Beilage der AUTOMOBIL REVUE finden Sie immer schöne Old- und Youngtimer. Abos gibt es: hier. Ansonsten entsteht hier eine Reihe mit den Jubiläen von 2023, da haben wir eine Liste mit diesen schönen Geburtstag-Stories erstellt: hier.