Die Feinde von gestern werden zu den Verbündeten von morgen. Evpass, das grösste Netzwerk von Ladestationen in der Schweiz, geht in die Hände des Ölgiganten Shell über. François Randin war bis 28. Februar Geschäftsführer von Evpass und enthüllt im Interview, warum er sich unter den Übernahmeangeboten, die auf seinem Tisch lagen, für das des anglo-niederländischen Riesen entschieden hat. Das ist auf den ersten Blick eine überraschende Wahl, denn der Waadtländer ging 2009 «auf einen Kreuzzug gegen die Ölkonzerne», als er Green Motion gründete. Das Unternehmen stellt Ladestationen her, und 2016 folgte Evpass, ein Netz öffentlicher Ladepunkte. Shell übernimmt damit ein Netzwerk mit rund 3000 öffentlichen Ladesäulen (von insgesamt 9152 in der Schweiz) und 50 000 Abonnenten.
AUTOMOBIL REVUE: Hatten Sie als Befürworter der Elektromobilität nicht das Gefühl, dass Sie Ihre Seele an den Teufel verkauften, als Sie Ihr Ladenetzwerk einem Ölkonzern überliessen?
François Randin: Ganz und gar nicht. In diesen Unternehmen findet ein Paradigmenwechsel statt, es engagiert sich immer mehr für erneuerbare Energien. Von den drei Angeboten, die mir für die Übernahme von Evpass vorlagen, hat die Professionalität von Shell bei ihrem Entwicklungsplan den Ausschlag gegeben. Shell demonstrierte mir, wie es Evpass zum grössten, effizientesten und besten Netzwerk für die Nutzer machen will. Es kennt den Endkunden besser und weiss, wie es ihn in den Mittelpunkt stellen kann.
Ist es nicht paradox, dass ein Ölkonzern ein Netz von Ladestationen anbietet?
Ja, das ist es heute noch, aber es wird es immer weniger sein. Alle grossen Ölkonzerne folgen demselben Trend und werden ebenso wie spezialisierte Unternehmen zu Akteuren im Elektrizitätssektor. Angesichts ihrer Mittel können sie massiv in erneuerbare Energien investieren. Auf diese Weise können sie nicht nur vom Öl auf Strom umsteigen, sondern auch die Welt der Tankstellen verlassen und Kunden in Geschäftsgebäuden und sogar zu Hause erreichen. Man muss auch sagen, dass diese Unternehmen beginnen, Marktanteile zu verlieren, es gibt Menschen, die seit Monaten oder sogar Jahren nicht mehr getankt haben. Auf den Kontinent hochgerechnet sind das enorme Verluste. Das ist auf jeden Fall kein Greenwashing, sie gehen in Riesenschritten auf die Elektrifizierung zu. Ich habe 2008 mit der Gründung von Green Motion einen Kreuzzug gegen die Ölkonzerne begonnen, jetzt sind sie zu Verbündeten geworden. Das ist etwas Grossartiges für mich, denn ich bin ein Verfechter der individuellen Mobilität, ich liebe Autos, und mein Ziel war es, sie sauberer zu machen. Ich will nicht, dass die Leute aufhören zu fahren, das würde in Fundamentalismus abgleiten.
Evpass ist bei den Schnellladestationen im Rückstand. Wie können Sie den aufholen?
Im Moment haben wir 310 Gleichstromsäulen bei insgesamt rund 3000 Ladesäulen. Eine Minderheit der Ladesäulen hat tatsächlich eine Leistung von über 100 Kilowatt. Dies war jedoch eine bewusste Strategie unsererseits. Zunächst legten wir den Schwerpunkt auf die Netzdichte, um überall dabei zu sein. Ausserdem mussten wir unser Business profitabel machen, indem wir das Netz richtig dimensionierten. Unsere Konkurrenten haben sicherlich nicht die gleichen finanziellen Ergebnisse wie wir, ich sehe oft, dass die 150-kW-Ladestationen wenig genutzt werden. Es stimmt, dass wir manchmal Standorte an bestimmte Konkurrenten verloren haben, die sich bei der Anzahl der Ladestationen und der Ladeleistung überboten haben. Wir haben darüber hinaus unsere Preise extrem vernünftig gehalten, wir hatten finanzielle Ergebnisse, die es uns ermöglicht haben, viel mehr Ladestationen zu installieren. Es hat ohnehin keinen Sinn, 500-kW-Ladesäulen aufzustellen, wenn kein Auto diese Leistung annehmen kann. Es gibt tatsächlich immer wieder die Forderung nach Schnellladestationen, aber die müssen an den richtigen Stellen stehen, zum Beispiel an Autobahnen.
Glauben Sie an eine Zukunft, in der man ein Elektroauto wie einen Verbrenner benutzt? Man tankt oder lädt in fünf Minuten und fährt weiter?
Nein, ich sehe, dass die Batterien durch ihre thermische Kapazität für hohe Belastungen begrenzt sind. Selbst wenn es Batterien gäbe, die 500 kW verkraften könnten, gäbe es ein Problem mit den Ladestationen. Wenn Sie zwei ultraschnelle Ladestationen nebeneinander haben, die zur gleichen Zeit genutzt werden, halbiert sich die Ladeleistung. Ich denke, dass die meisten Menschen beim Modell des langsamen Aufladens zu Hause oder am Arbeitsplatz bleiben werden. Hinzu kommt das Aufladen während des Einkaufs oder auf der Autobahn. Ich stelle jedoch fest, dass die Ladezeiten an Teslas Superchargern immer länger werden, da immer mehr Menschen sie gleichzeitig nutzen. Man darf nicht vergessen, dass es keine bessere Möglichkeit gibt, die Batterie zu schädigen als ständig schnell aufzuladen.
Werden Menschen, die auf das öffentliche Ladesäulennetz angewiesen sind, nicht zu Sklaven ihres Elektroautos?
Diese Nutzer haben einige zusätzliche Herausforderungen, das stimmt. Für die Fahrt in die Ferien habe ich früher fünf Stunden gebraucht, jetzt sind es sieben. Hinzu kommt, dass der Verbrauch im Winter wesentlich höher ist als im Sommer. Wenn die Netzdichte gut ist, ist es jedoch möglich, sein Elektroauto zu nutzen, auch wenn man auf das öffentliche Ladenetzwerk angewiesen ist. Beispielsweise wähle ich Skigebiete oft danach aus, ob es auf dem Parkplatz der Seilbahn Ladestationen gibt. Das erfordert etwas mehr Organisation, aber man gewöhnt sich daran, und es kostet weniger.
Glauben Sie, dass jeder Autofahrer oder jede Autofahrerin diese zusätzliche Denkarbeit durchmachen wird?
Das ist nicht ideal, ja. Ich wünsche mir, dass die Menschen zu Hause mit Lademöglichkeiten ausgestattet sind. Das Problem dabei sind eher ältere Gebäude, in denen keine Renovierung geplant ist. Für den Mieter ist es sehr schwierig, eine Ladestation installieren zu lassen. Für diese Personen gibt es das öffentliche Netz, das von Tag zu Tag ausgebaut wird. Einkaufszentren, Geschäfte, Kinos und Skigebiete sind zunehmend mit Ladestationen ausgestattet.
Die Ölmultis und das Geschäft mit dem Ladestrom
Der Autofahrer lädt zu Hause auf, die Tankstellen leeren sich. Diese Zukunftsvision trifft die Ölgiganten. Anstatt dieser Erosion zuzusehen, diversifizieren die Ölmultis das Businessmodell. BP zum Beispiel hat unter der Marke Aral Pulse in Deutschland schon 1000 Ladepunkte mit High-Power-Chargern (150–300 kW) aufgebaut und Shell ein Netzwerk von Ladestationen unter dem Namen Shell Recharge installiert. Über eine App bietet Shell Zugang zu 300 000 Ladepunkten in 33 Ländern. Dieses Netz soll bis 2025 auf 500 000 und bis 2030 auf 2.5 Millionen Lademöglichkeiten erweitert werden.
Die Übernahme des grössten Ladestationen-Netzwerks der Schweiz, Evpass, ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Shell erweitert damit sein Portfolio um mehr als 3000 Ladestationen, und noch in diesem Jahr sollen 400 weitere in der Schweiz folgen. Zum jetzigen Zeitpunkt will Shell keine weiteren Details über die Entwicklungspläne für Evpass bekannt geben. Es bleibt bei der Aussage, dass «einer der Gründe für den Verkauf von Evpass die Suche nach einem Partner für die Entwicklung des Netzwerks war», so Jane Nüssli, Sprecherin des Konzerns in der Schweiz. Mit einem Gewinn von 44 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 kann Shell, um es euphemistisch auszudrücken, optimistisch in die Zukunft blicken. Shell wird sein bestehendes Tankstellennetz nutzen, um das Netz an Elektroladesäulen zu erweitern. Zapfsäulen und Ladestationen werden zunehmend nebeneinander stehen, wie es bereits an der Raststätte Oftringen AG an der A1 der Fall ist. Ein Blick zum Konkurrenten BP/Aral in Deutschland zeigt, dass sich der Ausbau nicht auf die Tankstellen beschränken wird: Immer mehr Schnelllader entstehen im Umfeld von Restaurants oder Einkaufszentren.
Paradigmenwechsel beim Energieverkauf
Handelt es sich bei den Elektroplänen der Ölunternehmen um eine langsame Umstellung oder nur um Risikostreuung, indem sie die Eier in mehrere Körbe legen? «Es ist mehr als Diversifizierung. Es ist ein Paradigmenwechsel, man wechselt die Art der Energie, und man wechselt die Art des Vertriebs», sagt François Randin, der Evpass gerade an Shell verkauft hat. «Diese Netzwerke werden für diese Akteure einen immer grösseren Anteil am Energieabsatz ausmachen.» Dennoch relativiert man auf der Seite von Shell: «Die Zahlen zeigen, dass weiterhin viele konventionelle Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor unterwegs sind.» Tatsächlich machen vollelektrische Autos mit rund 110 000 Einheiten aktuell nur etwa 2.3 Prozent des Schweizer Fahrzeugbestands aus. Shell weist den Vorwurf zurück, Greenwashing aus Reputations- und Marketinggründen zu betreiben. «Die Welt braucht mehr Energie, aber weniger CO2. Shell arbeitet seit Jahren an alternativen Energielösungen in vielen Bereichen», sagt Jane Nüssli. «Wir müssen mit Kritik leben, die immer sehr schnell kommt, aber wir reagieren in der Schweiz darauf mit unseren Fortschritten im Bereich der Elektromobilität.»