Gross steht sie da, die Limousine für Direktoren und Manager. Oder ist sie das doch nicht? Die Vermutung, dass der S90 ein ausgesprochenes Liebhaberauto ist, zumindest in der Schweiz, liegt näher. Gemäss der Statistik von Auto-Schweiz fanden im vergangenen Jahr nur gerade 16 Exemplare des Volvo S90 hierzulande einen Käufer. Die Frage, ob innige Liebe schon im Vornherein eine Grundvoraussetzung ist, um sich für den Wagen begeistern zu können, oder aber ob es dem S90 gelingt, selbst skeptische Betrachter für sich zu gewinnen, sollte dieser Test klären.
Zunächst ist es eine sehr gelungene Form, mit der der grosse Volvo aufwartet. Sie verstehen ihr Handwerk in Schweden. Der Volvo S90 war im Jahre 2015 Gewinner des «Production Car Design of the Year Award». Moment, wann war das? 2015? Bei anderen Herstellern stünde bereits ein Nachfolgemodell bei uns im Test, aber dies ist ein Volvo. Tatsächlich gab es den Preis aus gutem Grund, der S90 wirkt definitiv nicht wie von gestern. Das gilt zudem nicht nur für die Form, sondern auch für die Technik.
Alte Bekannte
Schien uns Volvos Baukastenmotor früher eher ein rauer Geselle zu sein, so benimmt er sich mittlerweile in den meisten Lastzuständen ausgesprochen dezent – mit sehr gekonnt komponiertem Knurren, wenn er denn etwas stärker gefordert wird. Der registeraufgeladene Motor (Kompressor und Turbo) mit 228 kW (310 PS) dient dem S90 Recharge T8 als Antrieb an der Vorderachse. Er blieb technisch im Prinzip seit Modellstart unberührt. Die E-Maschine im Heck mit 107 kW (145 PS) steuert ihren Teil zur Systemleistung von 335 kW (455 PS) bei. Dies ist doch recht ordentlich, und entsprechend eindrucksvoll sind die vom Werk versprochenen 4.7 Sekunden für den Sprint bis 100 km/h.
Nur sind Beschleunigung und Ähnliches die falschen Begriffe, wenn es um den Fahreindruck des S90 geht. Unser mit der optionalen Luftfederung ausgerüstete Testwagen schafft zwar sehr beeindruckende Autobahnauffahrten, seine grosse Klasse aber pflegt der – sagen wir erst einmal Schwede zu ihm – beim Abrollkomfort. Hatten wir eben erst den Sino-Franzosen DS 9 im Test, der sich bei Preis und Ausmassen in derselben Kategorie bewegt wie der S90, so darf man von einer verkehrten Welt sprechen. Waren die Franzosen früher die Meister des Strassengleitens, die Schweden hingegen eher von handfester Natur, so stehen die Dinge heute etwas anders. Der Volvo ist ein Traum. Ohne als Schaukelbenne zu wirken, lässt er dem Fahrer über den aktuellen Strassenzustand wenig Informationen zukommen. Geräuschlos und nahezu erschütterungsfrei nimmt er Störungen im Strassenbelag entgegen und absorbiert sie. Mag oft auch die Sitzpolsterung ihren Teil zu solchen Eindrücken beitragen, so ist diese hier eher von straffer Natur und die Armauflage in der Tür geradezu hart. Die Art der Sitzauslegung folgt einer langen Volvo-Tradition. Tatsächlich verfliegt der erste Eindruck eines harten Gestühls aber sehr schnell. Vielfach verstellbar, mit Massagefunktion, Heizung, Lüftung oder verlängerbarer Schenkelauflage ausgerüstet, bieten die Sitze des S90 perfekten Komfort. An Platz herrscht ebenfalls kein Mangel, weder vorne noch hinten. Einzig für Grossgewachsene mag der hintere Freiraum über dem Scheitel vielleicht etwas knapp bemessen sein. Unser Testwagen, innen wie aussen in ausgesprochen zurückhaltenden Schwarz- und Grautönen gehalten, mochte die feine Qualität der Innenraumgestaltung leider nicht in vollem Mass zum Ausdruck bringen. Helle Polsterfarben stehen dem S90 besser. Doch an der Materialwahl und der Verarbeitung gibt es nichts auszusetzen. Am allgemeinen Qualitätseindruck könnte sich gar ein bekannter, deutscher Premiumhersteller mit sehr, sehr langer Tradition ein Vorbild nehmen. Doch bleiben wir beim Volvo und lassen wir nicht unerwähnt, dass sich auch bei der Limousine die Rückbank im Verhältnis 1:2 umklappen lässt, was ihr einen signifikanten Bonus in Sachen Innenraumvariabilität verleiht. Der Kofferraum ist ansonsten nicht riesig, aber mit 431 Litern Volumen akzeptabel.
Hallo Google
Bereits seit einem Weilchen vertraut Volvo wie seine Schwestermarke Polestar beim Infotainment auf die Mitwirkung von Google. Das funktioniert beispielsweise bei der Spracherkennung ziemlich gut. Ist allerdings das Radio etwa stummgeschaltet und fragt man danach, so will Google stattdessen einen Stream hereinholen, statt einfach die Stummschaltung aufzuheben. Aber vielleicht bedarf es hier der gegenseitigen Angewöhnung von Fahrer und Auto. Ebenso etwas Angewöhnung braucht die fehlerfreie Bedienung von Volvos bekanntem, hochformatigem Touchscreen. Nicht ganz zum Qualitätseindruck des Wagens passt beispielsweise das Fehlen zwar althergebrachter, aber weit effizienterer Drehregler für Heizung und Lüftung. Immerhin ist die Trefferquote mit dem Finger auf dem Bildschirm auch in Fahrt relativ hoch. Apropos Treffsicherheit: Wer sich Musik gönnt, aus welcher Quelle sie auch sein mag, ob Stream oder über den Äther, der wird von der Soundqualität der Anlage von Bowers & Wilkins erschlagen. Am besten natürlich mit Klassik.
Handfestes
Schweben, Musik, tolle Materialien und so fort – das Ganze liesse sich nur halb so entspannt geniessen, wenn der technische Hintergrund nicht mithalten könnte. Doch er kann. Das Fahrwerk ist nicht nur geschmeidig wie eine Katze, es kann auch krallen wie eine solche. Das Auto liegt satt und gut kontrollierbar auf der Strasse, die Lenkung spielt darin einen besonders erfreulichen Part. Sie ist präzise und kommunikationsfreudig wie lange keine mehr in einer von uns getesteten Limousine. Dazu kommt eine gut dosierbare Bremse. Wer mit dem Tempomaten unterwegs ist, kann diesen als bestens funktionierenden Stauassistenten einsetzen. Ein Piepser meldet sogar, wenn das vorausfahrende Auto sich wieder in Bewegung setzt, ein Tipp auf das Gaspedal bringt den Volvo ebenfalls wieder in Fahrt nach einem Stillstand in der Kolonne. Nur der Spurhalteassistent ist nach unserem Geschmack ein klein wenig zu nervös, die ständigen Lenkradbewegungen sind etwas zu deutlich spürbar. Daneben erfasst der Totwinkelwarner ein weites Feld, kein Grund für Kritik in diesen Punkten.
Die Herkunft
Am Ende bleiben nur noch wenige Fragen, die der Volvo S90 offen lässt. Er fährt sich gut dank seiner grosszügig dimensionierten Batterie, die sich sich auch während der Fahrt mittels Menüpunkt «Charge» laden lässt, verbraucht keine Unmengen an Benzin bei den gebotenen Fahrleistungen, er ist schön, gut gemacht und überhaupt. Die kläglichen 16 verkauften Exemplare des vergangenen Jahrs hat er nicht verdient. Oder schwingt da irgendetwas mit, das potenzielle Käufer stört? Gewiss, Limousinen sind prinzipiell out, ein Wunder, dass der S90 überhaupt noch angeboten wird, die Kombiversion V90 war mit 76 verkauften Exemplaren deutlich erfolgreicher. Ist es der Umstand, dass der S90 nur in China gebaut wird? Dann sprechen nur mögliche ideologischen Gründe gegen den S90, vielleicht auch preisliche.
Testergebnis
Gesamtnote 74.5/100
Antrieb
Kraftvoll und laufruhig – der registergeladene Zweiliter-Benziner und sein elektrischer Partner lassen selten den Wunsch nach mehr aufkommen.
Fahrwerk
Technisch fein gemacht mit Doppelquerlenkern vorne und einer Luftfederung rundum, besticht der S90 mit Präzision und Fahrkomfort in einem.
Innenraum
Echtes Volvo-Gefühl gibt es im Innenraum, da tönt nichts hohl, die Nähte stimmen, die Materialien auch, eine richtige Wohltat ohne Hartplastik.
Sicherheit
Ein Vollprogramm in Volvo-Manier, wozu auch das limitierte Höchsttempo von 180 km/h gehört. Auf deutscher Autobahn ist das bitter. Perfekt funktionierender Stauassistent und reaktionsstarker Bremsassistent.
Budget
Der Volvo bewegt sich im Konkurrenzumfeld. Im Vergleich zu den Leistungswerten erscheint der Preis angemessen. Die Aufpreisliste ist allerdings sehr deutsch – sprich sie ist sehr lang.
Fazit
Ein achtjähriges Auto, das zeigt, was eine gute Ausgangsbasis ausmacht. Der Volvo S90 ist sowohl im Auftreten, in seiner Technik als Plug-In-Hybrid mit rund 60 Kilometern Reichweite wie bei seiner Konnektivität auf dem Stand der Zeit. Dass er aus China stammt, der S90 wird im Werk Daqing gebaut, lässt sich verkraften. Auch bei der Verarbeitung lassen sich keine Unterschiede mehr feststellen. Nur sind Limousinen leider ganz fürchterlich aus der Mode geraten.
Die technischen Daten und unsere Messwerte zu diesem Modell finden Sie in der gedruckten Ausgabe und im E-Paper der AUTOMOBIL REVUE.