Das hier ist kein SUV

Ferraris Marketingabteilung besteht darauf, dass der Purosangue kein SUV sei. Sitzt man erst einmal hinter dem Lenkrad, muss man ihr ein wenig Recht geben.

Es hat schon etwas Schizophrenes. Da baut Ferrari das schnellste, stärkste und vielleicht sportlichste SUV der Welt und traut sich dann doch nicht, es auch so zu nennen. (Ja – wir wissen, dass es bei den Stromern noch stärkere gibt, aber den Vergleich zwischen Ferrari und Tesla ersparen wir uns aus hoffentlich offensichtlichen Gründen.) Es wäre auch das einzige SUV mit V12-Saugmotor und das erste SUV in der 75-jährigen Markengeschichte von Ferrari sowieso. Es gäbe also einiges, worauf man stolz sein könnte. Aber es ist auch nichts Neues, dass Ferrari seinen Stellenwert nicht aus solchen Konkurrenzvergleichen zieht, sondern sich diesen einfach selbst zuschreibt. Beispielsweise über den Preis, der für den Purosangue bei 409 000 Franken beginnt. Oder über die Exklusivität. Maximal 20 Prozent der Jahresproduktion der Marke sollen auf den Purosangue entfallen, die aktuelle Wartezeit betrage mindestens anderthalb Jahre, es gebe eine Warteliste für Kunden, und wer einen wolle, solle das am besten mit seinem lokalen Händler besprechen, heisst es aus Maranello. Will meinen: Auch für den Purosangue sucht sich Ferrari seine Kunden aus und nicht umgekehrt.

Dezent gedämpft

Einen guten Grund gibt es aber doch, um den Purosangue nicht banal als SUV zu bezeichnen. Anders als bei der direkten Konkurrenz hat er seine Gene nicht in einer Konzern-SUV-Plattform, der ein Markenanstrich verpasst wurde. Was am Ferrari Purosangue nicht neu entwickelt wurde, entstammt mehr oder weniger direkt aus den Sportwagen der Marke. Den 6.5-Liter-V12 mit einer Leistung von 533 kW (725 PS) hat man mit einigen Effizienzoptimierungen aus dem 812 Superfast übernommen. Auch die Architektur mit vorne liegendem Mittelmotor und Transaxle-Bauweise kennt man vom 812 und vom GTC4 Lusso. Das Doppelkupplungsgetriebe an der Hinterachse hat neu acht Gänge, die enger abgestuft sind als im Siebengang-Getriebe des GTC4 Lusso und den Übersetzungen von SF90 Stradale und 296 GTB entsprechen. Für den Allradantrieb gibt es an der Vorderachse die Power-Transfer-Unit, ein zusätzliches Dreigang-Doppelkupplungsgetriebe, das bei Geschwindigkeiten von bis zu 170 km/h das Zuschalten der Vorderachse ermöglicht. Das Chassis wurde komplett neu entwickelt, um den neuen Antrieb aufzunehmen, und ist leichter und steifer als das des GTC4 Lusso. Auch galt es den Zielkonflikt zu lösen, eine geräumige Kabine mit vier Türen und einen V12-Motor zwischen den Achsen unterzubringen und trotzdem den Radstand so kompakt wie möglich zu halten.

Nimmt man Platz im Purosangue, egal ob vorne oder auf den Einzelsitzen hinten, fühlt man sich trotz des ungewohnt angenehmen Einstiegs und Annehmlichkeiten wie Sitzlüftung und Massagefunktion sofort wie in jedem anderen Ferrari. Das Lenkrad ist wie gewohnt gewöhnungsbedürftig, da Ferrari aber wohl grösstenteils an treue Kunden verkaufen wird, sollte das kein Problem darstellen. Der Start-Engine-Knopf befindet sich unten mittig auf dem Lenkrad – nach einer leichten Berührung erwacht der V12 zum Leben. Ein kurzes Rasseln geht über in ein heisseres Grummeln. Die nötigen Partikelfilter im Abgasstrang dämpfen den Sound etwas, aber bei einem Einsatzbereich vornehmlich als Familien- und Reiseauto ist ein zurückhaltenderer Klang als in einem reinrassigen Sportwagen auch nicht fehl am Platz. Wer aus irgendwelchen Gründen den Drang verspüren sollte, den Motor zu übertönen, kann dies übrigens mit einem Audiosystem des deutschen Spezialisten Burmester tun. Bereits beim ersten herzhaften Gasgeben nach einer kurzen Warmlaufphase, die dem Beifahrer auf einem eigenen Display angezeigt wird, zeigt sich, dass Ferrari mit der Zurückhaltung äusserst zurückhaltend war.

Sportwagengleich

Das maximale Drehmoment von 716 Nm liegt bei 6250 U/min an, 650 Nm sind bereits ab 4300 U/min verfügbar und ziehen sich durch bis zur Leistungsspitze bei 7750 U/min. Der Sound wird bei höheren Drehzahlen immer beeindruckender, doch bleibt er auch unter Volllast irgendwie im Rahmen. 3.3 Sekunden vergehen von 0 bis 100 km/h, 10.6 Sekunden sind es bis Tempo 200. Aber Geradeausfahrt beherrschen auch andere SUV, ein Sportwagen zeichnet sich in den Kurven aus. Zu diesem Zweck hat der Purosangue ein komplett neues Fahrwerk mit aktiven Dämpfern. Über Elektromotoren am Federbein kann direkt Kraft auf die Kolbenstange ausgeübt und dadurch das Auto abgesenkt werden, was den Schwerpunkt um bis zu zehn Millimeter näher an den Asphalt bringt. Auch ersetzen die aktiven Dämpfer den Querstabilisator und sollen das Wanken der Karosserie in den Kurven um bis zu 50 Prozent verringern. Das System arbeitet genügend schnell, um die Dämpferhärte und die Karosseriehöhe während jeder Kurvendurchfahrt radindividuell zu verändern. ­Eine harte Vorderachse sorgt für ein präzises Einlenken am Kurveneingang, wo die Keramikbremse mit aller Härte zubeisst. Das Brake-by-Wire-­System spricht bereits auf kürzestem Pedalweg an, bleibt aber dennoch gut dosierbar. Beim Beschleunigen am Kurvenausgang wird die Hinterachse versteift, was ein sanftes Übersteuern provoziert.

Obendrauf gibt es noch die Allradlenkung, die das Fahrzeug noch agiler werden lässt. Wie viel die einzelnen Systeme zum Fahrgefühl beitragen, lässt sich schwer beurteilen, in der Summe fühlt es sich aber an, als hätten die SUV-typischen Probleme in den Bögen auf ein Minimum reduziert werden können. Nur wenige SUV mit einem Gewicht von fast 2.2 Tonnen und einer Länge von knapp fünf Metern fühlen sich derart sportwagengleich an wie das Vollblut.

Mit Ecken und Kanten

Bei allen – zweifellos gerechtfertigten – Lobreden auf den Purosangue wäre er kein echter Ferrari, hätte er nicht einige Problemzonen. So pendelt die Schaltlogik des Doppelkupplungsgetriebes irgendwo zwischen unverständlich und unfahrbar, wie sich auf unserer Teststrecke auf winterlichen Passstrassen gezeigt hat. Bei konstanter Fahrt ist das Auto verbrauchseffizient mit tiefen Drehzahlen in hohen Gängen unterwegs, soweit kein Problem. Allerdings lässt sich das Getriebe auch bei Kickdown und Vollgas des öfteren nicht zum Herunterschalten bewegen, was ein manuelles Eingreifen erforderlich oder Überholvorgänge zur langwierigen Zitterpartie macht, wenn der Gegenverkehr am Ende der Geraden auftaucht.

Und dann ist da noch die unsägliche Bedienung. Dass Ferrari darauf verzichtet, ein Navi einzubauen, und stattdessen den Fahrer zwingt, jedesmal sein Handy einzustöpseln, kann vielleicht bei einem Sportwagen gerechtfertigt werden, nicht aber bei einem «viertürigen Vierplätzer», von dem absehbar ist, dass er primär als Alltagsauto genutzt werden wird. Zumal sich die Bedienung ausschliesslich über die Touchknöpfe am Lenkrad auch alles andere als einfach gestaltet und der Beifahrer auf seinem eigenen Bildschirm zwar eine ganze Menge an Funktionen hat, ein Navi aber eben auch nicht. Aber eben, wer ein Auto ohne Ecken und Kanten und Macken will, der kauft sich auch keinen Ferrari. 

2 Kommentare

  1. Wenn man halt einen solchen Ferrari zu wenig kennt und im Gegensatz zu allen anderen Fahrzeugen perfekt gefahren optimal und maximal weit besser als alle anderen zu nutzen weiss, kritisiert man ohne all diese Fähigkeiten zu leben

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.